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Nihilismus

Nihilismus Schulen, Strömungen und Positionen 5304 10.24894/HWPh.5304Wolfgang Müller-LauterWilhelm Goerdt
(engl. nihilism, frz. nihilisme, ital nichilismo, russ. nigilizm)
I.Der N. – Begriff in West- und Mitteleuropa. – 1. Der Begriff ‹N.› wurde im Laufe seiner Geschichte zur Kennzeichnung für zum Teil sehr verschiedenartige philosophische Standpunkte und Richtungen verwendet, so für den philosophischen Egoismus bzw. Solipsismus, für Idealismus, Atheismus, Pantheismus, Skeptizismus, Materialismus und Pessimismus, darüber hinaus vor allem zur Kennzeichnung religiöser, politischer und literarischer Strömungen. Trotz der Verschiedenartigkeit der Verwendung des Begriffs lassen sich in seiner Überlieferung weitgehend Zusammenhänge feststellen. In einigen Fällen kann allerdings eine Neubildung des Wortes ‹N.› nicht ausgeschlossen werden, bei der keine Kenntnis des früheren Gebrauchs vorlag [1] oder die Erinnerung an ihn verlorengegangen war. So hat I. Turgenev geglaubt, er habe das Wort 1861 geprägt (s.u. II), und nicht wenige Autoren haben diese Überzeugung seither geteilt [2]. Als ‹terminus novus› wird es schon 1733 von F. L. Goetzius verwendet, und zwar sowohl im Hinblick auf theologische und philosophische Fragestellungen wie auch auf solche verschiedener Wissenschaften bis hin zu Jurisprudenz und Medizin [3]. – Die zur Charakterisierung bestimmter sozialer und politischer Einstellungen benutzte Bezeichnung ‹nihiliste›, die sich nach 1793 in der französischen Literatur findet, ist ohne Bedeutung für die fast gleichzeitige philosophische Verwendung des N.-Begriffes in Deutschland (s.u. 2) gewesen. Ob diese durch frühere Wortbildungen aus ‹nihil› beeinflußt worden ist, bleibt umstritten. Neben ‹Annihilation› (s.d.) ist deren wichtigste die Bezeichnung ‹Nihilianismus› für eine häretische Richtung der Christologie in der zweiten Hälfte des 12. Jh., die auf Gauthier von St. Victors Rede von den «nichilianist(a)e» [4] zurückgeführt wird. Ihr zufolge kann der ewige Logos nicht etwas geworden sein, weshalb das Menschsein Christus nur akzidentell zukomme. Dieser sei als Mensch «non aliquid», d.h. kein Individuum [5].
[1]
Vgl. W. Wundt: Völkerpsychol. 2: Die Sprache 2 (31912) 592f.
[2]
Vgl. z.B. K. Oldenburg: Der russ. N. (1888) 189; G. Benn: Nach dem N. (1932). Ges. Werke 1 (1959) 156f; A. Stender-Petersen: Gesch. der russ. Lit. 2 (1957) 251.
[3]
F. L. Goetzius: De nonismo et nihilismo in theologia (1733).
[4]
P. Glorieux: Le Contra quatuor labyrinthos Franciae de Gauthier de Saint-Victor. Arch. Hist. doctrinale et litt. du MA 27 (Paris 1952) 200.
[5]
Vgl. J. B. Bossuet: Einl. in die Gesch. der Welt und Relig., fortgesetzt J. A. Cramer (1786); M. Grabmann: Gesch. der scholast. Methode (1911) 2, 124ff.; A. M. Landgraf: Dogmengesch. der Frühscholastik II/1 (1952).
2. In seiner ersten wesentlichen philosophischen Bedeutung wird der Begriff ‹N.› vor allem von theistischen und (erkenntnistheoretisch) realistischen Denkern auf die idealistische Philosophie angewandt. Die Forschung hat diese Verwendung bis zu J. H. Obereit[1] und D. Jenisch[2] zurückverfolgt. Zum Ausgangspunkt einer breiteren Diskussion wird der Begriff ‹N.› durch F. H. Jacobi. Dieser hat mit ihm I. Kants theoretische und praktische Philosophie [3] sowie J. G. Fichtes Wissenschaftslehre (welche er als konsequenten Kantianismus ansah) gekennzeichnet. Zum ersten Male verwendet er den Begriff in seinem ‹Sendschreiben an Fichte› (1799). Dieser erreiche sein Ziel einer Philosophie aus einem Stück nur auf Kosten der reflektierenden Auflösung aller «Sachen» in die Gedankenkonstruktionen eines absoluten Ich, das in Wahrheit nur Abstraktionsprodukt des empirischen Ich sei. Dem Menschen, der auf diese Weise sich selbst vergöttliche, löse sich alles «allmählig auf in sein eigenes Nichts». Allein der Glaube an einen lebendigen, für sich bestehenden Gott könne der aus solcher Philosophie resultierenden Verzweiflung widerstehen [4]. Der Jacobi-Schüler Fr. Koppen dehnte den N.