Spekulation ist abgeleitet von lat. ‹speculari› ([umher-] spähen), welches ursprünglich das Ausspähen und Auskundschaften von einer Warte (specula, vgl. griech.
σκοπιά, σκέπτομαι) aus bezeichnet, aber schon früh auf andere Bereiche übertragen wird
[1]. Philosophisch bedeutsam wird ‹S.› in zwei unterschiedlichen Denktraditionen mit einer je verschiedenen Vorgeschichte: 1) ‹S.› bezeichnet zuerst eine bestimmte Stufe und Weise der Gottesbetrachtung, die von anderen (cognitio, contemplatio, visio) unterschieden wird. Mit dieser Bedeutung eng verbunden, jedoch etymologisch von ‹speculum› (‹Spiegel›, s.d.) abgeleitet, ist die Auslegung von S. als einer spezifischen Erkenntnisform der Reflexion (s.d.), in welcher Spiegelndes (Geist, Natur) und Gespiegeltes (Gott) in ein sich gegenseitig verdeutlichendes Verhältnis gestellt sind. Dieser platonisch-augustinische Gedanke
[2] prägt den Begriff bis in die Neuzeit. – 2) Davon unterschieden wird ‹S.› als Übersetzung für
θεωρία (θεωρητικός) in der aristotelischen Tradition ein Gegenbegriff zu ‹Praxis› (s.d.) und als solcher sowohl für die Einteilung der Wissenschaften als auch für die Unterscheidung der Erkenntnisvermögen relevant. Eine klare begriffliche Distinktion zwischen ‹S.› und ‹Kontemplation› (s.d.), zumal bei der Übersetzung von
θεωρία, ist nicht immer gegeben; im Verlauf der Geschichte und bei einzelnen Denkern verbinden und beeinflussen
sich beide Traditionsstränge. – 3) Mit der frühen Neuzeit setzt eine sich kontinuierlich verstärkende Kritik an der S. ein. Die Abwertung und Unterordnung der S. unter das praktische Interesse erreichen bei Kant ihren systematischen und wirkungsgeschichtlichen Höhepunkt. – 4) Mit einer Kritik an der Kritik der S. wird der Begriff im Deutschen Idealismus positiv erneuert. Unter Aufnahme spezifischer Vorgaben der Tradition bezeichnet ‹S.› nun eine vornehmlich der Vernunft vorbehaltene Denkform. – 5) Nach dieser exponierten und zentralen Stellung hat der Begriff im 19. Jh. vor allem negative Konjunktur: ‹S.› wird mit systematischem Denken – vor allem dem Hegelschen – gleichgesetzt und radikal kritisiert. Im 20. Jh. verliert der Begriff an Bedeutung; mit der Konzentration der Philosophie auf die Probleme der Sprache finden sich nur noch vereinzelt Versuche, philosophisches Denken mit dem Begriff ‹S.› zu explizieren.
1.
Neuplatonisch-christliche Schau. –
Augustinus[3] legt im Zusammenhang seiner vom neuplatonischen Gedanken des Aufstiegs der Seele geprägten Bibelexegese den Berg Zion als Bild für S. aus. S. geht der Schau («visio pacis», allegorisch dargestellt als Stadt Jerusalem) vorher («praecedit autem speculatio visionem») und wird dieses Zieles wegen durchlaufen («agimus autem speculationem, ut perveniamus ad visionem»). Damit ist eine einflußreiche Unterscheidung von ‹visio› als der vollendeten Schau der Gottheit und ‹S.› als deren unvollendeter Vorstufe getroffen. Der Sache nach und für die Geschichte des Begriffs wirkungsvoll, obgleich das Wort ‹S.› nicht fällt, ist die Auslegung von 2. Kor. 3, 18 («wir aber schauen [speculantes/
κατοπτριζόμενοι] mit unverhülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel und werden dadurch in sein Bild verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, wie es vom Geist des Herrn gegeben wird»): Im Zusammenhang mit 1. Kor. 13, 12 leitet Augustin «speculantes» vom Sehen durch einen Spiegel und nicht von einer Warte aus ab («
Speculantes dixit,
per speculum videntes, non de specula prospicientes»)
[4].
