Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Gnosis

Gnosis Religionswissenschaft und Religionsphilosophie Schulen, Strömungen und Positionen 5162 10.24894/HWPh.5162Robert Stupperich RedaktionGeorg Behse
(griech. γνῶσις, Erkenntnis)
I. Der Begriff γνῶσις (G.) hat seinen festen Ort in der Erkenntnislehre Platons[1]. Er steht neben der ἀλήθεια (Wahrheit). Beide werden von der Idee des Guten bestimmt [2]. Die G. bezieht sich auf das wahrhaft Seiende [3]. – Außer dieser absoluten Bedeutung hat G. bei Platon auch den Sinn von ἐπιστήμη (Wissenschaft). Sie ist Voraussetzung für rechtes Handeln. – Dank der großen Reichweite der platonischen Philosophie hat sein Verständnis der G. jahrhundertelang gewirkt. Während dieser Zeit hat es jedoch manche inhaltlichen Veränderungen erfahren.
Platons Einfluß ist in der gesamten Mittelmeerwelt festzustellen. So verbinden sich seine Gedanken auch mit orientalischen Anschauungen. Dieser Vorgang ist schon früh in Ägypten nachzuweisen. In der dort entstandenen griechischen Übersetzung des Alten Testamentes, der Septuaginta (LXX), kommt der Begriff ‹G.› besonders in der Weisheitsliteratur vor. Auch hier hat G. eine doppelte Bedeutung: teils hat sie den Sinn der Kenntnis des Lebens und seiner Gegebenheiten [4], teils den der Erkenntnis Gottes [5], die dem Menschen durch die Ewige Weisheit zuteil wird [6].
Ähnlich wie in der LXX bedeutet G. bei Philon[7] die Erkenntnis Gottes, die als Ziel des menschlichen Lebensweges gedeutet wird: τέρμα τῆς ὁδοῦ, γνῶσις καὶ ἐπιστήμη θεοῦ (Ziel des Weges, Erkenntnis und Wissen von Gott). Im Verständnis der hellenistischen Zeit ist ‹G.› immer ein religiöser Begriff. Wenn das Neue Testament mit ‹G.› Erkenntnis, Verständnis, Einsicht meint, dann bezieht sich diese Erkenntnis auf die Heilswahrheit. In den apostolischen Sendschreiben klingt das Verständnis der hellenistischen Zeit überall nach. Paulus spricht in bezug auf das Gesetz von G. und ἀλήθεια[8], aber er bezieht die G. auch unmittelbar auf Gott [9]. Die γνῶσις θεοῦ (Erkenntnis Gottes) ist eine besondere Gabe [10], die auf die Höhe des Erkennens führt und der Erleuchtung gleichkommt [11]. Dagegen vermag die menschliche, stolzmachende G. nicht anzukommen [12].
Das neutestamentliche Verständnis der G. setzt sich in den Schriften der Apostolischen Väter fort. Die Didache bezeichnet alles, was Jesus gebracht hat, als γνῶσις καὶ ζωή (Erkenntnis und Leben), d.h. als vollkommene Erkenntnis [13]. Weiterhin weist die Didache darauf hin, daß die G. durch das Abendmahl gestärkt wird [14]. Auch Barnabas spricht von einer τελεία γνῶσις (vollendete Erkenntnis) [15]. Auf diese Kreise wirkt aber bereits die ψευδώνυμος γνῶσις (betrügerische Erkenntnis) ein [16].
