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Dämonisch, das Dämonische

Dämonisch, das Dämonische 581 10.24894/HWPh.581 Christos Axelos
Ästhetik und Kunsttheorie Genius Dämonie, ästhetizistische2 5
Dämonisch, das Dämonische. Als Adjektiv und Adverb schließt sich ‹dämonisch› dem Bedeutungswandel des hier zugrunde liegenden Substantivs ‹Dämon› an. Neben diesem Geschehen, das in erster Linie die Religionsphilosophie und die Religionsgeschichte betrifft, kommt in der Epoche des Sturm und Drang der Brauch auf, mit ‹dämonisch› ein zuweilen die geistig-intelligible Natur des Menschen konstituierendes Moment zu bezeichnen. Zu dieser Zeit, in der die Lehre vom Genie ausgebildet wird, wird ‹dämonisch› zu einem äquivalenten Ausdruck für ‹genial›; der Kampf der Aufklärung gegen den Glauben an Dämonen erhält dadurch ein Korrektiv und Gegengewicht. Einen Anstoß zu diesem Wortgebrauch hat die Gestalt des Sokrates gegeben, die zumal mit Hamanns ‹Sokratischen Denkwürdigkeiten› (1759) dem literarischen Bewußtsein plastischer erscheint. Sokrates' Daimonion wird von nun an als der Genius im Menschen und, entsprechend, der geniale Mensch als der dämonische verstanden: «Das Dämonion», schreibt Hegel, «steht demnach in der Mitte zwischen dem Äußerlichen der Orakel und dem rein Innerlichen des Geistes; es ist etwas Innerliches, aber so, daß es als ein eigener Genius, als vom menschlichen Willen unter schieden, vorgestellt wird, – nicht als seine Klugheit, Willkür» [1]. Symptomatisch dafür ist auch die pleonastisch intensivierende Verbindung von ‹dämonisch› mit ‹Geist› und ‹Genie› durch Goethe[2]. Durch die Gleichsetzung des D. mit dem Genialen gerät aber das D. vorwiegend in das Bedeutungsfeld des Praktischen im Sinne des künstlerisch Praktischen [3], wozu auch die Auffassung des Künstlers, namentlich des von dem Versifikateur unterschiedenen poetischen Genies [4] als Prometheus, der schaffend göttliches Leben auf die Erde verpflanzt [5], beiträgt. Diese Zuordnung ist jedoch keine ausschließende. Bei der Anführung Napoleons, Byrons, Friedrichs und Peters des Großen als Menschen, in welchen das D. wirksam gewesen sei [6], oder bei der Deutung der Fähigkeit, den engen Kreis der banalen unmittelbaren Bedürfnisse zu erweitern oder ihn zu verlassen, als einer hohen dämonischen Freiheit [7], wird deutlich, daß auch eine moralisch und politisch praktische Produktivität anerkannt und mit dem Namen ‹dämonisch› belegt wird.
Während das mit dem schöpferischen dichterischen Genie identifizierte D. eine geistige Produktivkraft meint, die weder positiv noch negativ auf moralische Werte gerichtet ist, wird durch Kierkegaard und seit der Rezeption seines Werkes im deutschen Sprachraum die Bedeutung vorherrschend, nach welcher das D. sich auf das Verhalten des Menschen bezieht, der eigens, permanent und autonom, und zwar aus Angst vor dem Guten, letzten Endes wegen der Angst der Freiheit vor sich selber, das Böse fördert [8], wobei bereits das Verharren in der moralischen Neutralität des Poetischen und ästhetisch Relevanten als Sichbegeben in das Böse ausgelegt wird. P. Tillich prägt das Wort von der «ästhetizistischen Dämonie», die durch die künstliche Erschaffung von Absolutheiten und Seinsverwurzelungen nicht überwunden werden könne [9]. Allerdings in dem schöpferischen Akt an sich, der dem Ästhetizismus noch nicht verfallen ist, sei das D. Grund und Tiefe, «aber es bricht nicht als dämonisch hervor; es trägt, aber es erscheint nicht, es ist gebunden an die Form» [10]. Ausdrücklich an Kierkegaards Ausführungen anknüpfend, gibt K. Jaspers folgende Definition: «Das D. als der trotzige Wille zum eigenen zufälligen Selbst ist ein Verzweifelt-man-selbst-sein-wollen» [11]. Das Sichverfangen in der Undurchsichtigkeit des D. und in dem verworrenen Glauben an dieses ist nach Jaspers, neben der Menschenvergötterung und dem Nihilismus, eine der miteinander eng zusammenhängenden Weisen des philosophischen Unglaubens bzw. des unphilosophischen und ungeläuterten Glaubens.
[1]
Hegel, Vorles. über die Gesch. der Philos. Jubiläums-A. 18, 99.
[2]
Goethe zu Eckermann (20. 6. 1831): «... der dämonische Geist seines Genies ...».
[3]
Vgl. Schillers 9. Brief ‹Über die ästhetische Erziehung des Menschen›.
[4]
Vgl. Lessing, Briefe, die neueste Litt, betreffend, 103. Brief.
[5]
O. Walzel: Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe (1910).
[6]
Goethe zu Eckermann (2. 3. 1831).
[7]
Fr. Schiller: Über das Erhabene. National-A. 21, 46; vgl. auch das in ‹Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen› über die ‹Freiheit des Dämons› Gesagte a.a.O. 21, 27.
[8]
S. Kierkegaard: Der Begriff Angst Kap. 4, § 2.
[9]
P. Tillich: Das D. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Gesch. (1926). Ges. Werke 6, 69.
[10]
a.a.O. 6, 52.
[11]
K. Jaspers: Der philos. Glaube (1948) 111.