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Geisteswissenschaften

Geisteswissenschaften 1224 10.24894/HWPh.1224 Alwin Diemer
Disziplinen und Fächer moral science moralische Wissenschaft3 211 Wissenschaft, moralische3 211 Pneumatologie3 211 Geisterlehre3 211 Weltweisheit3 211 Methode, geisteswissenschaftliche3 211 Geistesleben3 212 humanities3 212 human studies3 212 science de l'humanité3 212 sciences physiques3 213 sciences humaines3 213 scienze dello spirito3 213 historische Wissenschaften3 213f Wissenschaften, historische3 213f Geschichte3 213f scientia civilis3 214 scientia politica3 214 scientia socialis3 214
Geisteswissenschaften. Das Wort ‹G.› und der mit ihm bezeichnete Komplex von Aktivitäten, Produkten, Disziplinen usw., die als Wissenschaften verstanden und auch bezeichnet werden, können als eine spezifische Manifestation deutscher traditioneller Philosophie und deutschen traditionellen Wissenschaftverständnisses angesehen werden.
1. Das Wort (Geisteswissenschaft) bzw. sein Plural ‹G.› ist nicht, wie meist im Anschluß an Dilthey und Rothacker behauptet wird, von Schiele in seiner Übersetzung der ‹Logik› J. St. Mills als Übertragung des englischen Terminus ‹moral science› zum ersten Male geprägt worden. Es wird vorher schon in verschiedener Bedeutung verwendet; umgekehrt bringt die zweite deutsche Übersetzung von Mills ‹Logik› wieder die wörtliche Wiedergabe ‹moralische Wissenschaft›.
Wann ‹G.› zum ersten Male aufkommt, ist nicht klar. Ein erster Beleg, der bisher noch nicht überholt ist, findet sich in der 1787 erschienenen Schrift ‹Wer sind die Aufklärer?› eines Anonymus: «Wenn sage ich, Geistliche, die doch in der Gottesgelehrtheit und Geisteswissenschaft sorgfältigst sind unterrichtet worden ...» [1]. Es liegt auf der Hand, daß hierbei im Hintergrundder Begriff der «Pneumatologie oder Geisterlehre» (Feder[2]) steht; sie macht etwa nach Gottsched einen Teil der «Weltweisheit» aus, die sich in «Vernunftlehre, Grundlehre, die Naturlehre, die Geisterlehre, die natürliche Rechtslehre, die Sittenlehre und die Staatslehre» gliedert [3]. In der Folgezeit begegnet der Begriff der G. immer wieder: Nach F. van Calker soll er als Synonym für ‹Philosophie› verwendet werden [4], und so findet er sich auch schon um 1800 in einem aus dem Nachlaß von Fr. Schlegel herausgegebenen Manuskript [5]. Dem heutigen Sinne kommt es schon näher, wenn W. J. A. Werber in seinem Buch ‹Der Parallelismus zwischen Natur und Kultur. Ein System der Natur- und Geistphilosophie› 1824 von «Oken und Troxler – diesen mächtigen Säulen der Natur- und G.» spricht [6]. Ganz klar unterscheidet dann – und das dürfte wohl die erste, dem heutigen Bedeutungssinn entsprechende Verwendung sein – der sonst unbekannte E. A. E. Calinich 1847 zwischen der «naturwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen Methode» [7].