-Vorwurf auf F. W. J. Schelling aus [5]. Nach W. T. Krug muß der konsequente Idealist mit dem N. beginnen, daher gelange er nie zu einem «Etwas» [6]. W. Hamilton führt aus, «if nothing but the phenomenal reality of the fact itself be allowed, the result is N.». Er unterscheidet zwischen dem spekulativen N. Fichtes, der freilich in dessen praktischer Philosophie überwunden werde, und dem skeptischen N. Humes [7]. – J. G. Fichte hatte in Briefen und Entwürfen den N.-Vorwurf Jacobis zwar zurückgewiesen und die diesen begründenden Mißverständnisse seiner Lehre aufgedeckt [8]; die darin liegende Problematik hat ihn jedoch fortan immer wieder beschäftigt. Noch in der ‹Wissenschaftslehre› von 1812 fragt er nach dem wahren Mittel, dem «Sturze der Realität» durch den N. der Reflexion zu entgehen, und findet es im Zuende-Reflektieren: Das Wissen muß sich schließlich als fußend «auf reiner Realität» erkennen [9]. Der Diskussion um den idealistischen N. hatte Fichte freilich schon mit der ‹Bestimmung des Menschen› (1800) neue Impulse verliehen; er hatte in dieser Schrift Jacobis Einwänden in einer Weise Rechnung getragen, daß G. W. F. Hegel in ‹Glauben und Wissen› (1802) beide als Dualisten mit Kant zusammenstellen konnte. Nach Hegel besteht «die noch ungelöste Aufgabe des N.» darin, «das absolute Nichts zu erkennen». Es stelle in Wahrheit die absolute Mitte Gottes dar, welchem kein bloßes Für-sich-Bestehen zukomme [10]. Für den Spätidealismus ist Hegels System logischer Pantheismus und daher N. Nach Chr. Weisse liegt Hegels Leugnung der außerweltlichen Personalität Gottes die Erhebung der logischen Idee zur Gottheit zugrunde, die in ihrer Entäußerung keine neue Inhaltsbestimmung erfährt. So bleibe die dialektische Begriffsbewegung Hegels, aus dem Nichts der Logik entfaltet, in Wahrheit beim Nichts; das wirkliche Werden sei ihr verschlossen [11]. I. H. Fichte stimmte zunächst Weisses akosmistischer Deutung Hegels zu, wandte sich jedoch später gegen die Behauptung, dessen Logik sei nihilistisch [12]. – Daß Jacobi selber unvermerkt dem von ihm bekämpften Idealismus und N. verfallen sei, hat zuerst der Hegelianer C. F. Göschel aufzuweisen gesucht [13].
[1]
H. Timm: Die Bedeutung der Spinozabr. Jacobis für die Entwickl. der idealist. Relig.philos., in: F. H. Jacobi. Philosoph und Literat der Goethezeit, hg. K. Hammacher (1971) 79ff.
[2]
O. Pöggeler: Hegel und die Anfänge der N.-Diskussion. Man and World 3 (1970) 180. 186–189.
[3]
F. H. Jacobi: Über das Unternehmen des Kriticismus die Vernunft zu Verstände zu bringen und der Philos. überhaupt eine neue Absicht zu geben (1801). Werke, hg. Fr. Roth/Fr. Koppen 3 (1816) 175. 184; David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Vorrede zugleich Einl. in des Verfassers sämtl. philos. Schr. (1815). Werke 2, 19.
[4]
Werke 3, 9–57.
[5]
Fr. Köppen: Schellings Lehre oder das Ganze der Philos. des absoluten Nichts (1803); vgl. K. Weiller: Der Geist der allerneuesten Philos. der HH. Schelling, Hegel und Kompagnie 1 (1804); Fr. Berg: Sextus oder über die absolute Erkenntnis von Schelling (1804).
[6]
W. T. Krug: Allg. Handwb. philos. Wiss.en ... (1828) 3, 63; vgl. 5/2 (21832) 83.
[7]
Th. Reid: Philos. works, with notes and suppl. dissertations by Sir W. Hamilton (Edinburgh 1846) 129. 748; W. Hamilton: Lectures on met. and logic 1 (Edinburgh 1858, 51870) 294.
[8]
Zu «Jacobi an Fichte» (1799). J. G. Fichtes nachgel. Werke, hg. I. H. Fichte 3 (1835) 390–394; Briefwechsel, hg. H. Schulz (21930) II, 92; Gesamt-A., hg. R. Lauth u.a. (1964ff.) III/3, 325–328. 330–333; III/4, 179–183.
[9]
Nachgel. Werke 2 (1834) 325f.
[10]
G. W. F. Hegel, Sämtl. Werke, hg. H. Glockner 1 (31958) 409.
[11]
Chr. H. Weisse: Die Idee der Gottheit (1833) 225. 232f.; Grundzüge der Met. (1835) 463; Philos. Dogmatik 1 (1855) 274.
[12]
I. H. Fichte: Die Idee der Persönlichkeit und der individuellen Freiheit (1834) 92; Neue Systeme und alte Schule. Z. Philos. spekulat. Theol. 2 (1838) 264; vgl. A. Hartmann: Der Spätidealismus und die Hegelsche Dialektik (1937) 88.
