(griech.
γνῶσις, Erkenntnis)
I. Der Begriff
γνῶσις (G.) hat seinen festen Ort in der Erkenntnislehre
Platons[1]. Er steht neben der
ἀλήθεια (Wahrheit). Beide werden von der Idee des Guten bestimmt
[2]. Die G. bezieht sich auf das wahrhaft Seiende
[3]. – Außer dieser absoluten Bedeutung hat G. bei Platon auch den Sinn von
ἐπιστήμη (Wissenschaft). Sie ist Voraussetzung für rechtes Handeln. – Dank der großen Reichweite der platonischen Philosophie hat sein Verständnis der G. jahrhundertelang gewirkt. Während dieser Zeit hat es jedoch manche inhaltlichen Veränderungen erfahren.
Platons Einfluß ist in der gesamten Mittelmeerwelt festzustellen. So verbinden sich seine Gedanken auch mit orientalischen Anschauungen. Dieser Vorgang ist schon früh in Ägypten nachzuweisen. In der dort entstandenen
griechischen Übersetzung des Alten Testamentes, der
Septuaginta (LXX), kommt der Begriff ‹G.› besonders in der Weisheitsliteratur vor. Auch hier hat G. eine doppelte Bedeutung: teils hat sie den Sinn der Kenntnis des Lebens und seiner Gegebenheiten
[4], teils den der Erkenntnis Gottes
[5], die dem Menschen durch die Ewige Weisheit zuteil wird
[6].
Ähnlich wie in der LXX bedeutet G. bei
Philon[7] die Erkenntnis Gottes, die als Ziel des menschlichen Lebensweges gedeutet wird:
τέρμα τῆς ὁδοῦ, γνῶσις καὶ ἐπιστήμη θεοῦ (Ziel des Weges, Erkenntnis und Wissen von Gott). Im Verständnis der hellenistischen Zeit ist ‹G.› immer ein religiöser Begriff. Wenn das
Neue Testament mit ‹G.› Erkenntnis, Verständnis, Einsicht meint, dann bezieht sich diese Erkenntnis auf die Heilswahrheit. In den apostolischen Sendschreiben klingt das Verständnis der hellenistischen Zeit überall nach.
Paulus spricht in bezug auf das Gesetz von G. und
ἀλήθεια[8], aber er bezieht die G. auch unmittelbar auf Gott
[9]. Die
γνῶσις θεοῦ (Erkenntnis Gottes) ist eine besondere Gabe
[10], die auf die Höhe des Erkennens führt und der Erleuchtung gleichkommt
[11]. Dagegen vermag die menschliche, stolzmachende G. nicht anzukommen
[12].
Das neutestamentliche Verständnis der G. setzt sich in den Schriften der
Apostolischen Väter fort. Die Didache bezeichnet alles, was Jesus gebracht hat, als
γνῶσις καὶ ζωή (Erkenntnis und Leben), d.h. als vollkommene Erkenntnis
[13]. Weiterhin weist die Didache darauf hin, daß die G. durch das Abendmahl gestärkt wird
[14]. Auch
Barnabas spricht von einer
τελεία γνῶσις (vollendete Erkenntnis)
[15]. Auf diese Kreise wirkt aber bereits die
ψευδώνυμος γνῶσις (betrügerische Erkenntnis) ein
[16].
Diejenigen, die sich jetzt als ‹
Gnostiker› bezeichnen, haben ein anderes Verständnis von G. als die alte Philosophie, aber auch als die christlichen Denker. Für den Gnostiker
Simon ist G. keine intellektuelle Erkenntnis, sondern eine plötzliche Wahrnehmung
[17]. Trotz gewisser Entlehnungen aus der Philosophie geht es hier um eine mystische Schau. Da der Begriff ‹G.› nicht immer der gleiche ist, wird auch die Frage, wie man zur G. kommt, unterschiedlich beantwortet. Häufig wird sie nur mit der via negationis beantwortet. Für den Gnostiker ist meist der Augenblick, in dem er den Ruf vernimmt, zugleich die Eröffnung neuer Erkenntnis. Er bedeutet daher auch Erlösung, Befreiung des Ich aus den Fesseln der Welt. Der geistige Mensch wird durch die Erkenntnis erlöst
[18]. Wie
Irenäus weiter berichtet, lehren alle gnostischen Schulen, daß sie den pneumatischen Menschen durch die G. zur Vollendung bringen. Was für den Psychiker der Glaube bedeutet, ist für den Pneumatiker die G.
[19]. Nach
Tertullian behandeln die Philosophen und die Gnostiker dieselben Fragen: «Unde malum, unde homo, unde deus?»
[20] Die G. will Antwort geben auf alle Fragen des suchenden Menschen. Was sie über Gott und die Welt aussagt, kleidet sie in ein philosophisches Gewand. Sie will religiöse Erkenntnis vermitteln, die als solche den Menschen erlöst.
