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Logos

Logos logos (λόγος) 5248 10.24894/HWPh.5248Gérard VerbekeJahn-Adolf Bühner
I. Der L.-Begriff in der antiken Philosophie. – Der Ausdruck λόγος hängt mit λέγω zusammen, er bedeutet ursprünglich Aufzählung, Berechnung, Rechenschaft, Rechtfertigung. Daraus ergeben sich als weitere Bedeutungen: Verhältnis, Proportion, Erklärung, Beweisführung, Vernunft, Bericht, Darlegung, Aussage, Wort, Ausdruck, Gegenstand der Unterredung. Der Terminus gehörte ursprünglich, wie auch später noch, zum gewöhnlichen, nicht-philosophischen Sprachgebrauch. Im philosophischen Denken und durch es erhielt er allmählich eine Sonderbedeutung, wie auch sonst die Sprache der Philosophie aus der vorphilosophischen Ausdrucksweise entstanden ist. Der Begriff ‹L.› verweist auf das menschliche Denken und Sprechen. Indem in der philosophischen Reflexion das Denken sich immer mehr seines eigenen Wesens bewußt wird, wird der L. immer genauer unterschieden vom Mythos (μῦθος), von der Meinung (δόξα) und der Wahrnehmung (αἴσθησις). In der Geschichte der griechischen Philosophie herrscht eine ununterbrochene Spannung zwischen Mythos und L., und es gehört zu den bemerkenswerten Leistungen dieser Philosophie, die Eigenart des rationalen Denkens entdeckt zu haben.
1. In der Philosophie Heraklits nimmt der L. eine bevorzugte Stellung ein. Der Ausdruck wird verwendet zur Bezeichnung des immanenten Prinzips im kosmischen Werden, welches Prinzip als ein inneres Feuer auf gefaßt wird. Für Heraklit gehört der Entstehungsprozeß nicht nur zum Anfangsstadium der Welt, vielmehr ist der Kosmos in jedem Augenblick im Werden begriffen. In diesem Zusammenhang bedeutet nach H. Fränkel der L. die Gesetzmäßigkeit der Welt, den Sinn und Grund des Weltgeschehens, die Norm und Regel, welche alles bestimmt. Den L. erfassen heißt alles einsehen [1]. Die Norm aller Wirklichkeit sei in der «coincidentia oppositorum» zu finden, im Zusammenfall der Gegensätze in zweigliedrigen Einheiten. So verstehe man den kosmischen Werdegang erst dann, wenn man einsehe, daß die Gegensätzlichkeit den Wesensgrundder Wirklichkeit bilde [2]. Vielleicht läßt sich die genaue Bedeutung von ‹L.› bei Heraklit besser fassen, wenn man auf den ursprünglichen Inhalt dieses griechischen Wortes zurück greift: Dieser bezieht sich in erster Linie auf den subjektiven Akt des Aufzählens, dann auch auf das Ergebnis dieser Aufzählung, die Zahl und die Ordnung. Ferner auf die Zahl oder Ordnung, die in der Wirklichkeit anwesend ist [3]. Bei Heraklit begegnet man tatsächlich einem vollkommenen Parallelismus zwischen der objektiven Wirklichkeit und der Welt des Denkens. Es handelt sich hier um zwei Aspekte einer einzigen Gegebenheit; wie denn auch ein inniger Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen besteht. So ist nach W. J. Verdenius der L. zu gleich Heraklits eigenes Argumentationssystem und das objektive System der Welt [4]. Heraklit ist übrigens davon überzeugt, daß sein Sprechen kein bloßer individueller Akt ist. Durch ihn spricht der universale L., und gerade darin liegt der Wert dieses Sprechens. Der Mensch erfaßt die Wahrheit in dem Maße, in dem sein Denken und Sprechen in Einklang stehen mit dem universalen L. [5]. So deutet bei Heraklit der L. zugleich auf den geordneten Zusammenhang des Kosmos und auf die systematische Erfassung und den sprachlichen Ausdruck dieser Weltordnung. Diese Interpretation stimmt übrigens zu der besonderen Bedeutung des Wortes ‹Kosmos›, wie sie vornehmlich von Anaximander in das philosophische Denken aufgenommen wurde [6]. Auf diese Weise kommt Heraklit in seinem philosophischen Anliegen mit den Naturphilosophen überein: eine Erklärung zu finden für den geordneten Aufbau des Universums. Daß die Wirklichkeit überhaupt besteht, wird einfach hingenommen, daß sie aber geordnet ist, bedarf der Erklärung, und Heraklit glaubt sie durch das Zusammenbestehen von Gegensätzen erklären zu können [7].
Es hat wenig Sinn, den L. Heraklits im Schöpfungsbericht der Bibel wiedererkennen zu wollen, die Grundauffassung des Verhältnisses L./Kosmos ist in beiden Texten verschieden [8].
[1]
Vgl. H. Fränkel: Dichtung und Philos. des frühen Griechentums (1962) 424.
[2]
a.O. 425.
[3]
Vgl. W. J. Verdenius: Der L.-Begriff bei Heraklit und Parmenides. Phronesis 11 (1966) 81–98, bes. 91.
[4]
a.O. 93.
[5]
Vgl. Heraklit, VS 22 B 50; 22 B 2.
[6]
Vgl. W. Jaeger: Paideia 1 (1934) 219; Ch. H. Kahn: Anaximander and the origins of Greek cosmol. (New York 1960) 222.
[7]
Heraklit, VS 22 B 53; 22 B 8.
[8]
Vgl. Verdenius, a.O. [3] 94 (gegen H. Diels).