[13]
Vgl. C. F. G(öschel): Aphorismen über Nichtwissen und absolutes Wissen im Verhältnisse zur christl. Glaubenserkenntniß (1829); vgl. G. W. F. Hegel: Über «Aphorismen über Nichtwissen und absolutes Wissen ...», in: Jb. wissenschaftl. Kritik (1829). Sämtl. Werke 20, 276–313.
V. Hugo: Les misérables (1862) II. VI. VII. Oeuvres compl. 26 (1890) 401–403. – Th. Süss: Der N. bei F. H. Jacobi. Theol. Lit.ztg. 76 (1951) 194–200. – G. Baum: Vernunft und Erkenntnis. Die Philos. F. H. Jacobis (1969) 32–47. – W. Janke: Das empirische Bild des Ich – zu Fichtes Bestimmung des Menschen. Philos. Perspektiven 1 (1969) 229–246. – O. Pöggeler s. Anm. [2]. – D. Arendt: N. Die Anfänge von Jacobi bis Nietzsche. Eingel. u. hg. D. Arendt (1970). – H. Timm: Gott und die Freiheit. Stud. zur Relig.philos. der Goethezeit 1: Die Spinozarenaissance (1974). – W. Müller-Lauter: N. als Konsequenz des Idealismus. F. H. Jacobis Kritik an der Transzendentalphilos. und ihre philos.gesch. Folgen, in: Denken im Schatten des N., Festschr. W. Weischedel, hg. A. Schwan (1975) 113–163. – O. Pöggeler: «Nihilist» und «N.». Arch. Begriffsgesch. 19 (1975) 197–210.
3. In der Frühromantik, insbesondere bei Novalis und Fr. Schlegel (der das Wort ‹N.› schon 1787 gebraucht), vollzieh sich eine «Poetisierung von Fichtes Prinzipien» [1]. Der Gedanke der unendlichen Tätigkeit des absolu ten Ich wird für ein sich ins Grenzenlose ausweitendes Schöpfertum des individuellen Ich in Anspruch genommen. Dies führt zur Übertragung des N.-Vorwurfes auf die Willkürlichkeit und Naturferne der frühromantischen Dichtung; der Begriff ‹N.› wird zur ästhetischen Kategorie. Jean Paul, in seiner Jacobi zugeeigneten ‹Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana› (1800) auch Kritiker des «Egoismus» J. G. Fichtes, wendet sich gegen die «poetischen Nihilisten», die «ichsüchtig» das All vernichten, sich «im freien Spielraum des Nichts» ausleeren und sich am Ende «ins kraft- und formlose Leere verlieren» [2]. – Neuerer Literaturwissenschaft gilt die anonym veröffentlichte Schrift ‹Die Nachtwachen des Bonaventura› (1804) als Höhepunkt des romantischen N. [3] oder sogar als dessen bewußtseinsmäßige Überwindung [4].
[1]
H. A. Korff: Geist der Goethezeit (71966) 3, 282.
[2]
Jean Paul: Vorschule der Aesth. (1804, 21813) I, § 2.
[3]
Vgl. Korff, a.O. 204–218; W. Kohlschmidt: Form und Innerlichkeit (1955) 172–176.
[4]
D. Arendt: Der ‘poetische N.ʼ in der Romantik (1972) 2, 533. 536.
W. Rehm: Roquairol. Eine Studie zur Gesch. des Bösen. Begegnungen und Probleme (1957); J. Paul – Dostojewski. Eine Studie zur dichterischen Gestaltung des Unglaubens (1962). – W. Harich: J. Pauls Kritik des philos. Egoismus (1968). – D. Arendt s. Anm. [4].
4. Im Frankreich des ausklingenden 18. Jh. wurde als «nihiliste» bezeichnet, «qui n'était ni pour ni contre» [1]. In seiner ‹Néologie ou Vocabulaire de mots nouveaux› (1801) charakterisierte L. S. Mercier den «Nihiliste ou Rienniste» als einen Menschen, «qui ne croit à rien, qui ne s'intéresse à rien» [2]. In ähnlichem Sinne gebrauchen im 19. Jh. J. Görres, J. M. v. Radowitz und G. Keller den Begriff ‹N.›. Sie kennzeichnen mit ihm die Lebenshaltung selbstsüchtiger Borniertheit, deren Vertreter vor jeder kräftigen Idee in die Gefahrlosigkeit der Indifferenz flüchten [3] oder sich entschlußlos dem Wechsel der herrschenden Meinungen fügen [4] oder geistlos auf dem Bestehenden beharren [5].
[1]
Vgl. F. Brunot: Hist. de la langue franç. des origines à 1900 IX/2 (Paris 1937) 834–836.
[2]
L. S. Mercier: Néologie ... (Paris 1801) 2, 143.
[3]
J. Görres: Die heilige Allianz und die Völker, auf dem Congresse von Verona (1822). Ges. Schr., hg. W. Schellberg u.a. 13 (1929) 437–439.
[4]
J. M. v. Radowitz: Gespräche aus der Gegenwart über Staat und Kirche (1845, 41851) 327f.; ähnl. auch K. Gutzkow: Die Ritter vom Geiste (1850) I/1, Kap. 7.