Valentin nennt daher die G. ein Erfahren und Schmecken des Geistes
[21]. Er meint damit ein intuitives Erfassen religiöser Wahrheiten. Einzelne Schulen der Gnostiker übten strenge Arkandisziplin. Jedes Mitglied mußte sich verpflichten, das ihm anvertraute Unaussprechliche (
ἐπιῤῥήματα τῶν μυστηρίων; das Zugesprochene der Mysterien) treu zu bewahren und über die Lehre im einzelnen zu schweigen. Einige der gnostischen
Vereinigungen hatten ihre eigenen kultischen Riten. Geheime Traditionen, die oft auf Jesus und die Apostel zurückgeführt wurden, spielten eine große Rolle. Die Einführung erfolgte durch symbolische Handlungen, die große Verwandtschaft mit christlichen Bräuchen zeigten. Vielfach wird auf dem Boden der G. die spätere christliche Entwicklung vorausgenommen.
Hatten schon die kirchlichen Schriftsteller des 2. Jh. wie
Hegesipp, Justin und
Irenäus der «betrügerischen» eine «echte» G. entgegengestellt, so geschieht dies im Vollmaß durch
Clemens Alexandrinus. In seiner G. vermischen sich philosophische und mythologische Traditionen. Durch die
παράδοσις (Weitergabe) wird demjenigen, der ihr Glauben schenkt, Wissen vermittelt, wodurch er göttliche Natur und Unsterblichkeit erhält. Die G. verleiht ihm Kraft, Licht und Leben
[22]. Clemens will keine Trennung von
πίστις (Glaube) und Erkenntnis. Die G. ist für ihn die allgemeine Grundlage, denn sie führt alle zur Erkenntnis Gottes
[23]. Der Behauptung der Gnostiker, daß die G. allein schon Erlösung bedeute, widerspricht Clemens mit Nachdruck. Glaube und G. seien miteinander verbunden. Daher nennt er die G. auch
πίστις ἐπιστημονική (wissender Glaube)
[24]. Die G. ist ein Beweis der wahren philosophischen Überlieferung. Diese christliche G. hat sich nach der kirchlichen Norm zu richten, denn
ἐν μόνῃ τῇ ἀληθείᾳ καὶ ἀρχαίᾳ ἐκκλησίᾳ ἡ τε ἀκριβεστάτη γνῶσις (allein in der Wahrheit und in der ursprünglichen Kirche [ist] die sicherste Erkenntnis)
[25].
Origenes[26] berichtet, daß «mehrere Gelehrte in die Wahrheiten des Christentums tiefer einzudringen sich bestrebten», wobei sie zur G. gekommen seien. Mit der allegorischen Umdeutung des Alten Testamentes gelangen philosophische Elemente in ihr Denken. Der Glaube sollte durch Erkenntnis zur Vollendung kommen. Die G. ließ alles zu, indem sie es in ihrer Weise verwandelte. Im allgemeinen steht Origenes auf demselben Standpunkt wie Irenäus und Clemens Alexandrinus. G. ist für sie Offenbarungsphilosophie. Wie schon Clemens sagte
[27], hat die G. die Aufgabe, die Menschen über den Irrtum hinauszuführen. Er bezeichnet sie als
θεωρία ἐπιστημονική (wissende Schau), als den Weg zu Gott
[28].
Diese Gedanken klingen bisweilen bei den späteren Kirchenvätern noch an, so bei
Gregor von Nazianz[29],
Theodoret[30] und
Johannes Chrysostomos[31]. Große selbständige Bedeutung erlangt die G. in diesem Zeitalter jedoch nicht mehr.
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Resp. 5, 476; Apol. 27; Phaidr. 116. |
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Philon, Quod deus immut. 148. |
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Ps.-Clem. Recogn. III, 35, 7. |
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Irenäus: Adv. haer. 1, 21, 4. |
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Tertullian: De praescr. haer. 7. |
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Clemens Alex., Strom. VI, 7, 61. |
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Origenes, Contra Celsus 3, 12. |
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Clem. Alex., Strom. VII, 16, 94. |
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Gregor von Nazianz: Orat. 29. |
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Joh. Chrysostomos, Cor. II hom. 5. |
H. Jonas: Der Begriff der G. (1930); G. und spätantiker Geist (
31964). – B. Snell: Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplat. Philos. Philos. Untersuch. 29 (1934). – G. Quispel: G. als Weltrelig. (1951). – H. Leisegang: Die G. (
41955). – W. Foerster: Das Wesen der G. Die Welt als Gesch. 15 (1955) 100–114. – R. Haardt: Die G. Wesen und Zeugnisse (1967). – W. Foerster: Die G. 1 (1969). – K. Rudolph: G. und Gnostizismus. Ein Forschungsbericht. Theol. Rdsch. NF 34 (1969) 121–231.