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Besonnenheit

Besonnenheit Ethik und Moralphilosophie sophrosyne (σωφροσύνη) Beherrschtheit Überwindung der Leidenschaften temperantia Sophrosyne 5072 10.24894/HWPh.5072Rüdiger BubnerWolfgang LangenbachErich Heintel
I.Sophrosyne (S.) (σωφροσύνη, ‹gesunder Sinn› [1]) kennzeichnet seit Homer den seiner Sinne mächtigen und selbstbeherrschten Menschen, dann das vernünftige Verhalten gegen Menschen (Gegenteil: Hybris [2]), auch Keuschheit, und maßbewußte Selbstbeschränkung gegen Götter (ähnlich: Aidos) [3]. Als allen Menschen gemeinsame Norm ist sie äquivalent dem γνῶθι σαυτόν bei Heraklit[4]; bei Demokrit spiegelt sich gnomische Tradition [5]. Die Sophistik (Thrasymachos, Antiphon, Kritias[6]) übernimmt S. als Selbstbeherrschung gegen Leidenschaften; insgesamt zeigt sich in der Literatur der zweiten Hälfte des 5. Jh. v.Chr. die Verblassung und Abwertung des alten Begriffs [7].
Eine zentrale Stellung nimmt S. bei Plato unter den Kardinaltugenden ein, zusammen mit der Gerechtigkeit als ‹politische Tugend› [8]. Der herkömmliche Sinn von Selbstbeherrschung wird begründet aus der Tauglichkeit (Arete), die bei allen Dingen auf Ordnung (Kosmos) beruht und bei der Seele in der S. durch Logos anstatt in Zügellosigkeit der Begierden besteht [9]. S. ist also Herrschaft des Besseren in der Seele über das Schlechtere [10], die, da sie der Natur (Physis) entspricht, Gesundheit der Seele und, sofern sie beide Seiten umschließt, Harmonie des Ganzen ist [11]; darin entsprechen Seele und Polis einander, S. gilt sogar als Bedingung der Gerechtigkeit [12]. In wohlabgewogener Mischung mit Tapferkeit ist S. umfassende Staatskunst; sie erfüllt ihre Ordnungsfunktion im Ganzen des Handelns [13] und ist darin bereits der aristotelischen Mesoteslehre vergleichbar [14].
Für Aristoteles bedeutet S. die gehörige Mitte hinsichtlich leiblicher Lustempfindung zwischen den zügellosen Extremen, und zwar nach dem richtigen Logos und in Einklang mit dem natürlichen Begehren [15]; hierdurch unterscheidet sie sich von der Beherrschtheit (ἐγκράτεια) [16], die gegen unvernünftige Begierden ankämpft – eine Tugend, die von Aristoteles wiedereingesetzt wurde gegen die sokratische Deutung der Unbeherrschtheit als bloße Unwissenheit. Im Blick auf die aristotelische Ethik ist die von Plato politisch verstandene S. eine vorwiegend persönliche Tugend.
Rüdiger Bubner
[1]
Etymologie schon bei Plato, Krat. 411 e 4.
[2]
Vgl. Plato, Phaidr. 237 e 3ff.; Leg. 906 a 8.
[3]
Vgl. Charm. 161 all.
[4]
Heraklit, Frg.(DiELs) 116. 112; vgl. Plato, Charm. 164 e 7.
[5]
Demokrit, Frg. (Diels) 208. 210. 211. 294.
[6]
Kritias, Frg. (Diels) II, 323, 7. 359, 7. 363, 15. 364, 6ff. 379, 14. D.
[7]
H. North: Opposition to S. Trans. Amer. philol. Ass. 78 (1947) 1–17.
[8]
Plato, Prot. 323 a 1; Phaidon 82 b 1; Resp. 500 d 7.
[9]
Gorg. 507 a 1.
[10]
Resp. 431 a 5.
[11]
Charm. 157 a 6; Resp. 432 a 8.
[12]
Gorg. 507 a 7; Leg. 631 c 8. 696 c 5.
[13]
Polit. 311.
[14]
Aristoteles, Eth. Nic. (= EN) 1104a 19. 25f.; 1107 b 5ff.
[15]
EN III 13–15, 1117 b 23–19 b 18; Eth. Eud. III, 2, 1230 a 37–31 b 4; Mag. moral. I, 21f.; 1191 a 37–b 22.
[16]
EN 1146 a 9. 1152a 1; Mag. moral. 1203 b 12–23.
R. Hirzel: Die Unterscheidung der dikaiosyne und sophrosyne in der plat. Rep. Hermes 8 (1874) 379–411. – O. Kunsemüller: Herkunft der plat. Kardinaltugenden (Diss. München 1935). –G. de Vries: S. en grec classique. Mnemosyne 11 (1943) 81–101. –T. G. Tuckey: Plato's Charmides (Cam bridge 1951). –A. Pinilla: S., sciencia de la sciencia (Madrid 1959). –H. North: S., selfknowledge and self-restraint in Greek lit. Cornell Stud. in class. Phil. 35 (1966). –S. B. Witte: Die Wiss. vom Guten und Bösen. Interpret, zu Platos Charmides (1970).