[5]
G. Keller: Der grüne Heinrich. Erste Fassung 4 (1855). Sämtl. Werke und ausgew. Briefe 1 (1956) 581f.
5. Häufiger werden gesellschaftskritische und revolutionäre Tendenzen, die im Antitheismus wurzeln, als nihilistisch gekennzeichnet. F. v. Baader findet im «(preußischen)» «scientifischen N.» den «für die Religion destructiven Mißbrauch der Intelligenz», aus dem nichts anderes folgen kann «als gründlicher Haß und Verachtung aller bestehenden (bürgerlich- und religiös-)socialen Institute» [1]. Nachdem die Evangelien «von der nihilistischen Kritik» nur noch als Mythos angesehen werden [2], versucht «ein moderner N.» vielfach, wie B. Auerbach ausführt, «die atheistische Verzweiflung im Volke auszubreiten», ohne sich um die daraus resultierende «Bodenlosigkeit aller Zukunft» zu kümmern [3]. J. D. Cortés bezichtigt den französischen Sozialismus (insbes. den P. J. Proudhons) des N. Die Negation der Sünde, die dieser vollziehe, führe zur Negation der göttlichen wie auch der menschlichen Regierung [4]. Daß der revolutionäre N. in den (unter 4. genannten) N. der sozialen Anpassung übergehen kann, hat K. Gutzkow in seiner Erzählung ‹Die Nihilisten› (1853) dargestellt. – Erben des gegen den Idealismus erhobenen N.-Vorwurf es sind vor allem die Linkshegelianer. Angesichts der Bibel- und Religionskritik von D. F. Strauß, B. Bauer und L. Feuerbach erscheinen nun Hegels Logik und Religionsphilosophie, vom theistischen Standpunkt aus gesehen, als nur vornihilistisch [5]. Vor allem Feuerbachs Schriften werden mit dem N.-Begriff in Verbindung gebracht [6]. Der philosophische Egoismus erfährt seine extremste praktische Ausdeutung durch M. Stirner[7]. Schließlich konstatiert K. Rosenkranz die Entwicklung des nihilistischen Radikalismus zur Praxis des «radicalen N., zur Revolution des Proletariers» [8]. – Auf materialistische Denkweisen wird der Begriff ‹N.› schon seit dem vierten Jahrzehnt des 19. Jh. angewandt [9]. – T. H. Huxley charakterisiert die aus H. Spencers politischem Liberalismus resultierende Forderung auf Beschränkung der Funktionen des Staates als «administrative N.» [10]; H. Spencer hat diese Bezeichnung als unangemessen zurückgewiesen [11].
[1]
F. von Baader: Ueber Katholicismus und Protestantismus (1824); Ueber die Freiheit der Intelligenz (1826). Werke, hg. Fr. Hoffmann u.a. 1 (1851, ND 1963) 71–80. 133–150; E. Susini: Lettres inéd. de F. v. Baader (1942) Nrn. 150. 186.
[2]
W. Meinhold: Maria Schweidler die Bernsteinhexe (21846) Vorrede zur 2. Aufl.
[3]
B. Auerbach: Schrift und Volk (1846). Ges. Schr. 20 (1864) 189.
[4]
J. D. Cortés: Essai sur le catholicisme, le libéralisme et le socialisme (Paris 1851) 3, V.
[5]
J. W. Hanne: Der mod. N. und die Strauß'sche Glaubenslehre im Verhältnis zur christl. Relig. (1842) 27.
[6]
E. A. v. Schaden: Über den Gegensatz des theist. und pantheist. Standpunktes (1848) 124. 217f.
[7]
M. Stirner: Der Einzige und sein Eigentum (1844); vgl. R. W. K. Paterson: The nihilistic egoist Max Stirner (London u.a. 1971).
[8]
K. Rosenkranz: Hegel als dtsch. Nationalphilosoph (1870) XXf.
[9]
K. Immermann: Die Epigonen (1836) I, Kap. 9; vgl. u. II.
[10]
T. H. Huxley: Administrative N. (1871). Coll. essays 1: Method and results (New York/London 1893, ND 1970) 251–289.
[11]
H. Spencer: Specialized administration (1871). Works 15 (London 1891, ND 1966) 437f. 442–444.
E. Benz: Westl. und östl. N. in christl. Sicht (Stuttgart [1948]). – M. Riedel: Art. ‹N.›, in: Geschichtl. Grundbegriffe 4 (1978) 390–404.
6. Die deutsche Romantik hatte zu Beginn des 19. Jh. das Interesse an indischer Religion und Dichtung geweckt (F. Majer, Fr. Schlegel). In den folgenden Jahrzehnten rückt insbesondere der Buddhismus in den Blickpunkt religionswissenschaftlicher Forschung und wird als N. interpretiert [1]. A. Schopenhauers Willensmetaphysik erscheint als Rückkehr zu solchem «pantheistischen N.» [2], als «Nirwanismus» (Fr. Th. Vischer). Fr. Nietzsche sieht im zeitgenössischen Pessimismus einen «neuen Buddhismus» heraufkommen [3], den er als passiven N. versteht. – Von den geistigen Nachfahren Schopenhauers hat sich J. Bahnsen ausdrücklich zu einem N. bekannt [4].
