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Pathognomik

Pathognomik 2960 10.24894/HWPh.2960 Robert Kirchhoff
Psychologie Semiotik der Affekte
Pathognomik. Der Terminus ‹P.› wurde von G. Ch. Lichtenberg[1] im Kampf gegen die Physiognomik, insbesondere diejenige J. C. Lavaters[2], geprägt. Unter ‹P.› – oder «Semiotik der Affekte», wie er ‹P.› auch umschrieb – verstand Lichtenberg die «Kenntnis der natürlichen Zeichen der Gemütsbewegungen nach allen ihren Gradationen und Mischungen». Diese Begriffsbestimmung ist in wesentlichen Momenten bis in die Gegenwart bewahrt geblieben und hat auch bei führenden Autoren der älteren und mittleren Ausdruckskunde, z.B. C. G. Carus[3], Th. Piderit[4], L. Klages[5], Ph. Lersch[6], zur Unterscheidung der P. von einer Physiognomik (und Organoskopie) geführt.
Nachdem an der Schwelle zur modernen Ausdrucksforschung zuletzt K. Bühler in seiner ‹Ausdruckstheorie› für eine scharfe Trennung von Physiognomik und P. plädiert hatte [7], bezeichnet ‹P.› heute innerhalb der Ausdruckspsychologie eine neben der Physiognomik stehende, begrifflich weitgehend geklärte, sachlich umfängliche und bedeutende Region des Ausdrucksgebietes.
Begrifflich wird die P. durch Thematisierung der Ausdrucksmedien (Ausdruckserscheinungen) unter funktional-dynamischem Aspekt konstituiert. Sie umfaßt dergestalt alle persongebundenen Erscheinungen dynamischen Gepräges, in denen aktuelles und überdauerndes personales Sosein (Befindlichkeit/Wesensart) im strengen Sinne «zum Ausdruck» kommt. Der derart umgrenzte Begriff von P. ist nur zum Teil identisch mit den früher geläufigeren des «Bewegungs-» und «Zustandsausdrucks».
Sachlich umfaßt die P. alle ausdruckshaltigen personalen Erscheinungen, unter Ausschluß der an die relativ statische Leibestektonik gebundenen (letztere sind Gegenstand der Physiognomik).
Hauptbezirke der P. sind danach im einzelnen: die Mimik (= motorische Ausdruckserscheinungen im Gesicht, einschließlich mimischer Haltungen und Spuren); die Pantomimik (= motorische Ausdruckserscheinungen des ganzen Körpers, insbesondere der Extremitäten, einschließlich von Haltungsweisen); die vegetativen Ausdruckserscheinungen (Erröten, Erblassen, Zittern, Mikrovibration usw.); die Ausdrucksanteile von Aktionen und Handlungen; die Ausdrucksanteile von Laut- und Gebärdensprache (Ausdruckspsychologie der Stimme, insbesondere Sprechstimme, und der Gebärden).
[1]
G. Ch. Lichtenberg: Über Physiognomik wider die Physiognomen (1778). Schr. und Br., hg. W. Promies 3 (1972) 256–296, bes. 264.
[2]
J. C. Lavater: Physiognom. Fragmente ... 1–4 (1775–1778).
[3]
C. G. Carus: Grundzüge einer neuen und wissenschaftl. begr. Cranioscopie [Schädellehre] (1841).
[4]
Th. Piderit: Wissenschaftl. System der Mimik und Physiognomik (1867).
[5]
L. Klages: Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundl. der Wiss. vom Ausdruck (1913).
[6]
Ph. Lersch: Gesicht und Seele (1932).
[7]
K. Bühler: Ausdruckstheorie. Das System an der Gesch. aufgez. (1933).
K. Bühler s. Anm. [7]. – G. Kafka: Grundsätzl. zur Ausdruckspsychol. Acta psychol. 3 (1937) 273–314. – F. J. Buytendijk: Allg. Theorie der menschl. Haltung und Bewegung (1956). – R. Kirchhoff: Allg. Ausdruckslehre (1957); Vom Ausdruck des Menschenblicks. Stud. Generale 13 (1960) 585–606; Die Umfelder des pathognomischen Ausdrucks. Jb. Psychol, Psychotherapie und med. Anthropologie 9 (1962) 42–55; Methodol. und theoret. Grundprobleme der Ausdrucksforsch. Stud. Generale 15 (1962) 135–156. (Hg.): Hb. der Psychol. 5 (1965) Kap. 4. 9. 10. – S. Honkavaara: The psychol. of expression. Brit. J. psychol. Monogr., Suppl. XXXII (Cambridge 1961).