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Nunc stans

Nunc stans 2805 10.24894/HWPh.2805 Hermann Schnarr
Metaphysik Verharren nunc permanens6 989 menein (μένειν)6 989 Verweilen duratio successiva/stans6 990 zugleich6 991 Augenblick Blick, metaphysischer6 991
Nunc stans (stehendes Jetzt) ist eine Formel für Ewigkeit. Der Begriff ‹N.s.› entsteht aus der Diskussion um das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit. Platon beschreibt die Zeit als «bewegtes Bild der Ewigkeit» (εἰκὼ κινητὸν αἰῶνος) [1]. Die Zeit entfaltet sich in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft; der Ewigkeit aber kommt nur Gegenwart zu. Daher ist die Zeit ein Bild «der in einem verharrenden Ewigkeit» (μένοντος αἰῶνος ἐν ἑνί) [2]. In der Tradition dieser Definition wird die Ewigkeit bestimmt als zeitloses Jetzt, wobei das μένειν das Dauern und Verharren und das ἕν das Jetzt ausdrücken [3]. So wird von Plotin die Ewigkeit bezeichnet als ein «Verharren im Einen» (μένειν ἐν ἐνί) [4]. Proklos beschreibt die Ewigkeit als «alles in dem Jetzt» (πάντα ἐν τῷ νῦν) [5] und mit einem Zitat aus Jamblichs Timaioskommentar als «in dem Jetzt verharrend» (ἐν τῷ νῦν μένον) [6].
Diese platonische Tradition wird dem Mittelalter durch Boethius vermittelt, der die Formel ‹N.s.› so nicht kennt, obwohl z.B. Thomas von Aquin sie unter Berufung auf Boethius zitiert [7]. Boethius unterscheidet zwischen dem menschlichen Jetzt, das «gleichsam laufende Zeit», und dem göttlichen Jetzt, das dagegen «verharrendes Jetzt» (nunc permanens) ist und die Ewigkeit Gottes ausmacht. «Nostrum nunc quasi currens tempus facit et sempiternitatem, divinum vero nunc permanens neque movens sese atque consistens aeternitatem facit» (Unser Jetzt bewirkt gleichsam die fortlaufende Zeit und die Immerwährendheit, das göttliche Jetzt aber, verharrend und nicht sich bewegend und beständig, bewirkt die Ewigkeit) [8]. Das ‹Nunc permanens› zeigt sich als eine Übersetzung der griechischen Begriffe νῦν[9] und μένειν[10]. Für den Gedanken der Ewigkeit als ständig verharrendes Jetzt wurde auch die Definition der Ewigkeit als «interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio» (der ganze und zugleich vollendete Besitz unbegrenzbaren Lebens) [11] wichtig. Auch diese Bestimmung erweist sich als Übernahme neuplatonischer Gedanken [12]. Die Umbildung des ‹Nunc permanens› des Boethius zum ‹N.s.› ist möglicherweise beeinflußt vom Gedanken der «stehenden Jahre» Gottes (anni stantes) von Augustinus[13] und der Ewigkeit Gottes als einer «immer stehenden» (semper stans) [14].
Durch die Bedeutung, die die Schriften des Boethius für die mittelalterliche Philosophie hatten [15], wird auch der Begriff der Ewigkeit als Nunc permanens übernommen (Kommentare zu den ‹Opuscula sacra› und zur ‹Consolatio› [16]). So setzt Gilbert de la Porrée in seinem Kommentar zu ‹De Trinitate› Gott in Gegensatz zur Gegenwart der zeitlichen Dinge: «Divinum vero nunc, id est instans, quod significatur, cum dicitur Deus nunc est: vere permanens ...» (Das göttliche Jetzt aber, das ist der Augenblick, der angezeigt wird, wenn gesagt wird: Gott ist Jetzt, [ist] wahrhaft verharrend ...) [17]. Auch andere mittelalterliche Kommentare zu Boethius bleiben bei der Formel ‹Nunc permanens› [18].
Auf die Umbildung von ‹Nunc permanens› zu ‹N.s.› hat vielleicht auch die Unterscheidung des ‹Liber de causis› von ewiger und zeitlicher Dauer Einfluß gehabt. Nur der ewigen Dauer kommt das Prädikat ‹stehend› (stans) zu, der zeitlichen hingegen ‹fortlaufend› (currens) [19].