Diejenigen, die sich jetzt als ‹Gnostiker› bezeichnen, haben ein anderes Verständnis von G. als die alte Philosophie, aber auch als die christlichen Denker. Für den Gnostiker Simon ist G. keine intellektuelle Erkenntnis, sondern eine plötzliche Wahrnehmung [17]. Trotz gewisser Entlehnungen aus der Philosophie geht es hier um eine mystische Schau. Da der Begriff ‹G.› nicht immer der gleiche ist, wird auch die Frage, wie man zur G. kommt, unterschiedlich beantwortet. Häufig wird sie nur mit der via negationis beantwortet. Für den Gnostiker ist meist der Augenblick, in dem er den Ruf vernimmt, zugleich die Eröffnung neuer Erkenntnis. Er bedeutet daher auch Erlösung, Befreiung des Ich aus den Fesseln der Welt. Der geistige Mensch wird durch die Erkenntnis erlöst [18]. Wie Irenäus weiter berichtet, lehren alle gnostischen Schulen, daß sie den pneumatischen Menschen durch die G. zur Vollendung bringen. Was für den Psychiker der Glaube bedeutet, ist für den Pneumatiker die G. [19]. Nach Tertullian behandeln die Philosophen und die Gnostiker dieselben Fragen: «Unde malum, unde homo, unde deus?» [20] Die G. will Antwort geben auf alle Fragen des suchenden Menschen. Was sie über Gott und die Welt aussagt, kleidet sie in ein philosophisches Gewand. Sie will religiöse Erkenntnis vermitteln, die als solche den Menschen erlöst. Valentin nennt daher die G. ein Erfahren und Schmecken des Geistes [21]. Er meint damit ein intuitives Erfassen religiöser Wahrheiten. Einzelne Schulen der Gnostiker übten strenge Arkandisziplin. Jedes Mitglied mußte sich verpflichten, das ihm anvertraute Unaussprechliche (ἐπιῤῥήματα τῶν μυστηρίων; das Zugesprochene der Mysterien) treu zu bewahren und über die Lehre im einzelnen zu schweigen. Einige der gnostischen Vereinigungen hatten ihre eigenen kultischen Riten. Geheime Traditionen, die oft auf Jesus und die Apostel zurückgeführt wurden, spielten eine große Rolle. Die Einführung erfolgte durch symbolische Handlungen, die große Verwandtschaft mit christlichen Bräuchen zeigten. Vielfach wird auf dem Boden der G. die spätere christliche Entwicklung vorausgenommen.
Hatten schon die kirchlichen Schriftsteller des 2. Jh. wie Hegesipp, Justin und Irenäus der «betrügerischen» eine «echte» G. entgegengestellt, so geschieht dies im Vollmaß durch Clemens Alexandrinus. In seiner G. vermischen sich philosophische und mythologische Traditionen. Durch die παράδοσις (Weitergabe) wird demjenigen, der ihr Glauben schenkt, Wissen vermittelt, wodurch er göttliche Natur und Unsterblichkeit erhält. Die G. verleiht ihm Kraft, Licht und Leben [22]. Clemens will keine Trennung von πίστις (Glaube) und Erkenntnis. Die G. ist für ihn die allgemeine Grundlage, denn sie führt alle zur Erkenntnis Gottes [23]. Der Behauptung der Gnostiker, daß die G. allein schon Erlösung bedeute, widerspricht Clemens mit Nachdruck. Glaube und G. seien miteinander verbunden. Daher nennt er die G. auch πίστις ἐπιστημονική (wissender Glaube) [24]. Die G. ist ein Beweis der wahren philosophischen Überlieferung. Diese christliche G. hat sich nach der kirchlichen Norm zu richten, denn ἐν μόνῃ τῇ ἀληθείᾳ καὶ ἀρχαίᾳ ἐκκλησίᾳ ἡ τε ἀκριβεστάτη γνῶσις (allein in der Wahrheit und in der ursprünglichen Kirche [ist] die sicherste Erkenntnis) [25]. Origenes[26] berichtet, daß «mehrere Gelehrte in die Wahrheiten des Christentums tiefer einzudringen sich bestrebten», wobei sie zur G. gekommen seien. Mit der allegorischen Umdeutung des Alten Testamentes gelangen philosophische Elemente in ihr Denken. Der Glaube sollte durch Erkenntnis zur Vollendung kommen. Die G. ließ alles zu, indem sie es in ihrer Weise verwandelte. Im allgemeinen steht Origenes auf demselben Standpunkt wie Irenäus und Clemens Alexandrinus. G. ist für sie Offenbarungsphilosophie. Wie schon Clemens sagte [27], hat die G. die Aufgabe, die Menschen über den Irrtum hinauszuführen. Er bezeichnet sie als θεωρία ἐπιστημονική (wissende Schau), als den Weg zu Gott [28].
Diese Gedanken klingen bisweilen bei den späteren Kirchenvätern noch an, so bei Gregor von Nazianz[29], Theodoret[30] und Johannes Chrysostomos[31]. Große selbständige Bedeutung erlangt die G. in diesem Zeitalter jedoch nicht mehr.
Robert Stupperich
[1]
Platon, Krat. 440.
[2]
Resp. 6, 508.
[3]
Resp. 5, 476; Apol. 27; Phaidr. 116.
[4]
Prov. 29, 7.
[5]
Sap. Sal. 14, 22.
[6]
Jes. Sir. 1, 24.
[7]
Philon, Quod deus immut. 148.
[8]
Röm. 2, 20.
[9]
Röm. 11, 33.
[10]
1. Kor. 12, 8.
[11]
2. Kor. 4, 6.
[12]
1. Kor. 8, 1.
[13]
Didache 9, 3.
[14]
Didache 10, 2.
[15]
Barnabas 1, 5.
