Dezision, Dezisionismus. Lateinisch ‹decisio› (decidere = abschneiden) bezeichnet als juristischer Terminus die rechtsverbindliche Entscheidung eines Streitfalles durch Gesetz oder Richterspruch (Quinquaginta decisiones = eine Sammlung von Konstitutionen Justinians, durch die bei den Kodifikationsarbeiten aufgetretene rechtswissenschaftliche
Zweifelsfragen gesetzlich geregelt wurden; Decisiones Rotae Romanae = Urteile des päpstlichen Gerichts Sancta Romana Rota). Daher englisch ‹decision› und französisch ‹décision› = Beschluß, Urteil, Bescheid.
Das in der deutschen Rechtssprache ungebräuchliche Wort ‹Dezision› (D.) führte
C. Schmitt[1] ein, um gegenüber dem juristischen Positivismus und dessen Dogma der Lückenlosigkeit der Rechtsordnung, d.h. der Behauptung der Möglichkeit, mit den juristischen Erkenntnismitteln jede notwendige Rechtsentscheidung aus dem vorhandenen Rechtsstoff zu deduzieren, das auch für jeden individuellen Rechtsverwirklichungsakt konstitutive, normativ nicht ableitbare voluntative Entscheidungsmoment herauszuheben: «Jede konkrete juristische Entscheidung enthält ein Moment inhaltlicher Indifferenz, weil der juristische Schluß nicht bis zum letzten Rest aus seinen Prämissen ableitbar ist ... Von dem Inhalt der zugrundeliegenden Norm aus betrachtet ist jenes konstitutive, spezifische Entscheidungsmoment etwas Neues und Fremdes. Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren. Die rechtliche Kraft der D. ist etwas anderes als das Resultat der Begründung»
[2]. In «absoluter Reinheit» zeige sich die D. als «spezifisch-juristisches Formelement» im
Ausnahmefall, wenn mittels souveräner Entscheidung «erst die Situation geschaffen werden muß, in der Rechtssätze gelten können», nämlich: Ordnung im Sinn «faktischer Normalität»
[3]. In dieser Steigerung sprengt der D.-Begriff den Begriff der Rechts-Ordnung auf, und tritt das Bedeutungselement normativ nicht informierter, bloß entschlossener
Aktion in den Vordergrund. Als ‹Dezisionismus› (Dms.) oder ‹Entscheidungsdenken› bezeichnet Schmitt im Unterschied zum Normativismus oder Gesetzesdenken diejenige Denkart, in der als «die letzte, rechtswissenschaftlich gefaßte Vorstellung» nicht eine Norm, sondern eine D. erscheint
[4]. So spricht er vom Dms.
Hobbes' («Autoritas, non veritas facit legem») und der Gegenrevolutionäre
De Maistre und
Donoso Cortés, sofern diese den Staat nach dem Wegfall der monarchischen Legitimität im tradierten Sinne «auf eine reine, nicht räsonierende und nicht diskutierende, sich nicht rechtfertigende, also aus dem Nichts geschaffene absolute Entscheidung» reduzieren
[5]. Später hat Schmitt den Gegensatz von Dms. und Normativismus durch die Konfrontation mit seiner Neuentdeckung des «konkreten Ordnungsdenkens» relativiert und den juristischen Positivismus als Verbindung der nunmehr als komplementäre Größen gedeuteten Denkweisen von Normativismus und Dms. verstanden
[6].
Vor allem im Hinblick auf Schmitts Souveränitätslehre («Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet»), seinen Verfassungsbegriff («Verfassung als Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit») und seinen Begriff des Politischen («Freund-Feind-Entscheidung») wurde Dms. dann zur kritischen Formel für Schmitts eigene, das Daß der Entscheidung über das Wie erhebenden Denkweise. So apostrophierte
H. Heller Schmitts «konstitutionelles Unverständnis für das normative Element der Staatsverfassung»
[7].
In seiner Analyse des Schmittschen Begriffs des Politischen prägte
K. Löwith[8] den Dms.-Begriff zur geistesgeschichtlichen Kategorie, die alle durch das «Pathos der Entscheidung für die nackte Entschiedenheit» gekennzeichneten, radikal auf einen äußersten Punkt ausgehenden Überlieferungsdestruktionen, also neben dem politischen Dms. auch den philosophischen
in der «Philosophie der entschlossenen Existenz» und den theologischen in der dialektischen Theologie erfaßt. Mit stärkerer Betonung der gesellschaftlichen Situationsbedingtheit begreift
Ch. Graf v.
Krockow unter Dms. die Formalisierung und Verabsolutierung der Entscheidung, des Kampfes bzw. der Entschlossenheit bei
Schmitt,
Heidegger und
E. Jünger[9]. Auf dieser Linie dient der Dms.-Begriff vornehmlich zur Bezeichnung eines Entscheidung und unmittelbare Aktion zum Prinzip erhebenden Radikalismus als eines spezifisch deutschen Phänomens auf dem «Weg in die Diktatur»
[10]. Wieder stärker auf den Ansatz zu der Begriffsbildung bei Schmitt führt die Verwendung bei
J. Habermas zurück, der unter wissenschaftstheoretischem Gesichtspunkt in dem durch die These, «daß lebenspraktisch relevante Entscheidungen ... durch wissenschaftliche Reflexion niemals ersetzt oder auch nur rationalisiert werden können», charakterisierten Dms. eine zwangsläufig auftretende Komplementärerscheinung zu einer positivistisch beschränkten Wissenschaft sieht
[11]. Ohne diesen negativen Akzent nennt
H. Lübbe eine Entscheidung dann ‹D.›, «wenn sie in einer Situation unter Zeitdruck und entsprechendem Handlungszwang fällt, bevor noch die ‹Gründe›, das heißt Zweck-Mittel-Relationskenntnisse beieinander waren, die sie im materiellen Sinne zur ‹richtigen›, erfolgssicheren Entscheidung hätten machen können», und er begreift
Kants «Primat der praktischen Vernunft» als «moralisch-praktischen Dms.», insofern der Mensch die Praxis nie total systematisieren und theoretisch bewältigen kann und deshalb «in der existenziellen Notsituation der Ungewißheit und Unsicherheit des Weges zum Ziel des höchsten Gutes» zur dezisionistischen Unterwerfung unter die formale moralische Forderung der Gemeinverträglichkeit seiner Handlungen gezwungen ist
[12].