Albertus Magnus beschreibt die Ewigkeit Gottes als N.s. und beruft sich für diesen Terminus auf Boethius [20]. Er hält die Formel für angemessen zur Charakterisierung der Ewigkeit und bezieht sich dabei auf Gilbert de la Porrée. «Ita est una singularis et individua et simplex et solitaria mora, nunc stans, quae vocatur aeternitas» (So ist Gott ein einziges, einzigartiges, einmaliges, einfaches und alleiniges Verweilen, stehendes Jetzt, das Ewigkeit genannt wird) [21]. Vor allem die Erläuterung von ‹mora› durch ‹N.s.› ist eine Hinzufügung von Albertus Magnus, vielleicht in Erinnerung an den Begriff ‹instans› des Gilbert de la Porrée. Eine andere Stelle [22] erinnert an die Beschreibung der Ewigkeit aus dem ‹Liber de causis›. Die Dauer der Zeit ist eine «duratio successiva», die der Ewigkeit dagegen «duratio stans»; sie besteht substantiell aus dem Jetzt (nunc), einem Jetzt, das «manens et stans» (verharrend und stehend) ist.
Von Albertus Magnus übernimmt wahrscheinlich auch Thomas von Aquin den Begriff ‹N.s.›, zugleich mit der Berufung auf Boethius für diese Formel [23].
Th. Hobbes kennt die Formulierung ‹N.s.› als einen festen Terminus der Schulphilosophie, die er heftig kritisiert. ‹N.s.› ist für ihn kein angemessener Begriff zur Beschreibung der Ewigkeit, die vielmehr «an endless succession of time» ist [24]. Eine stehende Gegenwart ist für Hobbes ebenso unverständlich wie für die Schulphilosophen selbst, die diesen Begriff verwenden [25].
A. Schopenhauer greift auf den Begriff des N.s. zurück, wenn er von der «Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich» spricht [26]. Das individuelle Leben des Menschen gehört der Welt der Erscheinung an, in der sich Werden und Vergehen abspielen; unser wahres Wesen dagegen ist das diesem Geschehen zugrunde liegende Prinzip. Durch die Zeit als «Form unseres Erkennens» [27] fassen wir alles Geschehen als in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich entfaltendes auf, «während das Wesen an sich selbst das alles nicht kennt, sondern im N.s. existiert» [28]. Schopenhauer beruft sich auf Kants Lehre von der Idealität der Zeit, aus der sich ergebe, «daß das eigentlich Wesentliche der Dinge, des Menschen, der Welt, bleibend und beharrend im N.s. liegt, fest und unbeweglich» [29]. Trotz allen Wechsels in der Zeit bleibt das zugrunde liegende Ding an sich, der Wille, das Unbewegliche. Einem über die bloße Erscheinung hinausgehenden Blick wird «das N.s. im Mittelpunkt des Rades der Zeit klar und sichtbar» [30]. Unser «Wesen an sich», der Wille zum Leben, wird vom Lauf der Zeit nicht betroffen und ist «in immerwährender Gegenwart» da [31]. Der Unterschied von Vergangenheit und Gegenwart fällt weg, wenn wir versuchen, die aufeinanderfolgenden Vorgänge des menschlichen Lebens «als auf ein Mal und zugleich und immer vorhanden, im N.s.», vorzustellen, «während nur scheinbar jetzt Dies, jetzt Das ist» [32]. Die Gegenwart, die empirisch betrachtet kaum zu fassen ist, stellt sich «dem metaphysischen Blick, der über die Formen der empirischen Anschauung hinwegsieht, als das allein Beharrende dar, das N.s. der Scholastiker» [33], die damit den Unterschied zwischen endloser Zeit und Ewigkeit betonten [34]. Die Erwähnung des «nunc stans der Scholastiker» bei Th. Mann wird eine Reminiszenz von dessen Schopenhauerlektüre sein [35]. Später hat F. Rosenzweig den Begriff ‹N.s.› wiederaufgenommen. N.s. bedeutet, daß «sich der Mensch von der Vergänglichkeit des Augenblicks erlöst» und dieser zum immer «wieder neu Angehenden und also Unvergänglichen, ... zur Ewigkeit umgeschaffen» wird [36].
[1]
Platon, Tim. 37 d 5.
[2]
a.O. 37 d 6.
[3]
Vgl. W. Beierwaltes: Plotin. Über Zeit und Ewigkeit (Komm. zu Enn. III, 7) (1967) 170ff.
[4]
Plotin, Enn. III, 7, 35.
[5]
Proklus, In Plat. Tim. comm., hg. E. Diehl (1903–1906) 1, 291, 8f.