[1]
M. Müller: Die Bedeutung von Nirvâna (1857); Über den buddhist. N. (1869), in: Essays 1 (21879) 254–265. 277–292; übrigens hat relig.wiss. und relig.philos. Betracht. häufig, auch noch im 20. Jh., die Mystik als N. charakterisiert, insofern diese dem Göttlichen die Qualität des absoluten Nichts zuspricht; vgl. R. Otto: Das Heilige (1917); H. Scholz: Relig.philos. (1921).
[2]
J. W. Hanne: Die Idee der absoluten Persönlichkeit 1 (1861) 35; vgl. L. Feuerbach: Das Wesen des Christentums (1841). ND 1. 2 (1956) 1, 75; Briefwechsel (Leipzig 1874) 299f.; E. Dühring: Cursus der Philos. als streng wiss. Weltanschauung und Lebensgestaltung (1875) 345ff.
[3]
Fr. Nietzsche: Zur Geneal. der Moral (1887) Vorrede, Aph. 5.
[4]
J. Bahnsen: Der subjective und der objective N. (1872), in: Wie ich wurde was ich ward (1905) 157–162.
7. Die Lektüre von P. Bourgets ‹Essais de psychologie contemporaine› hat Fr. Nietzsches Verständnis des N. wesentlich beeinflußt [1]. Er interpretiert den N. als Willen zum Nichts[2], der als verkappter Wille zur Macht eine transzendente Welt fingiert, um die wirkliche Welt verurteilen zu können. Die Verurteilung führt zur Selbstverurteilung und schließlich zur Selbstzerstörung des sie praktizierenden Menschen. Den europäischen N. beschreibt Nietzsche des näheren als eine mannigfache Strömungen in sich befassende geschichtliche Bewegung, die sich von der Gründung der (Herden-)Moral und der auf dieser basierenden Wahrheit bis zur Zersetzung bei der erstreckt. Diese Bewegung der décadence, die mit Sokrates und Plato anhebe und sich im Christentum fort setze, entwickle den Sinn für Wahrhaftigkeit, der sich «zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis» sublimiere [3]. Dabei werde das unmoralische Interesse bloßgelegt, das alle Moral fundiere. Die erstrebte allgemeingültige Wahrheit zerfalle in eine Vielzahl perspektivischer ‘Wahrheitenʼ. Daraus er wachse die Einsicht, «daß es gar keine Wahrheit giebt», «daß ... jedes Für-wahr-halten notwendig falsch» ist. Sie stellt «die extremste Form des N.» dar [4] und ist von den Gestalten des unvollständigen N. zu unterscheiden, in denen noch an traditionellen Werten festgehalten wird [5], was in reduzierter Weise selbst noch im russischen N. (s.u. II) geschehe, der noch immer «das Bedürfniss nach Glauben» verrate [6]. – Nietzsche versteht sich selbst als «der erste vollkommene Nihilist Europas», der aber den N. schon «hinter sich» habe, welcher die nächsten beiden Jh. bestimmen werde, um in späterer Zukunft durch die «Gegenbewegung» der Umwertung aller Werte abgelöst zu werden [7]. Zu dieser bedürfe es der Züchtung des Übermenschen. In ihm soll der Wille zur Macht seine höchste schöpferische Ausprägung erfahren. Die Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen erhält die Funktion der Züchtung zugesprochen: Die Nihilisten zerbrechen an ihr, weil sie ihnen bedeutet, daß «das Nichts (das ‘Sinnloseʼ) ewig» ist [8]. Das dionysische Lebensgefühl der Stärksten aber sieht sich durch sie gesteigert: Sie rufen «unersättlich da capo ..., nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele» [9].
[1]
Vgl. Ch. Andler: Nietzsche, sa vie et sa pensée (Paris 1920ff.) 3, 418. 424.
[2]
Fr. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887) 2. Abt., Aph. 21. 24; 3. Abt., Aph. 14.
[3]
Die fröhliche Wiss. 5 (1887) Aph. 357.
[4]
Gesamt-A., hg. G. Colli/M. Montinari (1967ff.) VIII/2, 11 [108], S. 293; 9 [41], S. 18.
[5]
VIII/2, 10 [42], S. 142.
[6]
Die fröhliche Wiss. a.O. [3] Aph. 347.
[7]
a.O. [4] VIII/2, 11 [411], S. 431f.
[8]
a.O. VIII/1, 5 [71], S. 215f.
[9]
Jenseits von Gut und Böse (1886) Aph. 56.
K. J. Obenauer: Fr. Nietzsche, der ekstat. Nihilist (1924). – K. Löwith: Kierkegaard und Nietzsche oder theol. und philos. Überwindung des N. (1933); Nietzsches Philos. der ewigen Wiederkehr des Gleichen (1934, 21955). – W. Bröcker: Nietzsche und der europ. N. Z. philos. Forsch. 3 (1948) 161–177. – M. Heidegger: Der europäische N., in: Nietzsche (1961) 2, 31–256; Die ewige Wiederkehr des Gleichen a.O. 1, 255–472. – A. C. Danto: Nietzsche as philosopher (New York 1965). – W. Müller-Lauter: Nietzsche. Seine Philos. der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philos. (1971) 66–94.