Eine Ausbreitung des Terminus läßt sich erst seit Ende des 19. Jh. feststellen. Initiierend mag hierfür Diltheys: ‹Einleitung in die G.› (1883) gewesen sein; sie soll als «Erfahrungswissenschaft der geistigen Erscheinungen» bzw. als «Wissenschaft der geistigen Welt», gewissermaßen in der Empirisierung einer ursprünglich konzipierten «Kritik der historischen Vernunft» begründet werden. Zwar finden sich um 1900 auch andere Bezeichnungen. Doch der zunehmende Einfluß des neuidealistischen und neuhegelschen Denkens in Deutschland läßt den lebensphilosophisch verstandenen Geistbegriff zum Zentralbegriff der Philosophie werden. Geist verwirklicht sich im «Geistesleben» einer Gruppe, eines Volkes, einer Kultur, sei es – im Sinne Hegels – im subjektiven Geist, sei es im objektiven Geist, in der Gesellschaft oder in der lebensphilosophisch-völkisch verstandenen Gemeinschaft, oder in der geschaffenen Kultur und ihren Werken (N. Hartmann). Vertreter dieser Richtung, wie E. Spranger, Th. Litt, O. F. Bollnow, beziehen den Begriff dann auch in den pädagogischen Raum ein; vor allem die Pädagogik des höheren Schulwesens und der Universität wird dadurch stark bestimmt [8]. Das führt dahin, daß das deutsche philosophische und vor allem wissenschaftstheoretische Denken sich in starkem Maße an den G. orientiert. Die «wissenschaftlich-technische» Welt und ihre Entwicklung können als «gefährlich» und als technisch-mechanistisch-positivistisches «westliches» Denken dem organismisch-völkischlebendigen «deutschen» Denken als fremd gegenüber gestellt werden. In der Zeit nach 1945 wird vor allem in der marxistischen Philosophie der Ausdruck ‹G.› so gut wie ganz durch ‹Sozial-› oder ‹Gesellschaftswissenschaften› ersetzt, die neben den Naturwissenschaften und technischen Wissenschaften das System der Wissenschaften ausmachen. Andererseits hält sich die deutsche idealistische Tradition in der Weiterverwendung des Wortes ‹G.› und der mit ihr verbundenen Konzeption der Wissenschaft. Dabei entwickelt sich in Auseinandersetzung mit dem positivistisch-pragmatisch-analytischen Denken auf der einen Seite ein «hermeneutisch-geisteswissenschaftliches», auf der anderen ein «analytisch-positivistisches» Denken. Diese Trennung geht vielfach durch die einzelnen G. hindurch, so in der Pädagogik, vor allem aber in der Soziologie; Beispiel ist der «Positivismusstreit in der deutschen Soziologie»
Eine Bestätigung dafür, wie sehr ‹G.› auf dem Boden der deutschen Geistesphilosophie gewachsen und aus ihm hervorgegangen sind, ist die Schwierigkeit, das Wort angemessen in andere Sprachen zu übersetzen.
Dem deutschen Begriff scheint zunächst im EnglischenA. Stewarts ‹Elements of the philosophy of human mind› (1792ff.) zu entsprechen; doch ergibt sich aus der deutschen Übersetzung von S. W. Lange: ‹Anfangsgründe der Philosophie über die menschliche Seele› (1794) der andere Sinn. Die üblichen Analoga ‹humanities› und ‹(liberal) arts› zeigen sodann, daß die Beschäftigung und Befassung mit diesem Bereich weniger eine Wissenschaft bzw. einen Wissenschaftskomplex ausmachen, als daß es sich hier mehr um Bildungselemente handelt. Als bezeichnend können so Hodges' Worte in seinem Diltheybuch gelten: «There is no generally accepted English name for them, but I have called them the ‹human studies›» [9].
Im französischen Raum findet sich bei E. Renan eine eindeutige Zuordnungsübersetzung: er stellt einerseits die «science de l'humanité» den «sciences de la nature» gegenüber und meint andererseits: «La science de l'esprit humain doit surtout être l'histoire de l'esprit humain, et cette histoire n'est possible que par l'étude patiente et philologique des œuvres qu'il a produit à ses différents âges» [10]. Damit leitet er zur nächsten Bezeichnung über, und so heißt es entsprechend: «Deux voies, qui n'en font qu'une mènent à la connaissance directe et pragmatique des choses; pour le monde physique, ce sont les sciences physiques; pour le monde intellectuel, c'est la science des faits de l'esprit. Or, à cette science je ne trouve d'autre nom que celui de philologie» [11]. Sie wird so eine «science des produits de l'esprit humain». Heute ist das französische Analogon so gut wie ausschließlich «sciences humaines».
Eine wörtliche Übersetzung, die vor allem das Hegelsche Moment des objektiv-objektivierten Geistes miteinschließt, findet sich in der italienischen Philosophie – wohl unter dem Einfluß von B. Croces ‹Filosofia dello spirito› – und in der spanischen Philosophie.
