2. In seiner ersten wesentlichen
philosophischen Bedeutung wird der Begriff ‹N.› vor allem von theistischen und (erkenntnistheoretisch) realistischen Denkern auf die
idealistische Philosophie angewandt. Die Forschung hat diese Verwendung bis zu
J. H. Obereit[1] und
D. Jenisch[2] zurückverfolgt. Zum Ausgangspunkt einer breiteren Diskussion wird der Begriff ‹N.› durch
F. H. Jacobi. Dieser hat mit ihm I. Kants theoretische und praktische Philosophie
[3] sowie J. G. Fichtes Wissenschaftslehre
(welche er als konsequenten Kantianismus ansah) gekennzeichnet. Zum ersten Male verwendet er den Begriff in seinem ‹Sendschreiben an Fichte› (1799). Dieser erreiche sein Ziel einer Philosophie aus
einem Stück nur auf Kosten der reflektierenden Auflösung aller «Sachen» in die Gedankenkonstruktionen eines absoluten Ich, das in Wahrheit nur Abstraktionsprodukt des empirischen Ich sei. Dem Menschen, der auf diese Weise sich selbst vergöttliche, löse sich alles «allmählig auf in sein eigenes Nichts». Allein der Glaube an einen lebendigen, für sich bestehenden Gott könne der aus solcher Philosophie resultierenden Verzweiflung widerstehen
[4]. Der Jacobi-Schüler
Fr. Koppen dehnte den N.-Vorwurf auf
F. W. J. Schelling aus
[5]. Nach
W. T. Krug muß der konsequente Idealist mit dem N. beginnen, daher gelange er nie zu einem «Etwas»
[6].
W. Hamilton führt aus, «if nothing but the phenomenal reality of the fact itself be allowed, the result is N.». Er unterscheidet zwischen dem spekulativen N. Fichtes, der freilich in dessen praktischer Philosophie überwunden werde, und dem skeptischen N. Humes
[7]. –
J. G. Fichte hatte in Briefen und Entwürfen den N.-Vorwurf Jacobis zwar zurückgewiesen und die diesen begründenden Mißverständnisse seiner Lehre aufgedeckt
[8]; die darin liegende Problematik hat ihn jedoch fortan immer wieder beschäftigt. Noch in der ‹Wissenschaftslehre› von 1812 fragt er nach dem wahren Mittel, dem «Sturze der Realität» durch den N. der Reflexion zu entgehen, und findet es im Zuende-Reflektieren: Das Wissen muß sich schließlich als fußend «auf reiner Realität» erkennen
[9]. Der Diskussion um den idealistischen N. hatte Fichte freilich schon mit der ‹Bestimmung des Menschen› (1800) neue Impulse verliehen; er hatte in dieser Schrift Jacobis Einwänden in einer Weise Rechnung getragen, daß
G. W. F. Hegel in ‹Glauben und Wissen› (1802) beide als Dualisten mit Kant zusammenstellen konnte. Nach Hegel besteht «die noch ungelöste Aufgabe des N.» darin, «das
absolute Nichts zu erkennen». Es stelle in Wahrheit die absolute Mitte Gottes dar, welchem kein bloßes Für-sich-Bestehen zukomme
[10]. Für den Spätidealismus ist Hegels System logischer Pantheismus und daher N. Nach
Chr. Weisse liegt Hegels Leugnung der außerweltlichen Personalität Gottes die Erhebung der logischen Idee zur Gottheit zugrunde, die in ihrer Entäußerung keine neue Inhaltsbestimmung erfährt. So bleibe die dialektische Begriffsbewegung Hegels, aus dem Nichts der Logik entfaltet, in Wahrheit beim Nichts; das
wirkliche Werden sei ihr verschlossen
[11].