8. Seit dem Ende des 19. Jh. findet Nietzsches Verständnis des N. zunehmend Verbreitung. Die Vielzahl der Veröffentlichungen, in denen seither Erscheinungen der Vergangenheit und Gegenwart als nihilistisch gedeutet werden, läßt sich kaum überblicken [1]. H. Rauschning hat den Wandel des N.-Bewußtseins in den Generationen nach Nietzsche beschrieben [2]. Die Überzeugung, daß der N. zum «Normalzustand» geworden ist, schlägt sich in den Werken G. Benns[3] und E. Jüngers[4] nieder. Benn setzt dem nihilistischen Auflösungsprozeß die künstlerische Formgebung entgegen; Jünger findet Zeichen einer «neuen Zuwendung des Seins» in der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften, deren Ergebnisse einer theologischen Deutung fähig sein sollen, sowie in der zeitgenössischen Literatur und Philosophie [5]. Nach Th. W. Adorno hingegen ist Nietzsches gegen das Christentum gerichteter Gebrauch des Wortes ‹N.› «umfunktioniert» worden: «zum Inbegriffeines als nichtig verklagten oder sich selbst verklagenden Zustands», dessen Unbestimmtheit die «Injektion von Sinn» gestatte. Derartige «Überwindungen» seien aber allemal schlimmer als das «Überwundene». Sie verbündeten sich schließlich mit den Mächten der Zerstörung, seien so selber nihilistisch. Was von den scheinbaren Positivitäten her als N. verurteilt werde, letztlich aber konkretes kritisches Bewußtsein sei, müsse vom Gedanken verteidigt werden [6]. – Weitgespannte Analysen des N. [7] und Versuche zu seiner Überwindung hat K. Jaspers vorgelegt. Für ihn ist die «offene Glaubenslosigkeit» des N. eine Gestalt der Unphilosophie, gegen die sich der philosophische Glaube an die Transzendenz zu behaupten habe [8]. Da die Frage nach dem Nichts bei den «Existenzphilosophen» zentrale Bedeutung erhält [9], werden sie selber als Nihilisten charakterisiert oder in die Nähe des N. gerückt: neben Jaspers vor allem M. Heidegger und J.-P. Sartre [10]. A. Camus versteht unter N. das Bewußtsein der totalen Absurdität menschlichen Verhaltens. Die innere Widersprüchlichkeit dieses Bewußtseins treibt ihn zur Ausarbeitung der von menschlicher Solidarität getragenen Haltung der Revolte; an die Stelle universaler Sinnlosigkeit tritt die Gewißheit eines letzten, wenngleich rätselhaften Sinnes [11].
[1]
Für die Lit. von 1945 bis ca. 1967 vgl. D. Arendt: Der N.-Ursprung und Gesch. im Spiegel der Forsch.-Lit. seit 1945. Dtsch. Vjschr. Lit.wiss. 43 (1969) 346–369. 544–566.
[2]
H. Rauschning: Masken und Metamorphosen des N. (1954) 23–33.
[3]
Vgl. G. Benn: bes. Weinhaus Wolf (1949). Ges. Werke, hg. D. Wellershoff (31965) 2, 127–151; Nihilistisch oder positiv? (1954) 1, 399f.; vgl. W. Grenzmann: G. Benn. Der N. und die Form. Dichtung und Glaube (31957); H.-D. Balser: Das Problem des N. im Werke G. Benns (1965).
[4]
Vgl. K. Herrmann: E. Jünger und der dtsch. N. Pandora (1947) 7/42–55; A. von Martin: Der heroische N. und seine Überwindung (1948).
[5]
E. Jünger: Über die Linie, in: Anteile. Festschr. M. Heidegger (1950) 245–284; vgl. M. Heidegger: Zur Seinsfrage (1956).
[6]
Th. W. Adorno: Negative Dialektik (1966) 367–372.
[7]
K. Jaspers: Psychol. der Weltanschauungen (1919); Von der Wahrheit (1947).
[8]
Der philos. Glaube (1948); vgl. F. Märkel: G. Benn und der europ. N. Zeitwende 29 (1958) 308–322; K. Rosenthal: Das Problem des N. im Denken von K. Jaspers. Evang. Theol. 26 (1966) 422–434.
[9]
Vgl. bes. M. Heidegger: Was ist Met.? (1929, 61951) Nachwort (1934).
[10]
J. B. Lotz: Existenzphilos., N. und Christentum. Stimmen der Zeit 142 (1948) 332–345; H. Fries: N. Die Gefahr unserer Zeit (1949); G. Lukács: Existenzialismus oder Marxismus? (1951); H. Jonas: Gnostizism and mod. N. Social Res. 19 (New York 1952) 430–452; K. Hübner: Fichte, Sartre und der N. Z. philos. Forsch. 10 (1956) 29–43; H. Hofer: Existenz und N. bei Nietzsche und drei verwandten Denkern (F. H. Jacobi, Sartre und Heidegger) (Diss. Bern 1960).
[11]
A. Camus: Le mythe de Sisyphe (Paris 1942); L'homme révolté (Paris 1951); L'énigme. L'été (Paris 1954) 119–136; vgl. G. Marcel: Homo viator (Paris 1944) 278–293.