Johannes Scotus Eriugena beschreibt in seinen Erläuterungen zu den ‹Himmlischen Hierarchien› des Ps.-Dionysius Areopagita den Aufstieg der menschlichen Seele («humanus animus»), die, da alle Dinge am höchsten Gut teilhaben, aufgrundder Ähnlichkeit («similitudine») der unteren Güter zu diesem zur Betrachtung der höheren aufsteigen kann. Der Ausgang von den materiellen Dingen wird zum Anlaß und Anfang der S. über intelligible Dinge («ex rebus materialibus speculationis intelligibilium occasio sumatur»)
[5]. Ebenfalls in diesem Zusammenhang unterscheidet
Bernhard von Clairvaux von der «contemplatio», die ihre Erfüllung erst im Jenseits findet, die «consideratio» als den Weg zur Schau und die Suche nach der Wahrheit
[6]. Der Weg zu Gott kann auf drei Weisen beschritten werden: mit Hilfe der Sinne und der sinnlichen Dinge, durch kluges Erforschen («prudenter scrutans») oder durch die spekulative Besinnung, die sich in sich sammelt und sich mit göttlicher Hilfe von den menschlichen Dingen zur Kontemplation Gottes befreit. «Speculativa est consideratio se in se colligens et, quantum divinitus adiuvatur, rebus humanis eximens ad contemplandum Deum»
[7].
Richard von St. Viktor[8] unterscheidet sechs Arten der Kontemplation, die einen bestimmten Bezug zu den Erkenntnisvermögen (imaginatio, ratio, intelligentia) haben. Mit der dritten Art erkennt man im Verstand, aber gemäß dem Vorstellungsvermögen («in ratione
secundum imaginationem»); «diese Art der Kontemplation ... gebrauchen wir, wenn wir von der Ähnlichkeit der sichtbaren Dinge zur S. der unsichtbaren Dinge emporgehoben werden» («Hoc autem contemplationis genere ... utimur, quando per rerum visibilium similitudinem in rerum invisibilium speculationem sublevamur»). In einer Psalmauslegung
[9] wird die Metaphorik vom Aufstieg der Seele mit der vom Sehen im Spiegel verschränkt. Diejenigen, die spekulieren («speculativi»), werden mit Hügeln verglichen («per colles speculativos ... intelligimus»), die nach dem begehren, was nur in der Höhe ist («qui sola quae sursum sunt quaerunt»). Zwar erheben sie sich damit über die Tätigen, die mit Feldern verglichen werden, aber sie erreichen nicht die Höhe richtiger Berge, die für die Kontemplativen stehen, denn sie können das Gewölk der körperlichen Ähnlichkeiten auf keine Weise überschreiten, weil sie die höchste Wahrheit nicht in ihrer Reinheit sehen können («speculativi corporalium similitudinum nubila nullo modo transcendunt, quia summam veritatem in sua puritate videre non possunt»). Daher werden sie ‹spekulativ› genannt, weil sie nur im Spiegel und im Gleichnis erkennen können («speculativi dicti sunt, quia nonnisi per speculum et in aenigmate videre possunt»).
Petrus Lombardus[10] räumt der S. die geläufige Mittelstellung bei der Erkenntnis ein, indem sie weder der Wissenschaft – als Verwaltung («administratio») der zeitlichen Dinge – noch der Weisheit – als der Kontemplation der einzigen, ewigen Wahrheit –, sondern dem Erkenntnisvermögen als dem Betrachten des Schöpfers und der unsichtbaren Schöpfungen («intelligentia ad Creatoris et creaturarum invisibilium speculationem») angehört.
Hildegard von Bingen[11] akzentuiert den selbstreflexiven Aspekt der S. Eine Erkenntnis ist spekulativ, weil sie selbst gleichsam ein Spiegel ist («scientia haec est speculativa, quia ipsa est quasi speculum»); durch die spekulative Erkenntnis sehen und bedenken die Menschen ihre Taten («per eam homines actus suos vident et considerant»).