2. Im philosophischen Gedicht des Parmenides ist ebenfalls die Rede vom L. Neben den zwei grundsätzlich entgegengesetzten Wegen, die zuerst unterschieden wer den, dem des Seins und dem des Nicht-Seins, ist von einem dritten Weg die Rede, den die Sterblichen gewöhnlich einschlagen. Die Menschen haben zwei Gesichter, denn sie wollen die Gegensätze miteinander verbinden und gelangen so zu einem Kompromiß, nach dem ein Ding zugleich sei und nicht sei. Dies geschieht, indem sie annehmen, daß es Mannigfaltigkeit und Werden gebe. Demgegenüber erklärt die Göttin, man müsse durch vernünftige Argumentation (λόγῳ) die mit viel Bestreitung gepaarte Beweisführung untersuchen und beurteilen: «Vielmehr beurteile mit dem Denken (L.) die streitbare Widerlegung, wie ich sie gegeben habe (κρῖναι δὲ λόγῳ πολύδηριν ἔλεγχον ἐξ ἐμέθεν ῥηθέντα) [1]. Parmenides ist also bestrebt, durch die Darlegung der Argumentation die Sterblichen vom Irrtum abzuhalten und sie zur Wahrheit zu führen. Daß Denken und Reden, λέγειν und νοεῖν, eng verbunden sind, geht hervor aus dem bekannten Frg. 6: Was gesagt und gedacht werden kann, muß auch bestehen [2]. Weder das Denken noch das Sprechen können das Nicht-Seiende zum Gegenstand haben: Sinnvolles Denken und Sprechen sind immer auf etwas gerichtet, das ist [3]. Nach der Auffassung des Parmenides ist also der Weg, der zur Wahrheit führt, der Weg des L. als eine Darlegung, die untersucht und beurteilt.»
[1]
Parmenides, VS 28 B 7; übersetzt nach Fränkel, a.O. [1 zu 1] 405.
[2]
VS 28 B 6.
[3]
VS 28 B 3; dazu z.B. W. J. Verdenius: Parmenides. Some comments on his poem (Groningen 1942) 41.
3. In den Dialogen Platons hat das Wort ‹L.› eine Reihe von Bedeutungen, die alle miteinander zusammenhängen, nämlich Darlegung, Wort, Definition, Beweisführung, Untersuchung, Gedankengang, Urteil, Vernunft, Rechenschaft, Verhältnis [1]. Auch bei Platon zeigt sich eine enge Verbundenheit von Denken und Reden: Das Denken ist ein inneres Gespräch der Seele mit sich selbst über die Gegenstände, die sie betrachtet [2]. Platon widersetzt sich der Erstarrung des geschriebenen Wortes, weil er das Denken auffaßt als einen ununterbrochenen Dialog, als ein inneres und äußeres Reden, ein Reden mit sich selbst und mit anderen zur Erlangung der Wahrheit [3]. Für ihn ist wie für Sokrates die Philosophie ‘Dialogʼ. Aus diesem Grunde will er das sokratische Sprechen weiterführen. Er ist davon überzeugt, daß jeder Mensch Wahrheit besitzt [4]. Der Lehrmeister legt nicht etwa eine Erkenntnis in die Psyche des Lernenden hinein wie einen Gegenstand in einen Behälter. Der Erkenntnisschatz ist schon in ihm, muß aber durch das Gespräch zur aktuellen Einsicht erhoben werden [5]. Die Inkarnation des Gedankens in einem geschriebenen Text hingegen ist zu vergleichen mit der Bindung der Seele an den Leib; die reine Entfaltung des Denkens wird durch diese Gebundenheit behindert. Daher muß der Philosophierende «sterben lernen», so wie Sokrates in den Tod gegangen ist [6]. Das Sterben des Sokrates ist zum Symbol des philosophischen Denkens geworden; um das wahrhaft Seiende zu erfassen, muß man sich aus den Banden des Stofflichen befreien. Dies gilt ganz allgemein für den Umgang der Seele mit der wahrnehmbaren Welt: Der Mensch lebt fortwährend in Kontakt mit dem sinnlich Wahrnehmbaren, so daß er fast wie von selbst dazu kommt, das Vergängliche und Werdende für die wahre Wirklichkeit anzusehen. Aufgabe des philosophischen L. ist es dann, sich und die anderen zu befragen. In seinem Gespräch mit Protagoras betont Sokrates, daß er vor allem den L. erforscht, d.h. die vertretene Ansicht. Damit hängt jedoch zusammen, daß er sich selbst als Fragenden erforscht sowie den, der Antwort gibt [7]. So kann man sagen, daß jeder Dialog Platons ein Streit zwischen dem L. und einem unpersönlichen Widerstand, dem Nicht-Seienden ist [8]. Es handelt sich um ein Nachforschen und Befragen, nicht aber um das Errichten eines fertigen Systems: Dieses Befragen ist eine unerläßliche Selbstkritik und Kritik der anderen, wenn man sich nicht zufrieden gibt mit einem oberflächlichen Wissen, sondern vorstoßen will zu unverfälschter Erkenntnis. Es ist um so wichtiger, als das ethische Leben des Menschen hier unmittelbar an den L. anschließt; denn das Verhalten jedes Menschen wird bestimmt durch die Einsicht, die er hat [9]. Das Selbstgespräch und das Zwiegespräch werden zur ethischen Aufgabe: So sind auch die Dialoge Platons keine verkappten Monologe, in denen Sokrates allein zu Wort käme. Jedem Gesprächspartner kommt eine wichtige Rolle zu; denn es ist die Aufgabe eines jeden, die Erkenntnis, die er in sich trägt, zur Einsicht emporzuheben. Die Gesprächsteilnehmer müssen von ihren individuellen Anliegen und Vorurteilen absehen; das ganze Gespräch soll beherrscht sein vom L. und der Suche nach Wahrheit und Wissen.
[1]
Vgl. Platon, Oeuvres compl., hg. E. des Places 14: Lex. de la langue philos. et relig. de Platon (Paris 1964) 310–314.
[2]
Vgl. Theait. 189 e–190 a.
[3]
Vgl. Ep. 7, 344 c.
[4]
Vgl. Theait. 161 e.
[5]
Vgl. Theait. 157 c.
[6]
Phaid. 64 a.
[7]
Protag. 333 d.
[8]
Vgl. R. Schaerer: La question Platonicienne (Neuchâtel 1938) 39.
[9]
Vgl. Protag. 345 d. 358 c; Tim. 86 d.