H. Rauschning: Die Revolution des N. (Zürich/New York 1938, ND 1965). – H. L. Goldschmidt: Der N. im Licht einer krit. Philos. (1941). – A. Gurwitsch: On contemp. N. Rev. of Politics VII (Notre Dame, Ind. 1945) 170–198. – A. Weber: Abschied von der bisherigen Gesch. (1946). – E. Niekisch: N. Zur Klärung der Begriffe, hg. H. Burgmüller (1947). – C. F. von Weizsäcker: Die Gesch. der Natur (1948). – H. Thielicke: Der N. (1950). – W. Bröcker: Im Strudel des N. (1951). – R. Pannwitz: Der N. und die werdende Welt (1951). – I. Silone: La scelta dei compagni (Rom 1954). – G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen (1956). – E. Mayer: Kritik des N. (1958). – J. Goudsblom: Nihilisme en cultuur (Amsterdam 1960). – M. Polanyi: Beyond N. (Cambridge 1960). – F. Leist: Existenz im Nichts (1961). – E. Bloch: Philos. Grundfragen 1 (1961) 41–81. – H. Wein: N.-Gespräch 1962. Universitas 17 (1962) 1223–1232. – L. Kolakowski: Etyka bez kodeksu. Twórczoćź (Warschau 1962) Nr. 7; dtsch. in: Traktat über die Sterblichkeit der Vernunft (1967) 89–122. – Philos. Theol. im Schatten des N., hg. J. Salaquarda (1971). – W. Weischedel: Der Gott der Philosophen. Grundleg. einer philos. Theol. im Zeitalter des N. 1 (1971); 2 (1972). – V. E. Frankl: Der Wille zum Sinn (1972) 128f. 138ff. 166f. – Der N. als Phänomen der Geistesgesch. in der wiss. Diskussion unseres Jh., hg. D. Arendt (1974). – K. Wellner: Der offenbare und der versteckte N. (1978). – W. Weier: N. – Geschichte, System, Kritik (1980).
9. Für M. Heidegger fallen N. und Metaphysik in eins [1]. Der N. ist «die Grundbewegung der Geschichte des Abendlandes» [2], insofern diese in der Metaphysik gründet. Deren Wesensmöglichkeiten, sich von den Vorsokratikern an entfaltend, erschöpfen sich im N. Nietzsches. Dessen Versuche, den N. zu überwinden, gehören diesem noch zu, machen ihn sogar erst perfekt[3]. Nach Nietzsche kann sich die Vollendung des N. nur noch verwirklichen, d.h. er wird zum Normalzustand [4]. Diesen führe die Herrschaft der «Technik» herauf, in der sich die von Heidegger als Wille gedeutete neuzeitliche Metaphysik als Wille zum Willen enthülle, dessen «Vorform» Nietzsches «Wille zur Macht» darstelle [5]. – Nihilistisch ist die Metaphysik, Heidegger zufolge, in einem doppelten Sinn. Einmal insofern, als sie mit geschichtlicher Notwendigkeit zur Einsicht Nietzsches führe, daß es im Grunde mit dem Seienden nichts ist: es verliere die Tragfähigkeit für wahrhafte Sinngebung. Doch dabei bleibt das Wesen des N. noch verborgen: daß es, zum anderen, in der Metaphysik mit dem Sein nichts ist [6]. In der Metaphysik vollziehe sich das Ausbleiben des Seins, das von ihr nicht einmal bedacht werde: das Ausbleiben als solches werde ausgelassen. Nietzsches «vermeintliche Überwindung des N. errichtet allererst die Herrschaft der unbedingten Auslassung des Ausbleibens des Seins zugunsten des Seienden von der Art des wertesetzenden Willens zur Macht» [7]. Die Einkehr in das Wesen des N. sei «der erste Schritt, durch den wir den N. hinter uns lassen» [8]. Sie müsse dem Willen absagen [9], «lernen, das Ausbleiben des Seins in dem zu bedenken, was es aus ihm selbst her sein möchte» [10].
Wolfgang Müller-Lauter
[1]
M. Heidegger: Nietzsche (1961) 1, 343; Holzwege (1950) 244f.; Zur Seinsfrage (1956) 33.
[2]
Holzwege 201.
[3]
Nietzsche 2, 341.
[4]
Seinsfrage 14.
[5]
Was ist Met.? (1929, 61951) Nachwort 39.
[6]
Nietzsche 2, 336–339; Holzwege 239.
[7]
Nietzsche 2, 375.
[8]
Seinsfrage 41.
[9]
Gelassenheit (1959) 32ff.
[10]
Nietzsche 2, 368.
Literaturhinweis. O. Pöggeler: Der Denkweg Martin Heideggers (1963) 104–135. 182. 292f.