I. H. Fichte stimmte zunächst Weisses akosmistischer Deutung Hegels zu, wandte sich jedoch später gegen die Behauptung, dessen Logik sei nihilistisch
[12]. – Daß Jacobi selber unvermerkt dem von ihm bekämpften Idealismus und N. verfallen sei, hat zuerst der Hegelianer
C. F. Göschel aufzuweisen gesucht
[13].
|
H. Timm: Die Bedeutung der Spinozabr. Jacobis für die Entwickl. der idealist. Relig.philos., in: F. H. Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit, hg. K. Hammacher (1971) 79ff. |
|
O. Pöggeler: Hegel und die Anfänge der N.-Diskussion. Man and World 3 (1970) 180. 186–189. |
|
F. H. Jacobi: Über das Unternehmen des Kriticismus die Vernunft zu Verstände zu bringen und der Philos. überhaupt eine neue Absicht zu geben (1801). Werke, hg. Fr. Roth/Fr. Koppen 3 (1816) 175. 184; David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Vorrede zugleich Einl. in des Verfassers sämtl. philos. Schr. (1815). Werke 2, 19. |
| |
|
Fr. Köppen: Schellings Lehre oder das Ganze der Philos. des absoluten Nichts (1803); vgl. K. Weiller: Der Geist der allerneuesten Philos. der HH. Schelling, Hegel und Kompagnie 1 (1804); Fr. Berg: Sextus oder über die absolute Erkenntnis von Schelling (1804). |
|
W. T. Krug: Allg. Handwb. philos. Wiss.en ... (1828) 3, 63; vgl. 5/2 ( 21832) 83. |
|
Th. Reid: Philos. works, with notes and suppl. dissertations by Sir W. Hamilton (Edinburgh 1846) 129. 748; W. Hamilton: Lectures on met. and logic 1 (Edinburgh 1858, 51870) 294. |
|
Zu «Jacobi an Fichte» (1799). J. G. Fichtes nachgel. Werke, hg. I. H. Fichte 3 (1835) 390–394; Briefwechsel, hg. H. Schulz ( 21930) II, 92; Gesamt-A., hg. R. Lauth u.a. (1964ff.) III/3, 325–328. 330–333; III/4, 179–183. |
|
Nachgel. Werke 2 (1834) 325f. |
|
G. W. F. Hegel, Sämtl. Werke, hg. H. Glockner 1 ( 31958) 409. |
|
Chr. H. Weisse: Die Idee der Gottheit (1833) 225. 232f.; Grundzüge der Met. (1835) 463; Philos. Dogmatik 1 (1855) 274. |
|
I. H. Fichte: Die Idee der Persönlichkeit und der individuellen Freiheit (1834) 92; Neue Systeme und alte Schule. Z. Philos. spekulat. Theol. 2 (1838) 264; vgl. A. Hartmann: Der Spätidealismus und die Hegelsche Dialektik (1937) 88. |
|
Vgl. C. F. G(öschel): Aphorismen über Nichtwissen und absolutes Wissen im Verhältnisse zur christl. Glaubenserkenntniß (1829); vgl. G. W. F. Hegel: Über «Aphorismen über Nichtwissen und absolutes Wissen ...», in: Jb. wissenschaftl. Kritik (1829). Sämtl. Werke 20, 276–313. |
V. Hugo: Les misérables (1862) II. VI. VII. Oeuvres compl. 26 (1890) 401–403. – Th. Süss: Der N. bei F. H. Jacobi. Theol. Lit.ztg. 76 (1951) 194–200. – G. Baum: Vernunft und Erkenntnis. Die Philos. F. H. Jacobis (1969) 32–47. – W. Janke: Das empirische Bild des Ich – zu Fichtes Bestimmung des Menschen. Philos. Perspektiven 1 (1969) 229–246. – O. Pöggeler s. Anm. [2]. – D. Arendt: N. Die Anfänge von Jacobi bis Nietzsche. Eingel. u. hg. D. Arendt (1970). – H. Timm: Gott und die Freiheit. Stud. zur Relig.philos. der Goethezeit 1: Die Spinozarenaissance (1974). – W. Müller-Lauter: N. als Konsequenz des Idealismus. F. H. Jacobis Kritik an der Transzendentalphilos. und ihre philos.gesch. Folgen, in: Denken im Schatten des N., Festschr. W. Weischedel, hg. A. Schwan (1975) 113–163. – O. Pöggeler: «Nihilist» und «N.». Arch. Begriffsgesch. 19 (1975) 197–210.