4. Bei Aristoteles wird ‹L.› in der Bedeutung von «Definition» gebraucht, was mit der Wissenschaftslehre des Stagiriten zusammenhängt. Nach ihm muß die Wissenschaft bestrebt sein, eine begründete Definition ihres Gegenstandes zu geben. In diesem Zusammenhang übt Aristoteles Kritik an Platons dihairetischer Methode, nach welcher man, ausgehend von einem generisch unbestimmten Begriff, mittels einer Folge von Einteilungen zur wohlbestimmten Umschreibung eines gegebenen Gegenstandes kommt. So kam er zur Entdeckung des Syllogismus (συλλογιστικὸς λόγος), in welchem das Verhältnis zweier Termini bestimmt wird aufgrundeines dritten, der die Rolle eines Zwischengliedes und Bandes zwischen den zwei äußeren Termini spielt [1]. Der Syllogismus konnte jedoch die dihairetische Methode Platons nicht ersetzen, weil es in ihm nicht darum geht, eine Definition zu beweisen, sondern darum, im Ausgang von einer Definition die Eigenschaften eines Gegenstandes aus ihr abzuleiten. Aristoteles sieht in einem derartigen Deduktionsprozeß die ideale Form der wissenschaftlichen Beweisführung, welche er allerdings in seinen eigenen Werken kaum oder gar nicht anwendet. Das Verhältnis zwischen der Wesenheit und dem Eigentümlichen (ἴδιον) ist übrigens wechselseitig: Aus der Wesenheit kann man die Eigenschaften folgern und andererseits führt die Erkenntnis des Proprium zur Einsicht in die Wesenheit [2]. Aristoteles akzeptiert auch den Syllogismus des Wesens (λογικὸς συλλογισμός) als gültig, in dem die inadäquate Aussage eines Gegenstandes bewiesen wird aufgrundeines tieferen und prinzipielleren Begriffs von ihm [3]. Diese aristotelische Wissenschaftslehre zeigt einen stark platonischen Einschlag, weil das wissenschaftliche Erkennen stets auf das Universale bezogen ist, auf das Notwendige und Unveränderliche, so daß das konkrete Dasein nur implizit, universal und abstrakt miterfaßt wird [4]. Gleich Parmenides und Platon nimmt auch Aristoteles einen engen Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen an: Sowohl in seiner Metaphysik wie auch in seiner Ethik geht er oft aus vom gewöhnlichen Sprachgebrauch; er stützt sich auf das, was man sagt, und auf die Weise, in der man es ausdrückt. Er sieht im menschlichen Sprechen eine vorphilosophische Gegebenheit, die als Ausgangspunkt dient für das philosophische Nachdenken. Dies ist leicht zu verstehen, weil aufgrundseiner teleologischen Lehre der «consensus» unter den Menschen, welcher u.a. im Sprachgebrauch sich äußert, einen hervorragenden Wert besitzt [5].
Auch in den ethischen Abhandlungen des Aristoteles spielt der L. eine höchst wichtige Rolle: Das sittliche Verhalten ist ein Leben gemäß dem ὀρθὸς λόγος, gemäß einer rechten ethischen Einsicht [6]. Der Mittelweg, welcher in der sittlichen Handlung stets einzuschlagen ist, muß ebenfalls durch den L. bestimmt werden, d.h. durch die praktische Besinnung eines mit ethischer Einsicht (φρόνιμος) begabten Menschen [7]. Bei Aristoteles wird die ethische Einsicht nicht vom sittlichen Handeln getrennt: Man muß ethisch handeln, um eine rechte sittliche Einsicht zu besitzen [8]. Deshalb ist für Aristoteles das Hauptkennzeichen des ethischen Menschen, daß seine Leidenschaften der Leitung des L. unterworfen sind, welcher das menschliche Dasein fortwährend ins Gleichgewicht bringt. In dieser Weise ist es auch möglich, daß der Mensch seine höchste Vollkommenheit erreicht, welche darin besteht, seine Vernunfttätigkeit so vollkommen wie möglich zu entwickeln.
[1]
Vgl. A. Mansion: L'origine du syllogisme et la théorie de la sci. chez Aristote. Aristote et les problèmes de méthode (Louvain/Paris 1961) 57–81.
[2]
Vgl. die Erörterung des ἴδιον in Top. E.
[3]
Vgl. J. M. Le Blond: Logique et méthode chez Aristote (Paris 1939) 157ff.
[4]
Vgl. S. Mansion: Le jugement d'existence chez Aristote (Louvain/Paris 1946).
[5]
Vgl. G. Verbeke: Philos. et conceptions prephilos. chez Aristote. Rev. philos. Louvain 59 (1961) 405–430; W. J. Verdenius: Traditional and personal elements in Aristotle's relig. Phronesis 5 (1960) 56–70.
[6]
Vgl. Aristoteles, Eth. Nic. 6, 1, 1138 b 18–34.
[7]
Vgl. a.O. 2, 6, 1106 b 36–1107 a 2.
[8]
6, 13, 1144 b 30ff.
