Intelligibel, das Intelligible, Intelligibilität. – 1. Die Intelligibilität (It.) des Seins ist ein zentrales Problem in der Philosophie des
Parmenides, das gewöhnlich in der Frage nach der «Identität» von Denken und Sein formuliert
wird. Präziser und frei von subjektivistischer Überformung ist zu sagen: Denken
ist und Sein
ist[1]. Weil beide im Sein, außerhalb dessen nichts ist, übereinkommen, ist Denken ausschließlich Vernehmen des Seins. Wenn also «Gedachtwerden» und «Sein» dasselbe sind, so gründet die Denkmöglichkeit von Sein in seiner
intelligiblen Struktur. «Das ist dasselbe, daß Denken ist, und der Gedanke, daß Sein ist. Denn nicht ohne das Sein, in dem es ausgesprochen ist (
πεφατισμένον), kannst Du das Denken finden»
[2]. Daß Denken im Sein (nicht: Sein im Denken) ausgesprochen ist, heißt: Sein
ist unmittelbar offen, unverborgen, verstehbar, antreffbar. Seine Antreffbarkeit oder Einsehbarkeit ist wesenhafter Bezug des Seins zum Denken, welches nicht ist ohne das Sein. Andererseits ist Denkbarkeit und Sagbarkeit von Etwas ein Verweis darauf, daß Sein
ist und Denken immer Sein habendes Denken ist: «Was man sagen und denken kann, muß auch sein; Sein nämlich
ist, Nicht-Sein ist nicht»
[3].
2. Das parmenideische Offenbarsein des Seins dem Denken gegenüber hat
Platon im Bezug von
Idee und Denken systematisch entfaltet. Idee ist das in sich seiende, eingestaltige, unwandelbare, wahre und deshalb grund- oder vorbildhafte Sein jedes Seienden, dessen Sein in seiner Teilhabe an dem Sein der Idee besteht. Diese ist im Gegensatz zum Sinnenfälligen (
αἰσθητόν) nur dem Geist (
νοῦς) oder der Seele begreifbar. Die Begreifbarkeit (It.) der Idee entspringt 1. daraus, daß ihr Sein durch das von der
Idee des Guten ausgehende, metaphysische Licht (=
ἀλήθεια) selbst licht, d.h. in sich und damit dem Denken unverborgen, intelligibel (
νοητόν) ist
[4], 2. daß das Sein des Denkens im Geiste oder in der Seele ebenso wie das Sein der Idee strukturiert ist: dem «Göttlichen und Unsterblichen und I. und Eingestaltigen und Unauflösbaren und sich immer auf die selbe Weise Verhaltenden am ähnlichsten»
[5] und deshalb selbst (wie die Idee) nur dem Denken erfahrbar
[6]. Die apriorische, idee-hafte Grundlegung der Möglichkeit von Denken und Erkennen überhaupt wird in der Anamnesis bewußt und zugleich aktiviert. So gründet der Sinnbezug der ontologischen und logischen It. von Idee und Denken in der Konnaturalität beider (
ὅμοιον ὁμοίῳ[7]). Diese wiederum fordert als ethische Konsequenz vom Menschen Angleichung an Gott (
ὁμοίωσις θεῷ) als Vollzug seiner Verwandtschaft (
συγγένεια) mit dem Göttlichen.
3. Gegenüber Platon und dem Platonismus ist die It. des Seienden bei
Aristoteles nicht transzendent begründet; das durch Denken vernehmbare Strukturprinzip ist vielmehr als intelligible Form (
νοητὸν εἶδος) jedem Seienden immanent
[8], Das Denken erfaßt in dem sinnenfällig gegebenen Einzelnen das intelligible Allgemeine, indem es das der Möglichkeit nach Einsichtige in aktuale Einsicht überführt. Wahrgenommenes (
αἴσθημα) und Vorstellung (
φάντασμα) haben dabei eine die Wesenserkenntnis vermittelnde Funktion. – Im Akt des einsehenden Denkens wird die Geistseele (
ψυχὴ νοητική) oder der Geist (
νοῦς) als Ort (
τόπος) oder Form der Formen (
εἶδος εἰδῶν)
[9] mit dem Eingesehenen (Gedachten) identisch. Die Geistseele ist der Möglichkeit nach die denkbaren Dinge, «irgendwie Alles»
[10]. Die in der Reflexion auf die Erkenntnis gewonnene Einsicht, daß im Bereich des I. (
ἐπὶ τῶν ἄνευ ὕλης[11]) Geist (
νοῦς), Gedachtes (
νοητόν) und Denken (
νόησις) eine in sich dialektische Identität ausmachen, wird theologisch relevant: Der höchste Akt des Gottes ist Denken (
νόησις). Wenn der Gott selbst das «Beste» ist und
deshalb nichts anderes als das Beste zu denken vermag, denkt er gemäß der Identität von Denken und Gedachtem in ihm sich selbst, er ist Denken des Denkens (
νοήσεως νόησις)
[12].
4. In der Philosophie
Plotins werden der parmenideische Sinnbezug von Sein und Denken und die It. der platonischen Idee aufgehoben in die hypostatische Dialektik des sich selbst denkenden
νοῦς. Das einzelne I. im
νοῦς ist nicht «statisch», da es als zeitlos Gedachtes zugleich denkend ist (
νοερὰ δύναμις[13]); Platons fünf «wichtigste» Gattungen (
μέγιστα γένη) – Sein, Ständigkeit, Bewegung, Selbigkeit und Andersheit – integrieren sich im
νοῦς gegenseitig in eine lebendige Einheit (
ζωή als
νοῦ ἐνέργεια). Gewiß wird im späteren Neuplatonismus (bes. bei
Proklos) durch die subordinative Auffaltung des
νοῦς insgesamt der Identitätsakt von Denken und Sein modifiziert. Das Sein bleibt jedoch
νοητόν, und als solches ist es auch Ziel jeder Erkenntnis. Die verschiedenen aus dem göttlichen Geist (
θεῖος νοῦς) entsprungenen Geist-Modi bilden eine
dynamische Identität, in der die Differenz die ursprüngliche Einheit von Denken und Gedachtem nicht zerfallen läßt, sondern sie eher zu einem «
System» aktiviert
[14].
5. Die
Philosophie des Mittelalters hat 1. die It. des (neuplatonischen) absoluten
νοῦς trinitarisch und christologisch umgeformt, 2. die aristotelische Konzeption, daß der (auf Platon zurückgehenden) Unterscheidung von
νοητόν und
αἰσθητόν auch verschiedene Erkenntnisorgane entsprechen müssen
[15], in einer differenzierten Abstraktionslehre entfaltet, deren zentrale Frage ist, wie aus den species sensibiles die species intelligibiles gewonnen werden können.
6.
Kant bezeichnet als «intelligibel» (Noumena) diejenigen Gegenstände, die «bloß durch den Verstand vorgestellt werden können» und gegenüber der «intellektuellen» Erkenntnis keinen Bezug auf sinnliche Anschauung haben
[16], Durch seine Kritik setzt Kant jedoch zugleich den Anfang der Irrationalisierung des I.: «an sich» ist es unerkennbar, lediglich brauchbare Idee oder «Standpunkt», den die Vernunft sich genötigt sieht, «außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken»
[17]. Dadurch wird die intelligible Welt zur bloß «formalen Bedingung» oder Funktion der Praxis.