2.
Das D.n. als Verlangen nach dem Glück beruht auf der
stoischen Verbindung von Physik und Ethik.
Michael von Ephesus nennt im Referat über die Stoiker das Im-Stande-des-Glücks-sein (
τὸ εὐδαιμονεῖν) als Ziel der
φυσικὴ ὄρεξις[1].
Epikur unterscheidet die
ἐπιθυμίαι φυσικαί in notwendige und nicht notwendige, die ersteren wiederum in solche, die für das Glück (
εὐδαιμονία), und solche, die für den Körper notwendig sind
[2].
Cicero übernimmt kritisch die Unterscheidung Epikurs und schlägt als Übersetzung für den Gattungsbegriff statt «cupiditates naturales» «desideria naturae» vor
[3]. Aus dem Wirrwarr dieser Unterscheidungen hebt sich heraus, was die Stoiker
ὁρμή nennen und Cicero mit «naturalis appetitio» wiedergibt; er läßt diese auf «das, was der Natur gemäß ist», auf «das, auf das sich alles bezieht», gerichtet sein
[4].
Eusebius setzt an die Stelle des philosophischen Terminus
εὐδαιμονεῖν den biblischen
μακάριος εἶναι, wenn er sagt, daß «wir alle auf natürliche Weise auf das Glücklichsein aus sind»
[5].
Basilius stellt einen neuplatonischen Zusammenhang
her
[6], bezieht sich aber auch auf die von ihm als ‹schön› befundene aristotelische Definition des Guten
[7].
Augustinus fand in Ciceros ‹Hortensius› den zum eigenen Philosophieren begeisternden Ansatz: Keiner kann die Gewißheit jenes philosophischen Ausgangspunktes anzweifeln: «beati certe ... omnes esse volumus»
[8]. Dem Mittelalter überliefert er das auch von
Seneca[8a],
Chalcidius[9] und
Gregor von Nyssa[10] angedeutete Problem, daß
alle Menschen die ‹beatitudo› wollen bzw. lieben, diese aber auf verschiedenen Wegen anstreben
[11]. Das Streben nach Glück ist in der Natur des Menschen begründet
[12]. Nach
Boethius offenbart sich im Glücksstreben des Menschen die Kraft der Natur
[13] und in dieser die göttliche Lenkung
[14].
Honorius von Autun faßt den
theologischen Grundgedanken
Augustins zusammen: Nach dem freiwilligen Sündenfall blieb der naturhafte Wille zum Glück bestehen. Der Mensch kann aber den Weg zum Glück durch die Gerechtigkeit nur aus Gnade finden
[15].
Petrus Lombardus zitiert die augustinische Erfahrung der Differenz zwischen Grundwollen und faktischem Wollen als Schulfrage «hinsichtlich des Glücks, ob alle es wollen und ob sie wissen, was das wahre Glück sei»
[16].
Stephan Langton fragt, «ob alle glücklich sein wollen, was ja so zu sein scheint, weil jeder Mensch von Natur zum Glück hinstrebt»
[17]. Er schreibt dieses allgemeine Glücksverlangen dem «appetitus» zu, den er vom Willen unterscheidet
[18],
Wilhelm von Auxerre dem «Naturwillen»
[19]. Die Aussage
Augustins, daß der Begriff des Guten uns eingeprägt sei
[20], ergänzt
Wilhelm durch «naturaliter» und folgert: «... also auch das Streben nach dem Guten: also ist uns von Natur aus am meisten das Streben nach dem ersten und höchsten Guten eingeprägt: also erstreben wir von Natur aus das höchste Gute ...»
[21]. Natur, augustinisch verstanden, schließt die Ausrichtung des Menschen auf Gott ein und wird durch die Gnade, die
wirksam auf dasselbe Ziel hinordnet, vollendet
[22]. Auch der erste Satz der ‹Metaphysik›, den Wilhelm ohne Quellenangabe zitiert, taucht im augustinischen Zusammenhang der Neugierde auf
[23], führt aber in einer ausführlichen Diskussion zu einer Rechtfertigung des Strebens nach Wissen um seiner selbst willen als der natürlichen Tendenz des Intellekts
[24], «weil die Natur der Gnade nicht widerspricht, sondern der Weg zu ihr ist»
[25]. Wilhelm scheint das Wissensverlangen als Verlangen der Seele bzw. des Intellekts nach Erfüllung zu verstehen, also als eine Weise des Glücksverlangens, ohne den augustinischen und den aristotelischen Ansatz ausdrücklich zu vermitteln.