[16]
1. Tim. 6, 20.
[17]
Ps.-Clem. Recogn. III, 35, 7.
[18]
Irenäus: Adv. haer. 1, 21, 4.
[19]
a.a.O. 1, 6, 2.
[20]
Tertullian: De praescr. haer. 7.
[21]
Hippolyt. Ref. 6, 36, 7.
[22]
Clemens Alex., Strom. VI, 7, 61.
[23]
Paed. I, 6, 25.
[24]
Strom. II, 11, 48.
[25]
Strom. VII, 15.
[26]
Origenes, Contra Celsus 3, 12.
[27]
Clem. Alex., Strom. VII, 16, 94.
[28]
Strom. VIII, 11, 61.
[29]
Gregor von Nazianz: Orat. 29.
[30]
Theodoret, Rom. Praef.
[31]
Joh. Chrysostomos, Cor. II hom. 5.
H. Jonas: Der Begriff der G. (1930); G. und spätantiker Geist (31964). – B. Snell: Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplat. Philos. Philos. Untersuch. 29 (1934). – G. Quispel: G. als Weltrelig. (1951). – H. Leisegang: Die G. (41955). – W. Foerster: Das Wesen der G. Die Welt als Gesch. 15 (1955) 100–114. – R. Haardt: Die G. Wesen und Zeugnisse (1967). – W. Foerster: Die G. 1 (1969). – K. Rudolph: G. und Gnostizismus. Ein Forschungsbericht. Theol. Rdsch. NF 34 (1969) 121–231.
II. Während der Begriff ‹G.› lange Zeit lediglich als Bezeichnung für eine bestimmte historische, d.h. vergangene Epoche der Religion und Theologie, also jener ‹mystischen› Spekulationen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte, die auch heute noch unter dem Namen ‹G.› bekannt sind, diente [1], konnte er seit dem Beginn des 19. Jh. auch als Interpretationskategorie für andere Formen der Religion, in denen man mit der historischen G. verwandte Elemente erkannte, verwandt werden. Bereits J. G. Fichte sieht in einem Teil der protestantischen Theologie «Gnostizismus» insofern, als sie die Offenbarungswahrheiten nicht gläubig annehmen will, sondern die Forderung aufstellt, «daß die Bibel vernünftig erklärt werden müsse». Das Prinzip, daß alle Dogmen und Aussagen der Theologie begrifflicher Prüfung unterworfen sein müssen, gilt Fichte «einmal für immer» als «Gnostizismus» [2].
Besonders F. Chr. Baur untersucht die G. nicht als eine abgeschlossene Zeit der Religionsgeschichte, sondern als ein gleichbleibendes Moment aller Metaphysik und Religionsphilosophie, soweit sie Gott und Welt, Geist und Materie, Absolutes und Endliches zu vermitteln suchen und «den ganzen Weltlauf mit allem, was er in sich begreift, als die Reihe der Momente, in welchen der absolute Geist sich selbst objectiviert und mit sich selbst vermittelt», auffassen. ‹G.› kann so jede Religionsphilosophie heißen, ja Religionsphilosophie ist G. schlechthin, insofern sich in ihr Philosophie und Theologie treffen und das Wissen sich als «absolutes oder ein seiner Vermittlung sich bewußtes Wissen» begreift. Deshalb sind in die Geschichte der G. die neueren spekulativen Religionsphilosophien, J. Böhmes Theosophie, Schellings Naturphilosophie, Schleiermachers Glaubenslehre und Hegels Religionsphilosophie einzubeziehen. Sie stehen in einem kontinuierlichen und notwendigen Entwicklungsgang, in dessen Verlauf die von der G. gestellten Fragen «immer wieder der Gegenstand einer, nach der Realisierung ihres Begriffs strebenden, Religions-Philosophie» werden [3].
K. von Hase will mit dem Begriff ‹G.› direkt an die historische Epoche der G. anknüpfen, um sein Bestreben zu kennzeichnen, die Theologie nicht als einen «auf äußere Auctorität gestellten Volksglauben», sondern, wie damals, als «wissenschaftliche Ergründung des Evangeliums» zu begründen [4].
In veränderter Situation ist dagegen für G. Koepgen nicht die logische, begriffliche Denkform das Charakteristische der G. und damit für das Christentum weiterhin Gültige, sondern «das Unaussprechliche und Unanschauliche jenseits aller Begriffe, das aber die religiöse Wirklichkeit in Fülle und Mannigfaltigkeit ist». Elemente der G. wie trinitarische Zeugung, Gotteskindschaft, Aufstieg des Menschen zum engelhaften Sein, kosmisches Bewußtsein usw. bilden für Koepgen eine «Metaphysik des Mysteriums», die für das Christentum von bleibender Bedeutung ist [5].
