Anthropodizee wird erstmals erwähnt bei
P. Foulquie als «Néol[atin] calqué sur théodicée pour désigner une philosophie dans laquelle l'homme a pris la place occupée par dieu dans la philosophie classique»
[1] und dort
Ph. Muller zugeschrieben, der die zentrale Beachtung des menschlichen Handelns in der modernen Philosophie als A. verstanden habe. A. ist die Verteidigung der Vernunft des Menschen gegen die Anklage, welche dieser aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen sich erhebt
[2]. Angesichts des historischen, dialektischen Zusammenhangs von Theodizee und A. fand der Begriff in zweifacher Bestimmung Eingang in die gegenwärtige Philosophie: 1. als geschichtsphilosophische Interpretationskategorie und 2. als ideologiekritisches Theorem.
1.
H. Blumenbergs Theorie der Authentizität der Neuzeit
[3] interpretiert in ihrer Kritik an der theologischen Bestreitung der Legitimität dieser Epoche (Säkularisation) den
geschichtsphilosophischen Prozeß im neu zeitlichen Stadium als A.
[4]. Die Bedingung der Notwendigkeit einer A. ist – vorausgesetzt, «daß die erste Überwindung der Gnosis am Anfang des Mittelalters nicht gelungen war»
[5] – ein Rezidiv: «Die Neuzeit ist die zweite Überwindung der Gnosis»
[6]. Die von der Antike gestellte und nicht gelöste Frage nach dem Übel wurde im neuplatonischen Verdikt der Welt als «großer Verfehlung ihres idealen Modells»
[7] und in der gnostischen, eschatologischen Erwartung ihrer Zerstörung radikalisiert. Sie hat in der Kritik
August ins am ruinösen Katastrophenbewußtsein der Gnosis und seiner Wendung zu einer um des Menschen willen geschaffenen Welt eine entscheidende Antwort erhalten: Der Mensch bürdet sich zur Entlastung Gottes die Schuld allen Übels auf. Zum universellen Schuldbekenntnis des Menschen gehört die Lehre von seiner Rechtfertigung auf dem Gnadenwege
[8]. Unter dem neuzeitlichen Eindruck der Erkenntnis der Faktizität des Wirklichen und der Reflexion auf den Mangel der Natur als den Antrieb menschlicher Tätigkeit stellt sich das Problem der Rechtfertigung auf veränderte Weise: Nicht die Verantwortung für die vergangene Urschuld drängt, sondern die für die Zukunft der Geschichte. «Die Gnosis hatte das Problem der Qualität der Welt für den Menschen akut gemacht und in den Widerspruch, den Patristik und Mittelalter ihr entgegensetzen sollten, die Bedingung der
Kosmodizee als
Theodizee eingebracht; die Neuzeit versuchte diese Bedingung auszuschlagen, indem sie ihre
Anthropodizee auf die Rücksichtslosigkeit der Welt gegenüber dem Menschen ... begründete»
[9]. In der technischen Sphäre vermittelt sich ein «der entfremdeten Wirklichkeit bewußt begegnender Wille zur Erringung einer neuen ‹Humanität› dieser Wirklichkeit»
[10]. Die A. ist die Antwort menschlicher Selbstbehauptung auf den nachmittelalterlichen Ordnungs- und Telosschwund.
2. In der Analyse der Geschichte der Geschichtsphilosophie hat A. eine
ideologiekritische Funktion
[11]. Auf den nachrationalistischen Prozeß von der Fortschritts- zur Verfallgeschichtstheorie projiziert, leitet der Begriff die Erkenntnis, weshalb es im Schoß der klassischen deutschen Philosophie zu der mit der Unzweckmäßigkeit der Welt gegenüber der Vernunft begründeten Theologisierung des transzendentalen und praktischen Problems der Freiheit (und der Mittel der autonomen Vernunft zur Befreiung) kam. Wegen der in der französischen Revolution scheinbar nicht erreichten Parusie der Freiheit wurde in
Schellings Identitäts- und positiver Philosophie der Begriff der Vernunft reduziert auf das subjektive Bewußtsein, ihre die Identität mit Gott zerstörende Praxis und ihre Negationsfunktion im dialektischen Prozeß der Offenbarung. Voraussetzung der nachrationalistischen Erneuerung der Metaphysik waren die ihm fremden Verbindungen, die der Idealismus z.B. Schellings mit dem Neuplatonismus, gnostischen Elementen, der jüdischen und protestantischen Mystik, dem apokalyptischen Pietismus der Schwabenväter und Spinoza eingegangen war. Aufgrundder Lehre von der Immanenz der Geschichte in Gott stellte sich die Schuld frage modifiziert: Es ist der Mensch für den Verlust der ursprünglichen Identität verantwortlich; deren Aufbrechen war jedoch für die Offenbarung unabdingbar. Die Bestimmung der Freiheit als Modus des Absoluten und der Geschichte als Ort fortschreitender Unfreiheit – der Mensch war nur einmal im vorgeschichtlichen Akt der Auflehnung frei – begründet ein Plädoyer für den Menschen. Die scheinbare Theodizee auf der Grundlage menschlicher Freiheit erweist sich als A.: Die Menschheit trägt die Bürde einer im Antagonismus der Natur Gottes selbst entstehenden Notwendigkeit; Gott setzte sich im Menschen seine Negation ins Werk. Dieser A.-Begriff will klären, daß das Theodizeeschema der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie die Lösung eines Problems unternimmt, welches erst durch die theologische Widerspiegelung gesellschaftlicher, historischer Antagonismen entstanden war, daß es als Verstehensinstrument die objektiven Bedingungen der Religion unreflektiert läßt. Die A. entwickelt sich aus den Antinomien der idealistischen, gegenüber der revolutionären Wirklichkeit der Freiheit identifizierungsunfähigen Vernunft, welche der Menschheitsgeschichte als Produkt gesellschaftlicher Arbeit ihre Anerkennung versagt.