Die augustinische Herleitung des Begriffs vom Paulus-Wort ist auch
Heinrich Seuse bekannt: «wan als Paulus seit: ‘die creaturen sind als ein spiegel, in dem got widerlúhtetʼ. und dis bekennen heisset ein speculieren»
[12]. Das spekulative Erkennen Gottes gewährt der Seele die größte Freude: «von diesem speculieren dringet bald uf in einem enpfenklichen menschen ein herzkliches jubilieren»
[13].
Thomas von Aquin kennt die augustinische Herleitung des Begriffs, er gibt sie jedoch etwas modifiziert wieder: «speculatio dicitur a speculo, non a specula. Videre autem aliquid per speculum est videre causam per effectum, in quo eius similitudo relucet; unde speculatio ad meditationem reduci videtur» («‹S.› kommt von ‹Spiegel›, nicht von ‹Warte›. Denn etwas durch den Spiegel zu sehen ist die Ursache durch den Effekt zu sehen, in dem ihre Ähnlichkeit widerscheint; daher scheint es, daß S. auf Meditation zurückgeführt werden kann»)
[14]. Medium der S. sind die «geschaffenen Dinge» («res creatae»)
[15]. Die Begriffe ‹spekulativ› und ‹kontemplativ› werden manchmal synonym gebraucht
[16], hinsichtlich der Gotteserkenntnis aber unterscheidet Thomas mit diesen Begriffen eine intuitive von einer eher vermittelten, diskursiven Erkenntnis: «nomen contemplationis significat illum actum principalem quo quis Deum in se ipso contemplatur; sed speculatio magis nominat illum actum quo quis divina in rebus creatis
quasi in speculo inspicit» («das Wort ‹Kontemplation› bedeutet jene hauptsächlichste Handlung, durch welche jemand in sich selbst Gott betrachtet; ‹S.› aber benennt mehr jene Handlung, durch welche jemand das Göttliche in den geschaffenen Dingen wie in einem Spiegel erblickt»)
[17]. ‹S.› wird überdies bedeutsam im Kommentar zum Buch X der ‹Nikomachischen Ethik› des Aristoteles; dort heißt es an vielen Stellen, daß «Glückseligkeit hauptsächlich S. sei» («felicitas principaliter sit quaedam speculatio»)
[18]. Der Stellenwert von ‹S.› im Werk von Thomas variiert zwischen einer eher anthropologischen und einer eher theologischen Bedeutung, je nachdem, ob auf den aristotelischen Begriff von S., der Ziel und Glückseligkeit des Menschen bedeutet, oder auf den neuplatonisch-christlichen Begriff rekurriert wird, der primär eine mittelbare und unvollendete Stufe der Gottesbetrachtung bezeichnet.
Bonaventura verortet S. innerhalb des von ihm systematisierten augustinisch-neuplatonischen Aufstiegsgedankens. Der Weg des menschlichen Geistes zu Gott
[19] führt von den sinnlichen Dingen über die Selbsterkenntnis zum Licht der ewigen Wahrheit. Bei den Stufen der Gotteserkenntnis von «cogitatio» über «meditatio», «speculatio», «contemplatio» zur «intuitiva visio» steht «speculatio» in der Mitte und hat sowohl Anteil am Verstand («ratio») als auch an der Vernunft («intelligentia»); sie überschreitet sich selbst und endet in Kontemplation, die reine Vernunfttätigkeit ist: «Speculatio, quia partim oritur ex ratione, et partim ex intelligentia, transit et terminatur in contemplationem»
[20]. Die übliche Mittelstellung