II. Der N.-Begriff in Rußland. – Im Anschluß an deutsche und französische Quellen [1] wird der Begriff ‹N.› (russ. nigilizm) und ‹Nihilisten› (nigilisty) in Rußland zunächst vielfältig gebraucht, zum ersten Male 1829 von N. I. Nadeždin im Sinne von «Nichtigkeit» (ničtožestvo) in einer Kritik der Poesie Puskins und seiner Plejade [2]. Im Sinne von «Geschmacklosigkeit, Trivialität, Unbildung» wird 1836 ‹N.› dann bei V. Belinskij[3], im Anschluß an Jean Paul als Synonym für ‹Idealismus› in der ‹Theorie der Poesie› von S. P. Ševyrev ebenfalls 1836 [4] und in der Polemik von Dobroljubov gegen den Prof. Bervi 1858 als gleichbedeutend mit «Verneinung jeglichen realen Seins» und Skeptizismus verwendet [5]. Anfang der 1880er Jahre noch hat N. Strachov in seinen ‹Briefen über den N.› [6] dessen «Kritik der bestehenden Ordnung» als Negation «nahezu alles Bestehenden» aufgefaßt. Seinen weithin aufgenommenen Sinn erhält der Begriff- wohl über M. N. Katkov[7] – durch I. Turgenev 1861 in seinem Roman ‹Väter und Söhne› (Kap. V): «Ein Nihilist ist ein Mensch, der sich vor keiner Autorität beugt, der kein Prinzip auf Treu und Glauben hinnimmt, mag dieses Prinzip noch so viel Achtung und Ehrfurcht genießen.» Der russische N. – seine Hauptvertreter: N. Cernyševskij, N. Dobroljubov, D. Pisarev – geht aus von der anti-romantischen und anti-ästhetischen Haltung der «Söhne gegen die Väter»; die Anti-Ästhetik weitet sich zur Anti-Metaphysik in der Wendung gegen jegliche ideae innatae, zum Kampfe gegen die positive und natürliche Religion sowie gegen die mit dem Christentum eng verbundene Autokratie. Idealistische Ästhetik, Metaphysik, Religion und Autokratie sind für Etwas gehaltene Nichtse, die es zu entlarven und zu stürzen gilt. So A. Herzen (Gercen) 1868: «Der N. verwandelt nicht etwas in nichts, sondern entlarvt, daß ein Nichts, das für ein Etwas gehalten wird, eine optische Täuschung ist» [8]. Die russischen Nihilisten vertreten einen anthropologischen Realismus, der teils dem Vulgärmaterialismus nachschlägt, sie sind philanthrop und radikal intellektuell, so daß bei Pisarev 1864 der Terminus (Nihilisten) durch ‹Realisten› ersetzt wird: «Der Realist ist der denkende Arbeiter, der mit Liebe an sein Werk geht» [9]. Das Proletariat hat noch kaum Bedeutung für sie. Ihre gesellschaftspolitischen und staatsphilosophischen Ideen sind teils frühsozialistisch (Fourier), teils liberal und individualistisch (W. v. Humboldt).
Die sowjetphilosophische Interpretation des «N. in Rußland» [10] meint, daß sich in ihm die tiefe Krise «der Leibeigenschafts-Struktur Rußlands ... in Philosophie, Moral, Kunst und Lebensweise» in den 1850er und 1860er Jahren zeige. Der «progressive Inhalt» des N., etwa in der Kritik der offiziellen kirchlichen Moral oder der abstrakten idealistischen Philosophie, könne die philosophische Verschwommenheit nicht übertünchen, die sich in der Verwischung der Grenzen z.B. von Materialismus und Positivismus, Dialektik und Evolutionismus äußere. Černyševskij und Dobroljubov seien nicht eigentlich Nihilisten zu nennen, obwohl sie dessen beste Elemente, vor allem die revolutionäre Negation des Bestehenden, übernommen hätten. Sie seien «revolutionäre Demokraten» mit streng materialistischer Philosophie, historischem Optimismus und der Bereitschaft zum Kampf für die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft. Der «N. in Rußland» ist wegen der philosophischen und politischen Differenzen der diesem zuzurechnenden Personen nicht eindeutig bestimmbar.
Wilhelm Goerdt
[1]
Etwa Jean Paul, Fr. H. Jacobi, W. T. Krug, Mercier; vgl. A. I. Alekseev, s.u. Lit. 414f.
[2]
Alekseev, a.O. 415.
[3]
416.
[4]
ebda.
[5]
416f.
[6]
N. Strachov: Pis'ma ob nigilizme (1881–1883); vgl. W.-H. Schmidt, s.u. Lit. 15. 220.
[7]
Vgl. B. P. Koz'min, s.u. Lit. 382f.
[8]
A. I. Gercen (Herzen), Sobr. Soč. v tridcati tomach (Moskau 1960) T. 20/1, str. 349.
[9]
D. I. Pisarev: Soč. v četyrech tomach (Moskau 1956) T. 3, str. 67.
[10]
A. Novikov Nigilizm v Rossi, in: Filosofskaja Enciklopedija T. 4 (Moskau 1967) str. 66f.
A. I. Alekseev: K istorii slova ‘nigilizmʼ, in: Sbornik statej v čest' Akademika A. I. Sobolevskogo (Leningrad 1928) str. 413–417. – B. P. Koz'min: Dva slova o slove ‘nigilizmʼ, in: Izvestija AN SSSR, otd. lit. i jaz., T. X, vyp. 4 (1951) str. 378–385. – E. Lampert: Sons against fathers (London 1965). – W. Goerdt: Despotie und Subjektivität. Zu einem Leitmotiv des russ. N. Arch. der Philos. 13/1–2 (1964) 71–94. – W.-H. Schmidt: N. und Nihilisten. Forum Slavicum 38 (München 1974) 216–233: Lit.