[6]
a.O. 3, 33, 3.
[7]
Thomas von Aquin, S. theol. I, 10, 2, ob. 1.
[8]
Boethius, De trin. IV, 72–74, hg. Stewart/Rand (London 1918).
[9]
Vgl. Beierwaltes, a.O. [3] 170ff.
[10]
164ff.
[11]
Boethius, Cons. philos. V, 6, 4.
[12]
Vgl. Beierwaltes, a.O. [3] 198ff.
[13]
Augustinus, En. in Ps. CI, ser. 2, nr. 14, 47 = Corp. Christ., Ser. lat. 40, 1449.
[14]
Conf. XI, 11, 13; vgl. Beierwaltes, a.O. 171 und Platonismus und Idealismus (1972) 29–37, bes. 31 Anm. 109.
[15]
Vgl. M. Grabmann: Die Gesch. der scholast. Methode 1 (1909) 148ff.
[16]
Vgl. Die theol. Erkenntnis- und Einleitungslehre des Hl. Thomas von Aquin auf Grund seiner Schrift «In Boethium de Trinitate» (1948) 1–13.
[17]
N. M. Häring (Hg.): The commentaries on Boethius by Gilbert of Poitiers (Toronto 1966) 131. 80ff. nr. 81 = MPL 64, 1288 C 7ff.
[18]
Vgl. Commentaries on Boethius by Thierry of Chartres and his School, hg. N. M. Häring (Toronto 1971) 107, 8–25 nr. 43f.; 209, 5–21 nr. 72; 291, 39–53 nr. 30; 384, 47–385, 62 nr. 72; vgl. N. M. Häring: Life and works of Clarembaldus of Arras (Toronto 1965) 171 nr. 78; Alexander Halensis, S. theol. lib. I, pars I, inqu. I, tr. II, membr. III, cap. I, ob. I = Bd. 1, S. 99.
[19]
Die pseudoarist. Schrift über das reine Gute bekannt unter dem Namen Liber de Causis, hg. O. Bardenhewer (1882) 189.
[20]
Albertus Magnus, S. de creaturis p. I, tr. II, qu. III, art. II. Opera, hg. A. Borgnet (Paris 1890–1899) 34, 341 a; vgl. dazu ebda. art. V = 356 b.
[21]
a.O. 348 a; dazu vgl. Anm. 17 Häring, a.O. [18] 131, 89ff. nr. 82.
[22]
Albertus Magnus, S. theol. p. I, tr. V, qu. XXII, membr. I, ad 2. Opera a.O. 31, 158; vgl. Komm. zum ‹Liber de causis›. Opera 10, 446f. und: Super Dionysium De div. nom. 10. Opera omnia, hg. B. Geyer u.a. 37/1 (1972) 401.
[23]
Vgl. Thomas von Aquin, S. theol. I, 42, 2, ad 4; I, 20, 2, ob. 1 et ad 1m; I Sent. dist. 19, qu. 2, a. 2, ob. 3, hg. Vives 7, 245; vgl. dazu auch I Sent. dist. 8, qu. 2, a. 1 = Vives 7, 106: Stellungnahme zur Ewigkeitsdefinition des Boethius aus der Cons. philos.
[24]
Th. Hobbes, Leviathan IV, 46. Engl. Works 3 (London 1839, ND 1966) 677.
[25]
a.O. 677; vgl. Parallelstelle der lat. Version in: Opera philos. (London 1839–1845) 3, 500.
[26]
A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung (=WWV) II, 4, 41, 542. Sämtl. Werke, hg. E. Grisebach (= SWG) (21919ff.) 2, 527.
[27]
a.O. 552 = SWG 2, 568.
[28]
(Parerga und Paralipomena = PP) II, 3, § 29, S. 40 = SWG 5, 51.
[29]
WWV 2, 558= SWG 2, 575.
[30]
WWV 2, 548 = SWG 2, 565.
[31]
WWV2, 547 = SWG 2, 563; vgl. 1, 366.
[32]
WWV2, 547 = SWG 2, 563.
[33]
WWV 1, 329 = SWG 1, 365.
[34]
PP II, 3, § 29, S. 39 = SWG 5, 49.
[35]
Th. Mann, Doktor Faustus. Ges. Werke 6 (21974) 51.
[36]
F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung. Ges. Schr. 2 (1976) 323.
H. Aby: Schopenhauer und die Scholastik (Colmar 1930) 69–71. 100f. – W. Beierwaltes s. Anm. [3].