5. Im Rahmen der stoischen Philosophie bezeichnet der Begriff des L. in erster Linie eine kosmische pneumatische Kraft, welche als immanentes Prinzip das Weltgeschehen bestimmt. Es handelt sich hier um ein Stoffprinzip, eine Art schöpferisches Feuer, das alles durchdringt und gemäß einer festen Gesetzlichkeit die Entwicklung des Kosmos zustande bringt. Es wird der Gottheit, der Vorsehung und dem Schicksal gleichgesetzt, etwa wenn Chrysipp definiert: «Das Schicksal ist der Welt-L., oder der L. dessen, was in der Welt durch die Vorsehung besorgt wird, oder der L., dem gemäß das Entstandene entstanden ist, das Werdende wird, und das, was entstehen wird, entstehen wird» (εἱμαρμένη ἐστὶν ὁ τοῦ κόσμου λόγος, ἢ λόγος τῶν ἐν τῷ κόσμῳ προνοίᾳ διοικουμένων, ἢ λόγος καθ' ὃν τὰ μὲν γέγονε, τὰ δὲ γινόμενα γίνεται, τὰ δὲ γενησόμενα γενήσεται) [1]. Die Geschichte wird als ein rationaler Prozeß betrachtet, da alles von L. durchdrungen ist. Alles hat seinen Ort in der universalen Ordnung [2]. Da das Weltgeschehen vollständig durch den göttlichen L. bestimmt wird, gibt es weder für die Freiheit noch für das Böse einen Raum. Daß der universale L. alles durchdringt, bedeutet aber nicht, daß alle Wesen mit Vernunft ausgestattet sind. Unter den Lebewesen ist allein der Mensch mit Vernunfteinsicht begabt, welche sich im Worte äußert. So wird ein Unterschied gemacht zwischen dem inneren L. (λόγος ἐνδιάθετος) und dem geäußerten L. (λόγος προφορικός). Der erste ist gleich jeder menschlichen Seele ein Teil des universalen L. [3]; der zweite bedeutet ein Ausdrücken des Gedankens. Nach dem Urteil der Stoiker unterscheidet sich der Mensch von den anderen Lebewesen durch den inneren L. [4]. Der L. im Menschen wird aufgefaßt als eine Gruppe von Vorstellungen und Einsichten, welche um das 14. Lebensjahr sich zu entfalten beginnen. Dazu gehören in gleicher Weise die vorwegnehmenden Einsichten (προλήψεις), welche sich in allgemein verbreiteten Auffassungen äußern, denen die Stoiker große Bedeutung beimessen [5]. Wiederholt stützt man sich auf den allgemeinen «consensus», um gewisse Behauptungen zu rechtfertigen. Der Wert, den man diesem consensus beilegt, muß im Lichte der Lehre vom göttlichen L. gesehen werden [6]. Die Übereinstimmung unter den Menschen beweist, daß eine gewisse Einsicht aus dem universalen L. herkommt.
Auf ethischem Gebiet ist der L. die Norm des sittlichen Handelns, die mit der Natur (φύσις) gleichgesetzt wird: Das bedeutet, daß jeder Mensch das Weltgeschehen annehmen muß, weil es von L. durchdrungen ist. Sich gegen das Weltgeschehen auflehnen und die Ereignisse des Lebens nicht annehmen, ist unsittlich, denn hier handelt es sich um einen Aufruhr gegen die Vernünftigkeit des Kosmos [7]. Nach den Stoikern ist es nicht die Aufgabe des Menschen, eine bessere und vollkommenere Welt aufzurichten. Die Vollkommenheit der Welt kann nicht in Frage gestellt werden, da sie auf unentrinnbare Weise durch den immanenten göttlichen L. verwirklicht wird. Deshalb muß der Mensch, will er die sittliche Vollkommenheit erreichen, seinen individuellen L. mit dem universalen L. in Übereinstimmung bringen. Jeder sittliche Fehler kann so in letzter Instanz auf einen unvernünftigen Aufstand gegen das kosmische Geschehen zurückgeführt werden. Ein solcher Aufstand findet seinen Ursprung in den ungeregelten Wallungen der Leidenschaften. Darum muß jeder Mensch danach streben, sich vollkommen zu ‘rationalisierenʼ; er muß danach trachten, völlig L. zu werden und die Gemütsbewegungen vollständig zu vernichten. Darin besteht das Ideal der apatheia: Es bedeutet nicht nur, daß die Leidenschaften der menschlichen Vernunft unterworfen, sondern daß sie völlig beseitigt werden sollten, damit der Mensch völlig werden könne, was er ist, nämlich L. [8].
[1]
Stobaeus, Ecl. 1, 79. SVF 2, 913; vgl. Marcus Aurelius 6, 1.
[2]
Vgl. G. Verbeke: Les Stoïciens et le progrès de l'hist. Rev. philos. Louvain 62 (1964) 5–38.
[3]
Vgl. Seneca, Ep. 41, 1.
[4]
Vgl. Sextus Empiricus, Adv. math. 8, 275. SVF 2, 135.
[5]
Aetius 4, 11, 4. SVF 1, 149; Jamblichus, De anima, apud Stobaeum, Ecl. 1, 48, 8. SVF 1, 149.
[6]
Seneca, Ep. 117, 6.
[7]
Vgl. W. Wiersma: Περὶ τέλους. Studie over de leer van het volmaakte leven in de ethiek van de oude Stoa (Groningen 1937); Diogenes Laertius 7, 86f.; Seneca, Ep. 76, 9.
[8]
Diogenes Laertius 7, 117.