[21] nimmt die S. auch bei der Unterscheidung von sieben Graden der Kontemplation ein, die mit dem Feuer der göttlichen Hitze und Liebe beginnt und sich in der Glorie vollendet: «Speculatio est beatorum et supercoelestium, et soli Deo scibilium divitiarum intellectualis et affectualis pia investigatio» («S. ist die intellektuelle und affektive fromme Erforschung der beglückenden, überhimmlischen und durch Gott allein wißbaren Reichtümer»)
[22]. Der Begriff ‹S.› ist nicht nur in spirituellen Kontexten, sondern auch bei den ethischen Fragen relevant, die die rechte Lebensführung («rectitudo vivendi») betreffen, denn S. kann entweder bei sich selbst bleiben oder in eine Wirkung oder in einen Affekt übergehen («Speculatio autem consistens in se, aut transit in effectum, aut affectum»)
[23]. Für die Lebensführung sind insbesondere die letzteren Modi der S. wichtig, die in fünf unterschiedliche Tätigkeiten untergliedert werden: Wenn ein Verstehen in eine Wirkung übergeht, betreibt man «ars», über die «scientia» gelangt man zur «prudentia», welche mittels der «intelligentia» zur «sapientia» aufsteigt, bei der das Verstehen in Affekt übergegangen ist. Bonaventura bleibt bei der für die Franziskaner (seit Alexander von Hales) üblichen Bezeichnung der Theologie als affektiver Wissenschaft, die einen spekulativen und einen praktischen Aspekt umfaßt
[24]. Was ‹affektiv› hier bedeutet, zeigen die Ausführungen zum Intellekt. Spekulativer und praktischer Intellekt unterscheiden sich darin, «daß der spekulative Intellekt das Wahre im Bedenken des Wahren erkennt, der praktische Intellekt aber das Wahre im Bedenken des Guten erkennt. Daher wird der spekulative Intellekt die spekulative Erkenntnis genannt; aber den praktischen nennt man affektive Erkenntnis» («quod intellectus speculativus cognoscit verum in ratione veri, practicus autem cognoscit verum in ratione boni. Item intellectus speculativus vocatur cognitio speculativa; sed practicus dicitur cognitio affectiva»)
[25].
In dem im Mittelalter oft Bonaventura zugeschriebenen Werk ‹Viae Sion lugent› von
Hugo von Balma[26] hat das mystische Denken eine Form angenommen, in der die affektive Erfahrung radikal über die intellektuale Betrachtung gestellt ist und den einzigen Weg zur Annäherung an Gott darstellt: «nulla est contemplatio speculativa, quae habet virtutem transformandi, sed solus amor extensivus deificans» («es gibt keine spekulative Kontemplation, die eine transformierende Kraft besitzt, sondern einzig die entfaltete, vergöttlichende Liebe»)
[27].
Bei
Nikolaus von Kues findet sich bereits eine spezifische Verwendung des Begriffs, die erst später, vor allem im deutschen Idealismus, voll zur Geltung kommt. ‹S.› nimmt hier keine mittlere Stellung ein, sondern bezeichnet die Betrachtung des Göttlichen nach der Weise der Vernunft mittels spekulativer Künste
[28], die die Grenzen des Verstandes übersteigen. In der S. bemüht sich der menschliche Geist, die Denkgesetze des Verstandes zu transzendieren, indem er einsieht, daß sie nur für den Verstand uneingeschränkte Gültigkeit haben. Entsprechend versteht sich die Schrift ‹Die Anleitung des Spekulierenden oder über das Nicht-andere›
[29] als eine Anleitung «für den Weg zur Schau des Ersten, das alles in allem ist» («ad visionis primi viam, quod omnia in omnibus est»
[30]). Auch ‹Die Jagd nach Weisheit› – eingerahmt von Bemerkungen zu Zweck und Möglichkeit der S.