Bezeichnend sind die verschiedenen Übersetzungen für den Titel von Diltheys ‹Einleitung in die G.›: ‹Introduction à l'étude des sciences humaines› (L. Sauzin 1942); ‹Introduzione alle scienze dello spirito› (O. Bianco 1949); ‹Introducción a las ciencias del espiritu› (J. Marias 1956).
2. ‹G.› ist eine späte Wortbildung; in sie geht über die in ihr lebendig fortwirkenden Traditionen des deutschen Idealismus ein breit gefächertes Spektrum alter und neuerer Wissenschaften und Wissenschaftsrichtungen mittelbar und unmittelbar ein und wird in ihr auf gehoben; es läßt sich durch folgende Felder etwa um reißen:
a) die wohl ältesten Bezeichnungen leiten sich von der Ethik (Moral) als einer der drei klassischen Stammdisziplinen der Philosophie ab.
b) Fast ebenso alt sind die Namen, die sich von den griechischen und lateinischen Äquivalenten für ‹Mensch› herleiten: Anthropinon bzw. Humanum (Humanitas).
c) Spezifischer sind die Namen, die sich vom Wesenselement des Menschen, seinem Geist, bestimmen lassen. Allerdings wird in der Geschichte nur die Wortgruppe, die von griechisch ‹Pneuma› ausgeht, von Bedeutung.
d) Im engen Zusammenhang damit steht die Wortgruppe der Philologie, deren Zentrum die Vieldeutigkeit des Wortes ‹Logos› als Geist, Gedanke (Begriff) und Rede ausmacht. Damit verbunden ist der Hermeneutikkomplex.
e) Eine weitere Differenzierung führt zu dem Feld, das als Vorstufe der G. die «schönen Wissenschaften» des 18. Jh. bezeichnet.
f) Einen umfassenderen Aspekt bringen die Kulturbezeichnungen.
g) In engem Zusammenhang damit stehen zwei weitere Bezeichnungsfelder, und zwar 1. das der Wertwissenschaften, von dem 2. als weiteres Feld die sich am Sinn orientierende Wissenschaft unterschieden werden kann.
h) Die Bezeichnung und Bestimmung der G. als Geschichte und historische Wissenschaften versteht sich grundsätzlich aus der Antiposition zu den Naturwissenschaften. Dabei werden diese primär als Wissenschaften genommen und bedingen ein entsprechendes Vorverständnis von Geschichte, das in die Abgrenzung der G. von den Naturwissenschaften unmittelbar eingeht.
i) Während alle diese Bestimmungen am Menschen und seiner Geschichte orientiert sind, bilden Gesellschaft und Gemeinschaften den ältesten Horizont der G.; sie gewinnen für sie in der Gegenwart zunehmende Bedeutung.
3. Die für die Konzeption der G. so wichtige Unterscheidung zwischen Naturwissenschaften und G., in die Vorstellungen aus dem deutschen Idealismus hineinwirken, läßt sich zusammenfassend an folgendem Modell illustrieren:
Die beiden Antithesen bzw. Polaritäten (↔) werden so miteinander verbunden, daß Natur und Wissenschaften einerseits, Geist und Geschichte andererseits eine Einheit (–) bilden. Das bedingt, daß zunächst in die Konzeption der Naturwissenschaft alle bisherigen Wissenschaftscharaktere und -postulate eingehen; sie wird zur ‹science› der englischen wie der französischen Sprache. Sie geht auf das Allgemeine, auf Gesetze usw. Ihr Vorgehen ist nomothetisch; ihre Aufgabe das Erklären. Demgegenüber beziehen sich die G. als historische Wissenschaften auf das (menschliche) Individuelle, das Einmalige und Unüberholbare als das «Geschichtliche», das sie «verstehen». Fast pathetisch erklärt Renan: «L'histoire est la forme nécessaire de la science de tout ce qui est dans le devenir. La science des langues, c'est l'histoire des langues; la science des littératures et des religions, c'est l'histoire des littératures et des religions. La science de l'esprit humain, c'est l'histoire de l'esprit humain» [12]. Ihre Methodik ist idio-graphisch. Hieraus erwächst sekundär die für die Folgezeit entscheidende – fatale – Antithetik der beiden Wissenschaftstypen, die sich als Verstehen und Erklären entgegensetzen [13].