Neben diesen Versuchen, den G.-Begriff auf die Religion und Theologie der eigenen Zeit zu übertragen, stehen Bemühungen, ‹G.› als Bezeichnung für eine höhere Erkenntnisweise, eine innere Schau der Zusammenhänge (im Gegensatz zu den exakten Naturwissenschaften) zu restituieren. Die G. soll anders als die Philosophie, die immer von der Spaltung von Erkennen und Wirklichkeit ausgehe, eine «einheitliche Schauung» eröffnen [6]. Theosophische Sekten in Südfrankreich bezeichnen sich als «gnostische Kirche» [7]; R. Steiner legt in einer Zeitschrift ‹Lucifer-G.› die Grundlagen seiner Anthroposophie dar [8]. Von den christlichen Kirchen werden diese Richtungen als Häresien abgelehnt [9].
Redaktion
[1]
Vgl. z.B. den Forschungsbericht bei F. Chr. Baur: Die christliche G. (1835, ND 1967) 1–9.
[2]
J. G. Fichte: Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Werke, hg. I. H. Fichte (1845–46, ND 1971) 7, 101. 103.
[3]
Baur, a.a.O. [1] VIIf. 24. 96f. 544. 556f. 616f. 710f. 735f.; vgl. Die christliche Lehre von der Versöhnung (1838) 143. 145f. 464f.
[4]
K. von Hase: G. oder prot.-evang. Glaubenslehre für die Gebildeten in der Gemeinde (1827). Werke 7 (31893) VIII.
[5]
G. Koepgen: Die G. des Christentums (1938) 40. 90; vgl. 18. 349; vgl. dazu K. Rahner: G. des Christentums. Scholastik 15 (1940) 1–15.
[6]
E. H. Schmitt: Die G. Grundlagen d. Weltanschauung einer edleren Kultur (1903–07, ND 1968) bes. 1, 7ff. 12f.; 2, 36ff.
[7]
L.-E.-J. Fabre des Essarts (Synésius): L'arbre gnostique (Paris 1889); Sophronius (‹gnostischer Bischof von Béziers›): Catéchisme expliqué de l'église gnostique 1–4 (Paris 1899–1900); Zeitschriften: Réveil des Albigeois (Toulouse 1901); Revue Gnostique; La Gnose moderne (christianisme scientifique). Organe de l'église gnostique de la France (Toulouse 1901).
[8]
R. Steiner: Luzifer-G. (1903–1908). Aufsätze aus der gleichnamigen Zeitschrift (1960); vgl. Mein Lebensgang, hg. M. Steiner (1962) 422f.
[9]
M. Vereno: G. und Magie, in: Häresien der Zeit, hg. A. Böhm (1961) 375–412.
III.E. Voegelin und E. Topitsch verwenden den Begriff ‹G.› in weltanschauungs- bzw. ideologiekritischer Absicht. Die philosophischen Voraussetzungen und die Begriffe von Ideologie, die ihren Deutungen der G. zugrunde liegen, sind dabei ebenso verschieden wie die Kontexte, in denen sie von der G. sprechen. Gemeinsam ist diesen Autoren das Bemühen, mit Hilfe des Nachweises struktureller Analogien zwischen dem gnostischen Weltverständnis und der marxistischen Theorie ihrem Antikommunismus die theoretische Fundierung zu verleihen.
Im Verständnis Voegelins und einiger seiner Schüler spielt die G. seit 2000 Jahren den Widerpart zu «mittelmeerischem» Denken und Handeln, welches bei Platon und Aristoteles sowie im christlich-jüdischen Glauben seine bleibenden Formulierungen gefunden hat. Dem dort ausgeprägten, höchst «differenzierten» Seinsverständnis [1] sind die Gnostiker nicht gewachsen. Sie setzen ihm aus Protest gegen die Ordnung der Welt und deren scheinbar oder real vorhandene Übel und im Vertrauen auf die Fähigkeiten der Menschheit zu weltveränderndem Handeln den Versuch einer «Immanentisierung des christlichen Eschatons» mittels der willkürlichen Konstruktion eines eidos der Geschichte entgegen [2]. Damit macht sich die G. eines schweren Verstoßes gegen die Seinsordnung schuldig. Das «Wissen, die G., von der Methode der Änderung des Seins» [3] ist angemaßt und hat letztlich eine unheilvolle Konsequenz: die Zerstörung der Realität. Die Wirkung und Präsenz der G. ist nahezu unübersehbar: politischen Bewegungen und christlichen Häresien, wie z.B. Kommunismus, Nationalsozialismus, Reformation oder Puritanismus, vindiziert Voegelin ebenso einen gnostischen Kern wie der Mehrzahl der neuzeitlichen (geschichts)philosophischen Systeme (von Joachim von Fiore bis zu Hegel, Marx, Nietzsche und Heidegger). Auch Positivismus, Liberalismus und Psychoanalyse sind in unterschiedlichem Maße als G. charakterisiert. Die Erscheinungsformen der G. werden nach einer teleologischen (progressivistischen), einer axiologischen (utopistischen) und einer von «aktivistischer Mystik» gekennzeichneten Variante klassifiziert. Hinzu kommt die Unterscheidung zwischen «aktiver» und «kontemplativer» G. [4].