II. B. ist eine der vier platonischen Kardinaltugenden [1]; sie wird als temperantia in der Scholastik, als Mäßigkeit und B. in der deutschen Schultradition gelehrt und ist in der ethischen Reflexion meist eine Bestimmung des Bewußtseins gewesen und darum ein Humanum. Dabei hat man sich dem, was mit ‹sophrosyne› gemeint war, weitgehend angeschlossen. So ist B. für Platner «das Vermögen der menschlichen Seele, die Kraft der Vernunft oder geistige Tätigkeit zu äußern, mittels gewisser Fähigkeiten der Organisation» [2] oder sie ist nach Herbart «die Gemütslage des Menschen in der Überlegung» [3]. Erscheint in diesen Äußerungen B. gelöst vom Konnex der Tugendlehre, was auf Herder zurück- und auf Schopenhauer vorausweist, so ist für Schleiermacher B. eine der vier Kardinaltugenden [4] (worunter er B., Beharrlichkeit, Weisheit und Liebe versteht) und erscheint in diesem Zusammenhang durchweg auch in der weiteren Spekulation [5]. Noch bei Nelson[6] wird B. zu einer «sittlichen Eigenschaft» durch «Reinheit des Charakters», wobei «ein sittlicher Entschluß zwar allemal besonnen» ist, «aber es ist nicht umgekehrt ein besonnener Entschluß immer sittlich». Bei Jean Paul ist B. eine der Grundkräfte des Genies. Dem Dichter, der darin dem Philosophen gleicht, kommt eine höhere, «göttliche B.» zu, die ihm die Freiheit gibt, sich selbst als schöpferisches Ich und die Welt als sein Geschöpf zu betrachten, während die «gemeine B.» nur «nach außen gekehrt» ist [7]. Schopenhauer löst, hierin vielleicht Herder folgend, den Begriff B. völlig aus dem Rahmen der Tugendlehre. Für ihn ist B. als nicht-ethisches Humanum ein Zentralbegriff. Er beschreibt sie als Fähigkeit, vom Augenblick Distanz zu gewinnen [8], und nennt sie «nicht-immanentes Bewußtsein» [9]; auch Tiere haben ein Bewußtsein, indem sie ihr «Wohl und Wehe» und sich selber erkennen [10], aber sie haben keine B. So ist die Fähigkeit, daß «der Intellekt durch sein Übergewicht sich vom Willen, dem er ursprünglich dienstbar ist, zuzeiten losmacht», B. zu nennen [11]. Sie ist darum die Wurzel der Philosophie, der Kunst und Poesie [12] und konstituiert die «Grade der Realität des Daseins», «denn die unmittelbare Realität ist bedingt durch eigenes Bewußtsein» [13]. Nietzsche verschärft das in diesen Bestimmungen liegende elitäre Moment; für ihn ist B. «die Tugend der Tugenden», jedoch habe der Besonnene «weder Erfolg noch Beliebtheit» [14]. Es ist bemerkenswert, daß damit der Schopenhauersche Ansatz wieder in die Ethik zurückgelenkt wird.
Wolfgang Langenbach
[1]
O. Kunsemüller: Herkunft der platon. Kardinaltugenden (1935).
[2]
E. Platner: Philos. Aphorismen 1 (1790) § 775.
[3]
J. F. Herbart: Lehrb. zur Psychol. (31850) 83.
[4]
F. Schleiermacher: Philos. Sittenlehre (1809) § 313f.
[5]
Vgl. W. Wundt: Ethik (41912) 3, 39f.; H. Cohen: Ethik (1904) 493; M. Jahn: Psychol. als Grundwiss. der Pädagogik (61911) 450. 459. 502.
[6]
L. Nelson: System der philos. Ethik und Pädagogik (21949) 99f.
[7]
Jean Paul, Vorschule der Ästhetik § 12. Werke, hg. N. Müller u. E. Lohner (1959–1963) 5, 56–59.
[8]
A. Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Werke, hg. Hübscher 1, 101.
[9]
Die Welt als Wille und Vorstellung a.a.O. 3, 436f.
[10]
ebda.
[11]
a.a.O. 437.
[12]
ebda.
[13]
Parerga und Paralipomena a.a.O. 6, 630.
[14]
Nietzsche, Werke, hg. Schlechta 1, 992 (294).
III. Eine gewisse Sonderstellung nimmt Herders Begriff der B. ein. Er versteht unter B. die ursprüngliche und spezifisch menschliche Voraussetzung der Sprache [1]: «Der Mensch in den Zustand von B. gesetzt, der ihm eigen ist, und diese B. (Reflexion) zum ersten Mal frei wirkend, hat Sprache erfunden» [2], In diesem Sinne ist die Erfindung der Sprache dem Menschen «natürlich»: Sie ist durchaus analog der Selbstverwirklichung von Organismen (z.B. eines Insekts) im Sinne seiner Artgesetzlichkeit gedacht, unterscheidet sich von ihr freilich als ein freiheitliches Wirken. In Hegelscher Terminologie formuliert, ist die B. Herders die Vernunft des Menschen «an sich» und damit Voraussetzung alles «Für-sich-Seins» des Menschen, vor allem auch in der entwickelten Sprache. Für Herder ist daher «die Vernunft keine abgeteilte, einzeln wirkende Kraft, sondern eine seiner [des Menschen] Gattung eigene Richtung aller Kräfte: so muß der Mensch sie im ersten Zustand haben, da er Mensch ist. Im ersten Gedanken des Kindes muß sich diese B. zeigen, wie bei dem Insekt, daß es Insekt war» [3]. Die Selbstverwirklichung des Menschen kann aber «nicht ohne Wort der Seele wirklich werden» und «so werden alle Zustände der B. in ihm sprachmäßig ...» [4].
Erich Heintel
[1]
J. G. Herder: Abh. über den Ursprung der Sprache (1772, 21789), in: Sprachphilos. Schriften, hg. E. Heintel (21964) 1ff.
[2]
a.a.O. 23.
[3]
22.
[4]
60.
A. Gehlen: Der Mensch (41950) bes. 88ff.