6. Bei Philon ist ‹L.› nicht eindeutig gebraucht, sondern zeigt eine große Mannigfaltigkeit von Bedeutungen. Alles, was die früheren philosophischen Systeme, und vorzüglich die Stoa, über den L. gesagt haben, benützt der Alexandriner für seine Religionsphilosophie, die hauptsächlich den Unterschied zu erklären versucht zwischen Gott, wie er in sich selbst ist und wie er sich zeigt und zu den Menschen und der Welt verhält. So kann man drei Hauptbedeutungen von ‹L.› unterscheiden: Zuerst gehört der L. zum Göttlichen, ohne einfach mit Gott identifiziert werden zu dürfen. Der L. ist gleichsam ein zweiter Gott oder der erste Sohn Gottes [1]. Im System der göttlichen Kräfte, welche die Wirkung Gottes in der Welt schlechthin ausdrücken, nimmt der L. die erste Stelle ein, d.h. der L. ist Gott, insofern er sich mit der Schöpfung befaßt und sich in ihr offenbart. So ist der L. eine Art Mittelglied zwischen Gott und Welt [2]. Auch zum Menschen steht er in enger Beziehung: Er ist göttliche Offenbarung, ein durch Gott kundgegebenes Wort, das der Weisheit entspringt und den Menschen zur Weisheit führt, das ihn zur Wahrheit zwingt und Schwachen Genesung bringt [3]. Dieser L. richtet sich an das Innere des Menschen: Er ist eine innerliche Offenbarung. Zugleich ist er ein göttlicher Befehl, ein Gesetz für den Menschen [4]. So wird er auch ὀρθὸς λόγος genannt zur Bezeichnung des Naturgesetzes im Gegensatz zu den konventionellen Staatsgesetzen; dieses Naturgesetz ist aber zugleich göttliches Gesetz. In einer symbolischen Bedeutung heißt ‹L.› die Stelle (topos), an welcher der Gläubige in reinem Aufsteigen zu Gott verweilt: Der Gläubige hat sich schon vom Sinnlichen befreit, aber ist noch nicht ganz fähig, das Göttliche zu schauen, er befindet sich also in der Lage des Vorrückenden (προκόπτων) [5]. Der L., Bild Gottes, hat auch im Menschen seine Abbildung, nämlich im Intellekt. Darum ist der Mensch nach Gottes Bild geschaffen [6]. Endlich steht der L. auch mit dem Kosmos in Beziehung: Er ist die Idee der Welt, die im voraus in Gott war. So ist er als «mundus intelligibilis» erste Stufe der Schöpfung und schließt alle Vorbilder des Stofflichen in sich. Er stellt also die Sammlung der platonischen Ideen dar [7]. Der L. ist auch das Band des Universums, welches alles zusammenhält und harmonisch ausbildet [8]; er bringt Trennung und Unterschied in das Chaos [9]. Der L. ist weiter auch Instrument Gottes bei der Weltschöpfung, Führer des Weltalls und wird bisweilen mit dem Himmel identifiziert [10].
[1]
Vgl. Philon, Somn. 1, 229f.; Leg. Alleg. 2, 86.
[2]
Vgl. Qu. in Ex. 2, 68; Cherub. 27f.
[3]
Vgl. Fuga 108ff. 137; Leg. Alleg. 1, 65; Somn. 1, 69; 2, 242; Qu. in Gen. 3, 34; 2, 62; Qu. in Ex. 2, 101.
[4]
Vgl. Qu. in Ex. 1, 4f.; Ebr. 33f.; Migr. 128–130; Opif. 143.
[5]
Vgl. Somn. 1, 65–70. 116–119.
[6]
Vgl. Opif. 25. 139; Heres 232.
[7]
Vgl. Opif. 20. 24. 36; Qu. in Gen. 1, 4; 2, 62.
[8]
Vgl. Plant. 8f.; Heres 188.
[9]
Vgl. Heres 130. 140.
[10]
Vgl. Leg. Alleg. 3, 96. 104; Cherub. 127; Heres 233.
7. In Plotins Gedankenwelt hängt das Thema des L. wie bei Heraklit mit den in der Welt vorkommenden Gegensätzen zusammen: Im Kosmos gibt es Vielheit, Verschiedenheit und Gegensätze; dennoch aber bildet dieser Kosmos ein harmonisches Ganzes, das aus dem höchsten Prinzip, dem unteilbaren Einen entspringt. In diesem Übergang von der Einheit zur Vielheit und zum Gegensatz spielt der L. eine entscheidende Rolle. Er fließt aus dem Intellekt in die Weltseele, ohne dennoch eine eigene Hypostase zu sein. Der L. dringt so in die Seele ein und macht sie vernünftig: «Dieser L. ist aus dem Intellekt geflossen; denn das, was aus dem Intellekt fließt, ist L., und es fließt immerfort, solange Intellekt im Seienden gegenwärtig ist» (οὗτος δὲ ὁ λόγος ἐκ τοῦ νοῦ ῥυείς· τὸ γὰρ ἀπορρέον ἐκ νοῦ λόγος καὶ ἀεὶ ἀπορρεῖ, ἕως ἂν ᾖ παρὼν ἐν τοῖς οὖσι νοῦς) [1]. Alles, was am L. teilhat, wird durch diese Teilhabe ‘rationalisiertʼ und geformt (... εὐθὺς λελόγωται, τοῦτο δέ ἐστιν μεμόρφωται) [2]. Dies bedeutet dennoch nicht, daß der L. die Vollkommenheit der Prinzipien, aus denen er entspringt, besäße. Der L. ist an sich selbst unvollkommen und teilt sich dem, was an ihm partizipiert, auch nicht völlig mit. So gibt es Unvollkommenheit in der Welt, gibt es Gegensätze und Konflikte, und dennoch bildet der Kosmos als Ganzes eine harmonische Einheit. Denn es gibt nur einen einzigen L., welcher diese Vielheit und Verschiedenheit in sich enthält [3]. Nach Plotin stellt der L. auch das Wesen der menschlichen Seele dar, welche durch das diskursive Denken charakterisiert ist. So ist der L. eine niedrigere Form der Vernünftigkeit, er ist ein Abbild des Intellekts in dem Sinn, daß der L. tiefer in die Vielheit eintaucht: Er erkennt den einen Gegenstand nach dem anderen und lernt durch sinnliche Eindrücke hinzu [4]. So befindet sich das menschliche Denken zwischen der reinen Erkenntnis des Intellekts und der sinnlichen Erfahrung. Dergestalt stellt der L. die dem Menschen eigene Erkenntnisart dar und fällt mit dem Ich zusammen [5]. Bei Plotin steht der L. auf einer tieferen Ebene als bei Heraklit, den Stoikern und sogar bei Philon: Zwischen dem Einen und dem L. befindet sich nämlich der Intellekt.
[1]
Plotin, Enn. 3, 2, 2; vgl. 3, 2, 16.
[2]
a.O. 3, 2, 16.
[3]
4, 3, 8.
[4]
5, 3, 3; 5, 3, 4.
[5]
5, 3, 3.
8. Mit dem L.-Begriff sind im griechischen Denken wichtige Auffassungen verbunden. Als kosmisches Prinzip bedeutet ‹L.›, daß die Welt von Vernünftigkeit durchdrungen ist; die Welt ist keine chaotische Anhäufung, sondern ein geordnetes Ganzes, welches durch den alles beherrschenden Geist hervorgebracht wurde. Als Prinzip des Denkens im Menschen besitzt der L. sowohl epistemologische als auch ethische Bedeutung. Er bezeichnet die eigentümliche Weise, in welcher der Mensch zur Wahrheit kommt, nämlich mittels eines im Nacheinander ablaufenden diskursiven Prozesses. Andererseits bildet der L. den Maßstab des ethischen Verhaltens: Alle irrationalen Bewegungen im Menschen müssen überwunden oder doch der Vernunft unterworfen werden.
