Dekadenz. Der französische Ausdruck ‹décadence› (Verfall) erscheint zuerst im 17. Jh. und begegnet als ästhetische Kennzeichnung in
Boileaus ‹Réflections critiques sur quelques passages du Rhéteur Longin› (1693), doch mit ethischem Einschlag, insofern der Verfall des Geschmacks als Moment der Auflösung der Gesamtkultur betrachtet wird. Seine prägnante Bedeutung gewinnt der D.-Begriff jedoch vor dem Hintergrunddes Gesprächs über den Untergang des römischen Reiches
[1]. Entscheidend ist dabei der Gebrauch des Wortes in
Montesquieus ‹Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence› (1774) und
Gibbons Werk ‹History of the Decline and Fall of the Roman Empire› (1776). Subjektive D.-Erkenntnis als historisches Phänomen verbindet sich mit der objektiven, die sich auf die Kennzeichnung der eigenen Zeit richtet. Im gleichen Sinne hatte bereits
Bossuet in seinem ‹Discours sur l'histoire universelle› (1681)
[2] das Wort verwendet. D. ist hier das Phänomen einer von Gott gelenkten, natürlichen Weltordnung.
Voltaire definiert den Begriff sowohl historisch als auch ästhetisch
[3].
Rousseau dagegen, der den Begriff selten verwendet, erfaßt das Problem der D. in einer für die Folgezeit charakteristischen kulturphilosophischen Weise. Der Gegensatz von Natur und Kultur (Zivilisation) wird zum wichtigsten Inhalt des Begriffs. Die modernen kulturellen Werte werden negativ der Naturmäßigkeit der Antike und niederer Kulturstufen gegenübergestellt.
Seit
Verlaine und
Baudelaire bezeichnet der Begriff ‹D.› eine literarische Bewegung, deren Kennzeichen die Ablehnung der bürgerlichen Welt und ihrer ethisch-sozialen Normen einerseits, Exotismus, Perversion, Rausch, gesteigerte Sensitivität und Ästhetizismus andererseits sind. Diese Bewegung, die sich in der Zeitschrift ‹Le Décadent› (1886–89) ein Organ schafft, entsteht aus dem in ganz Europa verbreiteten Bewußtsein der Jahrhundertwende, das Ende einer Kulturepoche zu erleben.
In
Deutschland findet sich der Begriff ‹D.› (auch als décadence) schon am Ende des 17. Jh., doch wird er in der heutigen Bedeutung erst von
H. Bahrs in ‹Studien zur Kritik der Moderne› (1894) und durch das Werk
Nietzsches vor allem seit 1888 eingeführt: «Wo in irgendwelcher Form der Wille zur Macht niedergeht, gibt es jedesmal auch einen physiologischen Rückgang, eine décadence»
[4]. Der kulturphilosophische wie der ästhetische Bedeutungsgehalt vereinen sich in Nietzsches
D.-Begriff. D. ist für ihn als zum Entwicklungsprozeß gehörend eine notwendige Konsequenz des Lebens, die den einzelnen Menschen ebenso wie die Epochen der Geschichte erfaßt und den Wiederaufstieg impliziert (ewige Wiederkehr des Gleichen). Negativ sind allein die zu überwindenden Folgen der D., d.h. die geistigen und künstlerischen Strömungen der Zivilisation. Eine Überwindungsmöglichkeit soll die von ihm konzipierte dionysische Kunst bieten. Erst durch Nietzsche wird ‹D.› zu einem europäischen Begriff, der das geistige Leben der Jahrhundertwende und des beginnenden 20. Jh. bestimmt. In Deutschland wird der Begriff vor allem literarisch bedeutsam (
Rilke, Hofmannsthal, Th. Mann), kulturphilosophisch überwiegt der Begriff ‹Verfall›. Der Marxismus bezieht ‹D.› zunächst auf den ideologischen Verfallsprozeß in der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und überträgt den Begriff dann als Kennzeichen bürgerlicher Kulturentwicklung besonders auf die Literatur (Kafka, Joyce) und den «Formalismus» in der modernen Kunst
[5].