[31] – enthält verschiedene Versuche, das Absolute auf spekulative Weise zu denken. In der ‹Schrift vom Geist› beschreibt Cusanus die Bedeutung von ‹S.› allgemein: «Auf diese Weise betrachtet er [der Geist] alles als Eines und sich selbst als Angleichung an jenes Eine, durch welche er Begriffe bildet vom Einen, das alles ist, und so bringt er theologische S.en hervor, in denen er sich gleichsam am Ende aller Begriffe in höchster Lust, in der glückseligen Wahrheit seines Lebens, ausruht» («Et hoc modo intuitur [mens] omnia unum et se illius unius assimilationem, per quam notiones facit de uno, quod omnia, et sic facit theologicas speculationes, ubi tamquam in fine omnium notionum quam suaviter ut in delectabilissima veritate vitae suae quiescit»)
[32]. ‹S.› meint aber die Ruhe in der «Bewegung des Geistes» («est speculatio motus mentis»)
[33], die, da sie ihr Ziel niemals vollständig erreichen kann, niemals aufhört: Sie ist deshalb «die auf höchste Weise erfreuende Bewegung» («est motus summe delectabilis»)
[34]. Zwar übersteigt in der Erkenntnis die spekulierende Vernunft den Verstand, aber das Maß der Vollkommenheit der Erkenntnis kann nicht durch S.en endlicher Vernunft erreicht werden, sondern liegt ihr zugrunde. Man nennt dieses Maß «Theos oder Gott, gleichsam die S. oder Intuition selbst in ihrer vollkommenen Erfüllung des Alles-Sehens» («hunc nominant theon seu deum quasi speculationem seu intuitionem ipsam in suo complemento perfectionis omnia videndi»)
[35]. Obwohl endliche S. nicht allumfassend ist, ist sie doch als höchste Erkenntnisform bestimmt
[36]. S. ist damit nicht länger eine Vorstufe vor der eigentlichen Erkenntnis, sondern sie kann mit der vollendeten Gottesschau gleichgesetzt werden: «S. ist die Wohnung im Frieden. Denn sie ist die Ruhe des rationalen Geistes oder die höchste Glückseligkeit» («Speculatio est habitatio in pace. Nam est quies rationalis spiritus seu ultima felicitas»)
[37].
2.
Aristotelisches Schema. – Die aristotelische Wissenschaftseinteilung in praktische und spekulative Wissenschaften wird dem Mittelalter vor allem durch
Boethius
vermittelt
[38]. Er wählt als Übersetzung für
θεωρητικός den Begriff ‹speculativus›. In einem Kommentar zur ‹Isagoge› des Porphyrios heißt es: «est enim philosophia genus, species vero duae, una quae theoretica dicitur, altera quae practica, id est speculativa et activa» («es gibt nämlich eine Gattung ‹Philosophie›, aber zwei Arten, eine, die man theoretisch, die andere, die man praktisch nennt, d.h. spekulativ und aktiv»)
[39]. Der Einteilung des Aristoteles folgend, umfaßt die spekulative Philosophie Mathematik, Physik und Theologie
[40]. Die Einteilung, die sich auch in der seit dem frühen Mittelalter häufig kommentierten und exzerpierten Schrift ‹De trinitate›
[41] von Boethius findet, hat für das ganze Mittelalter Bedeutung.
Seit Beginn des 13. Jh. wird aufgrundder Übersetzungen und Kommentierungen der aristotelischen Schriften die Unterscheidung von spekulativen und praktischen Erkenntnisformen erneut und verstärkt virulent
[42]. Dadurch wird die Dominanz des platonisch-mystischen Verständnisses von ‹S.› wenn nicht abgelöst, so doch um eine wichtige Alternative bereichert. Es entsteht eine Diskussion über die Kriterien der Unterscheidung von spekulativen und praktischen Wissenschaften: Neben die aristotelische Einteilung der Wissenschaften nach dem Ziel (
τέλος, finis)
[43] treten jetzt einerseits seine Differenzierung der Wissenschaften nach dem Akt der Erkenntnis
[44] und andererseits seine Zuordnung von Einzelwissenschaft und spezifischem Gegenstandsbereich
[45], so etwa bei
Avicenna: «Et diximus quod speculativae sunt illae in quibus quaerit perfici virtus animae speculativa per acquisitionem intelligentiae in effectu, scilicet per adeptionem scientiae imaginativae et creditivae de rebus quae non sunt nostra opera nec nostrae dispositiones» («und wir sagten, daß jene (Wissenschaften) spekulativ sind, in welchen die spekulative Kraft der Seele sich zu vollenden sucht, und zwar durch den Erwerb der Einsicht in die Wirkung, d.h. durch das Erfassen der durch Vorstellung und Glauben vermittelten Wissenschaft von Dingen, die nicht unsere Werke und nicht durch uns eingeteilt sind»)
[46].