Literaturhinweise. – Nachschlagewerke: H. Leisegang: Art. ‹L.› in: RE 13/1 (1926) 1035–1081. – A. Debrunner und H. Kleinknecht: Art. ‹L.› in: Theol. Wb. zum NT 4 (1942) 73–74. 76–89. – R. Arnou und A. M. Moschetti, Enciclop. filos. 3 (1957) 146f. s. v. – S. Mansion und K. von Fritz, Lex. der Alten Welt, hg. Andresen u.a. (1965) 1764f. s. v. – Zur antiken Begriffsgeschichte: M. Heinze: Die Lehre vom L. in der griech. Philos. (1872, ND 1961). – A. Aall: Der L.: Gesch. seiner Entwickl. in der griech. Philos. und christl. Lit. (1896–99, ND 1968). – W. Nestle: Vom Mythos zum L. (21940). – E. Cassirer: L., Dike, Kosmos in der Entwickl. der griech. Philos. Göteborgs Högskolos Arsskrift 47 (1941). – H. Fränkel: Dichtung und Philos. des frühen Griechentums (1962). – F. P. Hager: Der Geist und das Eine. Untersuch. zum Problem der Wesensbestimmung des höchsten Prinzips als Geist oder als Eines in der griech. Philos. Noctes Romanae 12 (1970). – J. B. Lotz: Die Identität von Geist und Sein. Eine historisch-systematische Untersuchung (Rom 1972). – Zu den Vorsokratikern: W. Kelber: Die L.-Lehre von Heraklit bis Origenes (1958). – K. Kahn: Anaximander and the origins of Greek cosmol. (New York 1960). – W. J. Verdenius: Der L.-Begriff bei Heraklit und Parmenides. Phronesis 11 (1966) 81–98; Parmenides. Some comm. on his poem (Groningen 1942). – E. Kurz: Interpretationen zu den L.-Frg. Heraklits. Spudasmata Nr. 17 (1971). – Zu Platon: R. Schaerer: La question platonicienne (Neuchâtel 1938). Zu Aristoteles: J. M. Le Blond: Logique et méthode chez Arist. (Paris 1939). – S. Mansion: Le jugement d'existence chez Arist. (Louvain/Paris 1946). – W. J. Verdenius: Traditional and personal elements in Arist.'s relig. Phronesis 5 (1960) 56–70. – G. Verbeke: Philos. et conceptions préphilos. chez Arist. Rev. philos. Louvain 59 (1961) 405–430. – Zur Stoa: W. Wiersma: Περὶ τέλους. Studie over de leer van het volmaakte leven in de ethiek van de oude Stoa (Groningen 1937). – S. Blankert: Seneca (Ep. 90). Over natuur en cultuur en Posidonius als zijn bron (Amsterdam 1941). – B. Mates: Stoic logic (Univ. of Calif. Press 1953). – G. Pfligersdorfer: Stud. zu Poseidonius (1959). – G. Verbeke: Les Stoïciens et le progrès de l'hist. Rev. philos. Louvain 62 (1964) 5–38. – A. Joja: «Ethos und L.» dans la philos. stoïcienne. Rev. roum. Sci. Soc. Philos. Log. 10 (1966) 197–232. – C. Kahn: Stoic logic and Stoic L., in: Symp. Stoische Logik, am 1. Mai 1968 in St. Louis, Miss. Arch. Gesch. Philos. 51 (1969) 158–172. – Zu Plotin: H. F. Müller: Die Lehre vom L. bei Plotin. Archiv Gesch. Philos. 30 (1916) 38–65. – R. E. Witt: The Plotinian L. and its Stoic basis. Class. Quart. 25 (1931) 103ff. – E. Früchtel: Der L.-Begriff bei Plotin (Diss. München 1955); Weltentwurf und L. Zur Met. Plotins. Philos. Abh. 33 (1970). – Zu Philon: E. Bréhier: Les idées philos. et relig. de Philon d'Alexandrie (Paris 1925). – K. Bormann: Die Ideen- und L.-Lehre Philons von Alexandrien (Diss. Köln 1955). – K. Otte: Das Sprachverständnis bei Philo von Alexandrien. Sprache als Mittel der Hermeneutik (1968).
II. Logos im Alten und Neuen Testament. – Theologisch und christologisch bedeutsam sind die neutestamentlichen Aussagen über den L. als das Wort (Gottes); zu beachten ist eine deutliche, von der hellenistischen Vorgeschichte des Wortes abweichende traditionsgeschichtliche Vorgabe des Alten Testaments. Dort verweist der Ausdruck λόγος [κυρίου] (Wort des Herrn) in der LXX auf das vor allem von Propheten übermittelte Wort Gottes, welches Israel in seiner Geschichte verheißend führt und weisend begleitet [1]. Im Kontakt mit den altorientalischen Hochkulturen ist es vor allem in den späten Schichten des Alten Testaments zur Übernahme einer Charakterisierung des λόγος κυρίου als vollmächtiges Wort des himmlischen Königs gekommen, der sowohl die Geschichte als auch die Naturereignisse mit der unbeugsamen Kraft seines Wortes bewegt: Der L. geht von Gott aus und handelt in seiner Vollmacht [2]. Doch bleibt auch in dieser Redeweise, die den L. zu personifizieren scheint, der Anredecharakter und die Bezogenheit des L. auf die von ihm geschichtlich geführten Menschen grundlegend: Im L. tritt Gott aus sich heraus und der Welt als Anredender gegenüber; mit der Macht seines L. bringt er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einen Geschehenszusammenhang; dabei wirkt der L. nicht als in den geschichtlichen und natürlichen Ereignissen verborgenes Gesetz, sondern als die jeweilige Situation betreffendes, offenbarendes Wort des sich selbst geschichtlich bindenden Gottes.