Im Gegensatz zu Voegelin, der eine im christlichen Glauben verankerte werthafte Wissenschaft vertritt und von dorther die Grundlagen zu seinem Verständnis der G. bezieht, interpretiert Topitsch die G. aus der Perspektive der neopositivistischen Wissenschaftstheorie. Er findet in der G. eine Form von vorwissenschaftlicher Philosophie, die sich an der «Deutung des Kosmos, der Menschen und der Erkenntnis mittels bestimmter werterfüllter und gefühlsgesättigter Stereotype» versucht [5]. Ihre Aktualität verdankt die G. primär dem für sie konstitutiven Mythos von Fall, Verblendung und schließlichem Wiederaufstieg der Seele qua Einsicht in die Göttlichkeit des eigenen Selbst. Zweck dieser Lehre ist es, «dem Menschen die Auseinandersetzung mit dem Druck der Realität zu erleichtern, indem sie ihn davon zu überzeugen vermag, daß das Wertwidrige im Rahmen eines Heilsgeschehens notwendig sei, aber ebenso notwendig überwunden werden müsse» [6]. Auf vielfältige Weise modifiziert und meist erweitert zur Deutung des Prozesses der Weltschöpfung und -geschichte als Drama von Fall und Erlösung, hat der gnostische Mythos eine lange ideengeschichtliche Tradition, die bis zu Hegel und Marx reicht [7]. Deren teleologische Geschichtsauffassung und die diese begründende Konzipierung der Dialektik mittels des Schemas von Urzustand – Entäußerung (Entfremdung) – Rücknahme sollen u.a. auf einen gnostischen Ursprung verweisen und sind damit unwissenschaftlich und ideologisch. Marx säkularisiere den Erlösungsmythos zum «dialektischen Prozeß von Verlust und Wiedergewinnung des Menschen» [8]. Den Proletariern bei Marx entsprächen in den gnostischen Systemen die electi: beide seien als Träger des Heilwissens aufgefaßt.
Georg Behse
[1]
E. Voegelin: Die Neue Wiss. von der Politik (21965) 116.
[2]
a.a.O. 167ff.; vgl. J. Gebhardt: Karl Marx und Bruno Bauer, in: Polit. Ordnung und menschl. Existenz. Festgabe E. Voegelin (1962) 241.
[3]
E. Voegelin: Religionsersatz. Die gnostischen Massenbewegungen unserer Zeit. Wort u. Wahrheit 15 (1960) 7.
[4]
Vgl. F. M. Schmolz: Die Zerstörung der polit. Ethik (1963) 67ff.; Voegelin, a.a.O. [1] 170f.
[5]
E. Topitsch: Mythos, Philos., Politik (1969) 23.
[6]
Marxismus und G., in: Sozialphilos. zwischen Ideol. und Wiss. (1961, 21966) 245.
[7]
a.a.O. passim.
[8]
Entfremdung und Ideol. Zur Entmythologisierung des Marxismus. Hamburg. Jb. Wirtschafts- u. Gesellschaftspolitik 9 (1964) 159.
H. U. v. Balthasar: Die Apokalypse der dtsch. Seele (1937–39, 21947) 1: Stud. zur Gesch. des dtsch. Idealismus. – J. Taubes: Die abendländische Eschatol. (1947). – E. Voegelin: Gnost. Politik. Merkur 4 (1952) 301–317; Order and hist. 2: The world of the polis (Louisiana 1957) 17ff.; Wiss., Politik and G. (1959). – E. Topitsch: Seelenglaube und Selbstinterpretation, in: Sozialphilos. ... s. Anm. [6] 155–199; Die Sozialphilos. Hegels als Heilslehre und Herrschaftsideol. (1967); Die Freiheit der Wiss. und der polit. Auftrag der Univ. (21969). – Polit. Ordnung ... s. Anm. [2] 105–143: Beitrag H. Decu. – J. Gebhardt: Politik und Eschatol. (1963).