Die Einteilung von ‹spekulativ› und ‹praktisch› ist bei
Aristoteles und in der Aristoteles-Rezeption auch bei der Bestimmung der Vernunft wichtig. Neben der Hauptunterscheidung von tätiger und passiver findet sich die Unterscheidung von spekulativer und praktischer Vernunft, die Aristoteles nach dem Ziel der Erkenntnis bestimmt: Die praktische Vernunft überlegt auf einen Zweck hin und führt zum Handeln, während die spekulative Vernunft nichts denkt, was zum Handeln führt
[47]. Wie sich beide Einteilungen zueinander verhalten, ist bei Aristoteles nicht ausgeführt
[48].
In der zweiten Hälfte des 13. Jh. gewinnt die Einteilung in praktische und spekulative Wissenschaften neue Relevanz, wenn es um die kontrovers diskutierte Frage der Bestimmung der Theologie als praktischer oder spekulativer Wissenschaft geht. Denn einerseits richtet sich die Theologie auf die Erkenntnis und das Wahre, andererseits bezieht sie sich zugleich und hauptsächlich auf das Handeln der Menschen. Eine mehr an Augustinus ausgerichtete Tradition, die den Praxischarakter der Theologie akzentuiert
[49], steht neben einer stärker an Aristoteles orientierten, in welcher die Theologie primär als spekulative Wissenschaft verstanden wird
[50].
Bei
Johannes Gerson zeigt sich bereits eine Kritik an der spekulativen Schulphilosophie, doch steht er noch ganz in der Tradition von Ps.-Dionysius Areopagita, Chartres und Bonaventura und wendet sich gegen
die bloß intellektuelle Untersuchung Gottes innerhalb der spekulativen Schulphilosophie. Seine «mystische» Theologie stellt er neben die «scholastische»; in ‹De mystica theologia› wird «spekulative» Theologie zu der von ihm als unzureichend kritisierten Schultheologie
[51]. Während die spekulative Theologie die intellektuelle und diskursive Untersuchung ihres Gegenstandes zur Aufgabe hat und hierbei stehenbleibt, zielt die mystische Theologie auf die eigene religiöse Erfahrung und die Praxis des Glaubens ab. Das Ziel aller theologischen Bemühung, nämlich zu Gott zu gelangen, kann mit Hilfe der mystischen Theologie tatsächlich erreicht werden («Per theologiam misticam sumus in Deo»), durch spekulative Theologie aber ist dies unmöglich, man verbleibt in ständiger Unruhe mit dem hungrigen Verlangen («famelicum desiderium») nach Wahrheit.
Neben diesen theologischen und erkenntnistheoretischen Fragestellungen dient das Schema ‹spekulativ/praktisch› zur Einteilung der sich ausdifferenzierenden Disziplinen und Wissenschaften
[52]. Unter «spekulativer Grammatik» etwa versteht man die Form von Grammatik des 13. Jh., die nicht irgendeine Sprache lehrt, sondern im Ausgang von alten lateinischen Grammatiken versucht, das Wesen und die Organisation von Sprache – in der Literaturgattung ‹tractatus de modis significandi› – zu beschreiben
[53]. Die Einteilung in spekulative und praktische Wissenschaften wird insbesondere durch das Wirken der Schulphilosophie auch in der Neuzeit tradiert und differenziert
[54]. Die philosophiegeschichtlich entscheidenden Neuerungen des Begriffs ‹S.› jedoch vollziehen sich außerhalb der traditionellen Schulphilosophie.
3.