4. Von besonderer Bedeutung ist schließlich die Bezeichnung der G. nach ihrem sozialen Aspekt, zu deren Tradition ihre Charakterisierung als ethisch-moralische Wissenschaften gehört. War im Griechischen das Soziale immer schon in das Ethische impliziert, so erfolgt eine Differenzierung vor allem seit der lateinischen Bezeichnung; sie setzt sich in den englischen, französischen, italienischen und nicht zuletzt auch in den deutschen Bezeichnungen fort.
Im Lateinischen stehen am Anfang drei Bezeichnungsgruppen: scientia civilis – scientia politica – scientia socialis; vielfach wird dabei noch zwischen scientia und historia unterschieden. – Die Rede von der scientia civilis hat eine lange Geschichte, die von Cicero über Cassiodor, Fr. Bacon (der zwischen scientia und historia civilis unterscheidet), Vico (der dem «mondo naturale» den «mondo civile» gegenübergestellt), bis zur französischen Enzyklopädie mit Beiträgen vor allem d'Alemberts reicht.
Das lebt in der Klasse der «sciences morales et politiques» der französischen Akademie und ebenso in unmittelbarer Beziehung zu den G. in Diltheys Rede von den «moralischen-politischen Wissenschaften» fort. – Auch die scientia socialis hat sich immer als Gegensatz zur Naturwissenschaft verstanden, sei es im Hinblick auf den Gegenstand, sei es vor allem im Hinblick auf die verschiedenen Methoden. In diesem Sinne klagt 1859 der Verfasser einer der ersten Darstellungen von Comtes Lehre: «In den Naturwissenschaften ist die positive Methode zur vollen Herrschaft gelangt, in den moralischen und sozialen Wissenschaften gilt es erst ihre Durchführung. Hier haben die theologischen und metaphysischen Doctrinen noch ihr Ansehen in weitem Umfange und namentlich in den allgemeinsten leitenden Grundsätzen behauptet» – eine Feststellung, die auch heute noch gilt.
So kommt es, daß die G. in der Nachkriegszeit mehr und mehr als Sozialwissenschaften konzipiert und bezeichnet werden. Dies gilt einmal für den Bereich marxistischen Denkens, ebenso aber auch für die englisch-amerikanische Philosophie. Hier wird entweder der Gesamtkomplex der G. von vornherein als ‹Social Sciences› bezeichnet, oder die Humanities werden durch Reduktion auf sie zurückgeführt. Dabei können die Social Sciences wiederum als Behavioral Sciences verstanden und aufgebaut werden.
[1]
Vgl. A. Diemer: Die Differenzierung der Wiss. in Natur- und G ...., in: Stud. zur Wissenschaftstheorie 1 (1968); Die Trias Beschreiben, Erklären, Verstehen a.a.O. 6 (1971).
[2]
J. G. H. Feder: Logik und Met. (1775) 349.
[3]
J. Chr. Gottsched: Erste Gründe der gesamten Weltweisheit (1762) 101ff.
[4]
F. van Calker: Propädeutik der Philos. H. 1: Methodol. der Philos. (1821).
[5]
Vgl. E. Behler, in: Fr. Schlegel, Krit. A. 18 (1963) XXVIII.
[6]
a.a.O. XI.
[7]
E. A. E. Calinich: Philos. Propädeutik für Gymnasien, Real schulen und höhere Bildungsanstalten sowie zum Selbstunterricht (1847).
[8]
Vgl. z.B. E. Spranger: Der gegenwärtige Stand der G. und die Schule (21925).
[9]
Vgl. Mind. A quarterly rev. of psychol. and philos. (London 1876ff.).
[10]
E. Renan: L'avenir de la sci. (1848/90). Oeuvres, hg. Psichari (Paris 1949) 3, 713f.
[11]
ebda.
[12]
ebda.
[13]
Für Einzelheiten vgl. Diemer, a.a.O. [1].