II. B. ist eine der vier platonischen Kardinaltugenden
[1]; sie wird als
temperantia in der Scholastik, als
Mäßigkeit und
B. in der deutschen Schultradition gelehrt und ist in der ethischen Reflexion meist eine Bestimmung des Bewußtseins gewesen und darum ein Humanum. Dabei hat man sich dem, was mit ‹sophrosyne› gemeint war, weitgehend angeschlossen. So ist B. für
Platner «das Vermögen der menschlichen Seele, die Kraft der Vernunft oder geistige Tätigkeit zu äußern, mittels gewisser Fähigkeiten der Organisation»
[2] oder sie ist nach
Herbart «die Gemütslage des Menschen in der Überlegung»
[3]. Erscheint in diesen Äußerungen B. gelöst vom Konnex der Tugendlehre, was auf
Herder zurück- und auf
Schopenhauer vorausweist, so ist für
Schleiermacher B. eine der vier Kardinaltugenden
[4] (worunter er B., Beharrlichkeit, Weisheit und Liebe versteht) und erscheint in diesem Zusammenhang durchweg auch in der weiteren Spekulation
[5]. Noch bei
Nelson[6] wird B. zu einer «sittlichen Eigenschaft» durch «Reinheit des Charakters», wobei «ein sittlicher Entschluß zwar allemal besonnen» ist, «aber es ist nicht umgekehrt ein besonnener Entschluß immer sittlich». Bei
Jean Paul ist B. eine der Grundkräfte des Genies. Dem Dichter, der darin dem Philosophen gleicht, kommt eine höhere, «göttliche B.» zu, die ihm die Freiheit gibt, sich selbst als schöpferisches Ich und die Welt als sein Geschöpf zu betrachten, während die «gemeine B.» nur «nach außen gekehrt» ist
[7].
Schopenhauer löst, hierin vielleicht
Herder folgend, den Begriff B. völlig aus dem Rahmen der Tugendlehre. Für ihn ist B. als nicht-ethisches Humanum ein Zentralbegriff. Er beschreibt sie als Fähigkeit, vom Augenblick Distanz zu gewinnen
[8], und nennt sie «nicht-immanentes Bewußtsein»
[9]; auch Tiere haben ein Bewußtsein, indem sie ihr «Wohl und Wehe» und sich selber erkennen
[10], aber sie haben keine B. So ist die Fähigkeit, daß «der Intellekt durch sein Übergewicht sich vom Willen, dem er ursprünglich dienstbar ist, zuzeiten losmacht», B. zu nennen
[11]. Sie ist darum die Wurzel der Philosophie, der Kunst und Poesie
[12] und konstituiert die «Grade der Realität des Daseins», «denn die unmittelbare Realität ist bedingt durch eigenes Bewußtsein»
[13].
Nietzsche verschärft das in diesen Bestimmungen liegende elitäre Moment; für ihn ist B. «die Tugend der Tugenden», jedoch habe der Besonnene «weder Erfolg noch Beliebtheit»
[14]. Es ist bemerkenswert, daß damit der Schopenhauersche Ansatz wieder in die Ethik zurückgelenkt wird.
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O. Kunsemüller: Herkunft der platon. Kardinaltugenden (1935). |
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E. Platner: Philos. Aphorismen 1 (1790) § 775. |
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J. F. Herbart: Lehrb. zur Psychol. ( 31850) 83. |
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F. Schleiermacher: Philos. Sittenlehre (1809) § 313f. |
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Vgl. W. Wundt: Ethik ( 41912) 3, 39f.; H. Cohen: Ethik (1904) 493; M. Jahn: Psychol. als Grundwiss. der Pädagogik ( 61911) 450. 459. 502. |
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L. Nelson: System der philos. Ethik und Pädagogik ( 21949) 99f. |
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Jean Paul, Vorschule der Ästhetik § 12. Werke, hg. N. Müller u. E. Lohner (1959–1963) 5, 56–59. |
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A. Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Werke, hg. Hübscher 1, 101. |
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Die Welt als Wille und Vorstellung a.a.O. 3, 436f. |
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Parerga und Paralipomena a.a.O. 6, 630. |
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Nietzsche, Werke, hg. Schlechta 1, 992 (294). |