Neuzeitliche Umwertung. – Im Übergang vom 14. zum 15. Jh. vollzieht sich zunehmend, im Kontext einer Kritik an der Schultheologie und – Philosophie, eine in unterschiedliche Richtungen zielende Abwertung von ‹S.›, für die sich drei miteinander verflochtene Motive angeben lassen: a) Mit dem Humanismus verstärkt sich, gefördert durch die Rezeption von Texten der lateinischen Antike, die Selbstauslegung des Menschen als eines handelnden Lebewesens. – b) Die Reformation bewirkt eine Neubestimmung der Theologie, die eher am konkreten, praktischen Lebensvollzug als an spekulativer Betrachtung orientiert ist. – c) Angeregt durch die bekannt gewordenen realwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles, vollzieht sich eine Transformation des Wissenschaftsbegriffs, die im 16. Jh. dann die Möglichkeit einer Analyse der Natur ohne metaphysischen Anspruch und damit die Ausbildung moderner Naturwissenschaft zur Folge hat
[55].
a) Der Humanist
C. Salutati ist zwar der Meinung, daß sich die wahre Gotteserkenntnis und das Ziel des Menschen nicht durch spekulative Wissenschaften verwirklichen lasse; gegen mystische Ansätze und mit
Cicero[56] ist er jedoch der Auffassung, daß das aktive Leben die eigentliche Bestimmung des Menschen sei. Mit Bezug auf Augustinus räumt
Salutati ein, daß unter den verschiedenen Wissensformen den spekulativen vor den praktischen der Vorzug gegeben werden müsse; doch dieser Vorrang gilt eben nur dann, wenn man die Formen des Wissens, also Wissenschaft mit Weisheit vergleicht («scientiam sapientie comparabis»)
[57]. Das wahre und letzte Ziel des Menschen («extremus hominis finis») aber, nämlich die höchste Glückseligkeit, Gott so zu schauen, wie er ist, erreicht man weder durch die Wissenschaft noch durch menschliche S., sondern mit Gottes Gnade durch Tugenden und Taten
(«nec hoc adipisci possumus scientia vel speculatione humana sed Dei gratia per virtutes et operationes»).
Die Kritik des humanistischen Pragmatismus an der S. artikuliert sich auch bei
Ch. Landino: Der Weise, der sein Leben der S. widmet, wird mit einer «faulen Drohne»
[58] verglichen. Denn indem sich die Weisen der S. zuwenden, entziehen sie sich der öffentlichen Tätigkeit («qui ad res speculanda conversi rei publicae partes deserunt»)
[59], die nun als die eigentliche Aufgabe des Menschen bestimmt ist.
Daneben bestehen eher neuplatonisch und augustinisch inspirierte Positionen.
M. Ficino[60] etwa plädiert bei der Frage nach der Glückseligkeit in bezug auf die Unterscheidung von «moralischen und spekulativen Tugenden» («morales virtutes et speculativae»)
[61] dafür, die Glückseligkeit in den spekulativen Tugenden anzusetzen («in speculativis virtutibus ... beatitudo versatur»). Letztendlich aber besteht die Glückseligkeit für Ficino, in augustinischer Tradition, im Genießen Gottes durch den Willen («beatitudo autem fruitio Dei ... per voluntatem»)
[62].
b) Die mit dem Protestantismus einhergehende Neu bestimmung der Theologie führt verstärkt und nachhaltig zu einer Abwertung der S. zugunsten der Praxis
[63]. Für
M. Luther führt die spekulative Tätigkeit eher vom rechten Leben ab, als daß sie einen Weg dorthin zeigt: «dieweil sie das wort von Christo faren lassen und gaffen dieweil anderswohin unnd speculiren und reden von Christo nach der menschlichen vernunfft, komen sie imer weitter von Christo und werden zu narren dorüber»
[64]. Seine drastisch formulierte Kritik richtet sich vor allem gegen die Schultheologie, die ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt hat: «der Schultheologen Kunst mit ihrem Speculiren in der heiligen Schrift ist nichts denn lauter Eitelkeit und menschliche Gedanken nach der Vernunft ... Darum gehört solche speculativa Theologia in die Hölle zum Teufel»
[65].