Das Neue Testament spricht in diesem Sinne vom verheißenden [3], weisenden [4], richtenden [5] und schließlich vom Wort Gottes, das die Schöpfung trägt [6]. Zahllose Genitivverbindungen geben die Geschehnisse an, welche das Wort bewirkt: Versöhnung, Heil, Leben, Wahrheit [7]. Bei diesen Prädikationen des L. wird vorausgesetzt, daß sich Gott in seinem L. an die Person, die Botschaft und das Geschick seines Christus gebunden hat. Von den beiden Wirkstätten des Wortes im Alten Testament, der Prophetie und der Schöpfung, erinnert das Neue Testament zunächst an die prophetische [8], um dann abschließend Christus als das Schöpfungswort Gottes [9], ja absolut als den L. zu bezeichnen.
Diese hymnische Verdichtung und didaktische Reflexion geht von der Beobachtung aus, daß Jesus als eschatologischer Bote Ende und Anfang verbindendes Wort von Gott her bringt; am Gehorsam diesem Wort gegenüber entscheidet sich das eschatologische Heil [10]. Da der eschatologische Bote mit seiner Person ganz in dem ihm gegebenen Wort aufgeht, er als Bote nicht von seinem Botenwort zu trennen ist, ja an der himmlischen Herkunft des Wortes teilhat, wird er in Person das Wort Gottes, welches Glauben fordert, weil es Gericht und Leben in sich hat [11]. In der neutestamentlichen Missions- und Verkündigungssprache wird das Evangelium als L. bezeichnet, wobei Jesus Christus als der Gekreuzigte und Auferstandene den Inhalt und die Gestalt, die Wirkmacht und die Autorität des apostolischen Wortes bestimmt [12].
Zum christologischen Würdetitel wird ὁ λόγος im johanneischen Schrifttum. Joh. Apk. 19, 14 schaut der Visionär den himmlischen Christus in der Gestalt des Reiters, der gegen die Feinde Gottes den endgültigen Sieg erstreitet. Einer seiner Würdenamen lautet: ὁ λόγος τοῦ θεοῦ; diese speziell auf Habakuk 3, 3ff. (LXX) zurückgehende Aussage über den wiederkommenden Christus als L. [13] versteht ihn als den über die anderen Himmlischen erhöhten engelartigen Bevollmächtigten Gottes. Damit sind drei wesentliche Elemente der neutestamentlichen L.-Christologie genannt: Betont wird die eschatologische Macht des L., seine anschauliche Zusammengehörigkeit mit der himmlischen Welt und seine autorisierte Bindung an und Einheit mit Gott. 1. Joh. 1, 1–3 blickt zurück auf die Gabe des eschatologischen Lebens an die Gemeinde; das Bekenntnis zu seiner irdischen Erscheinung umfaßt das vorherige Sein des Lebenswortes beim Vater und expliziert dies als seine Würde und Existenz ἀπ' ἀρχῆς (vom Anfang her). Christus ist gekommen als himmlischer Bote, welcher Wort des Lebens bringt; er kommt aus dem Haus des Vaters und hat Anteil an seinem εἶναι ἀπ' ἀρχῆς (Sein vom Anfang her). Der Rückgriff auf den Anfang erwächst aus der Lehre vom eschatologischen Boten. Diese Richtung des Gedankenganges will auch in Joh. 1, 1–18 bedacht sein, wo sich hymnische Aussagen über den L. finden, welche Johannes im Hinblick auf seine im Evangelium entfaltete Christuslehre versteht. Die beiden ersten Worte ἐν ἀρχῇ (im Anfang) greifen auf Gen. 1, 1 (LXX) zurück: Auch die absolute christologische Verwendung von ὁ λόγος knüpft an die alttestamentliche Wortlehre an, freilich in ihrer durch die jüdisch-hellenistische Sophia-Lehre geprägten Gestalt [14]: Wie dort die Sophia, so ist hier der L. Gottes Schöpfungswort, welches ἐν ἀρχῇ war, bei Gott. Doch ist der L. nach Joh. 1, 1c nicht eine eigene Größe neben und außer Gott, allerdings nach 1, 2 auch nicht einfach mit Gott identisch: Indem sich Gott seinem Schöpfungswerk zugewandt hat, ist er aus sich selbst in der Person, Gestalt und Würde des L. herausgetreten. Dabei ist zu beachten, daß das Johannesevangelium keine isolierte und isolierbare theo-christologische Kosmologie entwirft, sondern die eschatologische Würde und autorisierte Einheit zwischen Vater und Sohn, wie sie in und seit Jesu irdischem Weg sichtbar geworden ist, durch den Rückgriff auf die ἀρχή in das volle Licht des Bekenntnisses und der Erkenntnis hebt. Die Ansätze zur trinitarischen Gotteslehre wurzeln in Jesu Sohnes-Beziehung zum Vater, durch welche gegenseitige Liebe, Vertrauen, Intimität und Vollmacht sich erschließen; diese Ansätze werden in der Boten-Christologie des Evangeliums entfaltet und verdichten sich im L.-Prädikat. Aus diesem Einsatz beim Irdischen erklärt sich die personale Fassung des L.-Titels, wobei freilich bedacht sein will, daß auch die Sophia-Lehre, vor allem aber apokalyptische Anschaulichkeit das Sein des himmlischen Offenbarungsmittlers bei Gott als personhaftes Miteinander verstehen [15].