Hugo von St. Cher führt in seinem Sentenzenkommentar die an Augustinus anknüpfende Überlegung Wilhelms weiter, wie Menschen das Glück anstreben können, ohne die Gottesschau anzustreben, in der das Glück besteht: «In derselben Weise nämlich, in der sie das Glück erstreben, erstreben sie die Erkenntnis, d.h. schlechthin, nicht auf persönliche Weise»
[26], was ein anonymer Sentenzenkommentar ergänzt: «... schlechthin, d.h. von Natur»
[27]. Das dem Motiv des Glücksstrebens untergeordnete Motiv des Wissensverlangens muß nun eigens herausgehoben werden.
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Michael von Ephesus, In Eth. Nic. X, 8, hg. Heylbut (1892) 599, 6. 10; vgl. Cicero, De nat. deorum II, 45 (115). 61 (153); Epiktet, Diss. I, 21, 2. |
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Epikur, Ep. ad Menoeceam 127, 7; vgl. Ratae Sententiae 29. |
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Cicero, De fin. II, 9 (26f.); vgl. I, 13 (45) f. |
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De fin. IV, 14 (39). 13 (32); vgl. Kleanthes, SVF I, 566; Philo, Abr. 275; Musonius bei Stob., Ed. II, 31, 126; Augustin, Ep. 118, 3 (12). Corp. scriptorum eccl. lat. (= CSEL) 34, II, 678, 11; Ps.-Alexander, In Met. XI 7, S. 660, 17ff. |
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Eusebius, In Ps. 1, 1. MPG 23, 76 c. |
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Basilius, Homil. in Ps. 1, 3. MPG 29, 216 b; zit. von Albert dem Grossen, Sent. 4, d. 49, a. 7 sol.; vgl. Regulae fus. tractat. 2. MPG 31, 912 a; Homil. in martyrem Julittam. MPG 31, 256 a; De spiritu sancto IX, 22. MPG 32, 10 b. |
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Homil. in Ps. 44, 2. MPG 29, 392 a; vgl. In Ps. 114, 7. MPG 29, 484 c. |
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Augustin, De trin. XIII, 4 (7). MPL 42, 1019; vgl. M. Testard: St. Augustin et Cicéron 2: Répertoire des textes (Paris 1958) 131. |
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Seneca, De vita beata 1, 1. |
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Chalcidii Comm. in Tim. 165, hg. Waszink (London/Leiden 1962) 196, 18ff. |
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Gregor von Nyssa, De beatitudinibus or. V. MPG 44, 1249 c. |
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Vgl. Augustin, Enarr. in Ps. 32 n. 15. MPL 36, 293; In Ps. 118 sermo 1 nr. 1. MPL 37, 1502; Ep. 130, 4 (9). CSEL 44, 50, 11ff.; Opus imperf. c. Julianum VI, 11. MPL 45, 1521; bes. De trin. XIII, cc. 3–5. 8. MPL 42, 1018–1020. 1022. |
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Vgl. Augustin, De civ. Dei XII, 1, 3. MPL 41, 349f.; De trin. VIII, 3 (5). MPL 42, 950; XIII, 20 (25). MPL 42, 1034. |
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Boethius, Consol. III, 2, 20. |
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Honorius von Autun, De libero arbitrio c. 6. MPL 172, 1226 a. |
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Petrus Lombardus, Sent. 4, d. 49, c. 1. Ed. Quaracchi 2, 1028. |
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Stephan Langton, Quaestiones, zit. nach New Scholast. 3 (1929) 144. |
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Vgl. L. B. Gillon: Béatitude et désir de voir Dieu au MA. Angelicum (Rom) 26 (1949) 13. |
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Wilhelm von Auxerre, S. aurea, hg. Pigouchet (Paris 1500) III, tr. 20, q. 3, f. 222 rb va. |
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Augustin, De trin. VIII 3 (4). MPL 42, 949. |
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W. von Auxerre, a.a.O. q. 1, f. 221 va; vgl. tr. 7, c. 1, q. 4, f. 154 vb. |
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a.a.O. II, tr. 14, q. 2, f. 69 rb; vgl. III, tr. 7, c. 1, q. 3, f. 154 rb va; vgl. R. Guindon: Béatitude et théol. morale chez S. Thomas d'Aquin. Origines-Interprét. (Ottawa 1956) 50f. |
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Augustin, De lib. arb. II, 19 (53). MPL 32, 1269; vgl. De vera relig. 52 (101). MPL 34, 167. |
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W. von Auxerre, S. aurea II, tr. 19, c. 1, q. 2, f. 75. |
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a.a.O. III, tr. 20, q. 1, f. 222v a. |
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zit. nach Gillon, Béatitude et désir ... a.a.O. [18] 18. |
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E. Gilson: Introduction à l'étude de S. Augustin (Paris
1949). – L. B. Gillon s. Anm. [18] 3–30. 115–142. – R. Guindon s. Anm. [22]. – M. Testard s. Anm. [8]. – H. Dehnhard: Das Problem der Abhängigkeit des Basilius von Plotin. Quellenuntersuch. zu seinen Schriften De spiritu sancto (1964).