So formt das Johannesevangelium zunächst in Aussagen über den irdischen Christus eine Botenchristologie, die auf die Einheit von Vater und Sohn zielt [16]. Die Vorgeschichte zum irdischen Auftreten des himmlischen Gottesboten, welcher aus dem Haus des Vaters kommt [17] und an des Vaters ganzem Besitz Anteil hat [18], findet im L.-Prädikat ihren Ursprung. Deshalb ist auch Joh. 1, 4 auf eine Schöpfungsmittlerschaft, nicht aber auf eine Schöpfungsoffenbarung des L. zu beziehen: Der L. geht mit der Schöpfung nicht in die Welt ein, so daß er keinesfalls als verborgene soteriologische Qualität – etwa in Gestalt menschlicher Vernünftigkeit – in ihr anwesend ist [19]. Die offenbarende Zuwendung des L. zur Welt vollzieht sich allein in der Inkarnation. Von ihr her allerdings kann der Glaube bekennen, daß die Fleischwerdung keinen Zuwachs an Offenbarerwürde bedeutet, sondern ihren Entsprechungsgrundin der Schöpferwürde des L. hat.
So ist der neutestamentliche L.-Begriff charakteristisch geprägt vom Vorgang des geschichtlichen Ergehens des eschatologischen Wortes Gottes in Jesus Christus: Der L., welcher Fleisch wurde, weist zurück auf die Liebe Gottes, der die Welt in das Sein ruft und sie mit seinem Sohn beschenkt (Joh. 3, 16); das Neue Testament vermeidet es bewußt zu sagen, Gott schenke der Welt seinen L., der θεὸς ἦν (Gott war) (Joh. 1, 1c) – erst recht ist nicht an eine Identifizierung dieses L. mit der in der Welt vorhandenen Vernunft gedacht. Die Gabe des Sohnes ist also Offenbarung; sie ist weder anthropologisch noch kosmologisch-soteriologisch deduzierbar. In der Geschichte des L. im Alten und Neuen Testament erschließt sich in der Begegnung mit der Welt und den Menschen Gott selbst als trinitarisch, um die Menschen auf Glauben und eine gemeinsame Glaubensgeschichte hin anzusprechen.
Eine neue Ausprägung der christlichen L.-Lehre ist seit Justin festzustellen: Justin unterscheidet den ewigen L., der in seiner ganzen Fülle nur in Jesus Christus Mensch geworden ist, vom L. spermatikos, welcher die menschliche Vernunft nur unvollständig und andeutend mit dem ewigen L. verbindet: ἔμφυτον πάντι γένει ἀνθρώπων σπέρμα τοῦ λόγου (eingepflanzt ist dem gesamten Menschengeschlechte ein Keim des L.) [20]. So kann es vom Christus heißen: «Er war und ist der L., der jedem innewohnt» [21]. «Er ist der L., an dem das ganze Menschengeschlecht Anteil hat» [22]. Die Verbindung der Menschen mit Gott gründet auf einer gewissen ‘Konsubstantialitätʼ des menschlichen, teilhabenden und des ganzen, teilgebenden, göttlichen L.: «Denn jeder von diesen [Philosophen, Dichtern und Geschichtsschreibern] hat – gemäß dem Anteil an dem keimhaft ausgestreuten göttlichen L. und somit fähig, Verwandtes zu erblicken – vorzügliche Aussprüche getan» [23]. Justin versucht damit, die stoische L.-Lehre mit der biblischen zu harmonisieren [24].
Jahn-Adolf Bühner
[1]
Vgl. W. H. Schmidt: Art. ‹dabar II›, in: Theol. Wb. zum AT, hg. G. J. Botterweck/H. Ringgren 2 (1977), bes. 126–133 [gegen B. Jendorff: Der L.-Begriff. Seine philos. Grundleg. bei Heraklit von Ephesos und seine theol. Indienstnahme durch Johannes den Evangelisten (1976) 7–16. 69f.].
[2]
Vgl. Jes. 55, 10f.; Ps. 107, 20; 147, 19.
[3]
Vgl. Röm. 9, 6. 9; 1. Kor. 15, 54.
[4]
Vgl. Heb. 2, 2; 4, 2.
[5]
Vgl. Heb. 4, 12; Röm. 9, 28.
[6]
Vgl. Heb. 1, 3; 11, 3.
[7]
Vgl. 2. Kor. 5, 19; Phil. 2, 16; 1. Joh. 1, 1; Eph. 1, 13; zum ganzen: R. Bultmann: Der Begriff des Wortes Gottes im NT, in: Glauben und Verstehen 1 (61966) 268–293.
[8]
Heb. 1, 1f.
[9]
Heb. 1, 2f.
[10]
Mk. 8, 38.
[11]
Vgl. Lk. 12, 8; Joh. 4, 34; 5, 22–26. 30.
[12]
Vgl. Gal. 6, 6; Kol. 4, 3; Joh. Apok. 1, 9; 1. Thess. 1, 8; Heb. 6, 1; bes. wichtig: 1. Kor. 2; 2. Kor. 4.
[13]
Vgl. J. Jeremias: Zum L.-Problem. Z. neutestamentl. Wiss. 59 (1968) 82–85.
[14]
Zum Überblick vgl. R. Schnackenburg: Das Johannesevangelium 1 (1965) 257–269.
[15]
Zur Weisheit als Schoßkind Gottes vgl. Prov. 8, 22–31; zum L. als himmlischer Gestalt vgl. Hab. 3, 5 (LXX); dazu Jeremias, a.O. [13].
[16]
Joh. 10, 30.
[17]
17, 5.
[18]
3, 35f.
[19]
Gegen Jendorff, a.O. [1].
[20]
Justin, Apol. App. 8, 1, zit. nach: Die ältesten Apologeten, hg. E. J. Goodspeed (1914) 84.
[21]
Apol. App. 10, 8 = a.O. 86.
[22]
Apol. 46, 2 = 58.
[23]
Apol. App. 13, 3 = 88.
[24]
Vgl. E. Fascher: Vom L. des Heraklit und dem L. des Johannes, in: Frage und Antwort (1968) 117–133; J. M. Pfättisch: Der Einfluß Platos auf die Theol. Justins des Märtyrers (1910) 104–120. 129f.; R. Holte: L. Spermatikos. Christianity and Ancient philos. according to St. Justin's Apol. Studia theologica 12 (1958) 109–168; vgl. auch Art. ‹Logoi spermatikoi›.
Literaturhinweise s. Anm. [1. 7. 13f. 24].