Die Kritik an einem verkürzten Begriff von S. dehnt sich mit dem Protestantismus aus, so daß Bischof
L. Bayly in seinem bereits im 17. Jh. in weiten Teilen Europas verbreiteten Buch ‹Practise of Pietie› schreiben kann, daß Gott «die Practic und Übung der waaren Gottseeligkeit, allezeit lieber und angenehmer, als tieffsinnige Speculationes und hohe Geschicklichkeit und Verständnus, ohne Demut und angeregte wirckliche Übung gewesen ist»
[66].
c) Etwa zur selben Zeit vollzieht sich – mit der Rezeption der arabischen Wissenschaften und der realwissenschaftlichen Schriften des Aristoteles sowie aufgrundeines verstärkten Interesses an der Erschließung der empirischen Welt – eine Veränderung des Wissenschaftsverständnisses: Die bei der Betrachtung der Dinge verharrenden, nicht anwendungsbezogenen spekulativen Wissenschaften verlieren an Dignität und Relevanz. Für
J. Zabarella etwa bleibt zwar das Ziel der spekulativen Wissenschaften die Erkenntnis und die vollkommene Wissenschaft der Dinge («finis enim cuiusque scientiae speculativae est sola cogitatio, ac perfecta rerum scientia»)
[67]. Aber um dieses Ziel zu erreichen, ist es insbesondere bei den Wissenschaften von der Natur, deren Prinzipien nicht offen zutage liegen, sondern erst gefunden werden müssen – notwendig, vom empirisch Gegebenen methodisch zu den es bedingenden Prinzipien zu gelangen. Das sich bereits hier andeutende Wissenschaftsverständnis wird später nicht mehr unter dem Begriff der spekulativen Wissenschaften gefaßt werden.
F. Bacon definiert das Ziel der Wissenschaften bereits
im Geist des sich durchsetzenden Pragmatismus: Man solle die Wissenschaften nicht des Geistes wegen erstreben, sondern «zur Wohltat und zum Nutzen für das Leben»
[68]. Die Lage der Menschen wird «durch S. und Dogmen der Philosophie» («philosophiae speculationibus ac dogmatibus»)
[69] weder erleichtert noch verbessert. Dinge, die rein spekulativ sind, sind gleichsam von keinem Nutzen («mere speculativae, et quasi nullius usus»)
[70], sie gehören geradezu zu den ungesunden Dingen («speculationes humanae ... res malesana sint»)
[71].
Obwohl in der theoretischen Philosophie
G. W. Leibniz' die Begriffe ‹Reflexion› und ‹Spiegel› von zentraler Bedeutung sind, erhält hier der Begriff ‹S.› keine spezifische Funktion. Es findet sich jedoch bei Leibniz ein kritisch gegen den Pragmatismus gerichteter Gedanke, der bis auf Aristoteles
[72] zurückgeht und in welchem der Unterschied von S. und Praxis dialektisch aufgehoben wird
[73], indem auf die zentrale Bedeutung der S. für die Praxis hingewiesen wird: «Sentio enim omnem scientiam, quanto magis est speculativa, tanto magis esse practicam, id est tanto quemque ad praxin esse aptiorem, quanto rem quae ipsi tractanda est melius consideravit» («Ich meine, umso mehr eine Wissenschaft spekulativ ist, je mehr ist sie praktisch, das heißt, je mehr jemand zur Praxis geeignet ist, umso besser erwägt er die Sache, welche er selbst behandeln muß»)
[74].
Während
J. N. Tetens[75] versucht, Empirismus und S. miteinander ins Verhältnis zu setzen, indem er die «speculativische Philosophie» der «beobachtenden Philosophie» gegenüberstellt und deren jeweilige Vorteile und Mängel untersucht, und
D. Tiedemann[76] eine umfangreiche Geschichte der spekulativen Philosophie verfaßt, unternimmt
I. Kant es, Erkenntnisanspruch und Möglichkeit der Metaphysik, mithin der spekulativen Wissenschaft, kritisch zu überprüfen. Diese Prüfung nennt er ‹Kritik der reinen Vernunft›, unter Verwendung der scholastischen Termini und im Gegensatz zu ‹praktischer Vernunft› auch genauer: «Kritik der reinen speculativen Vernunft»
[77]. Bereits in der Einleitung zur KrV bemerkt Kant, der Nutzen einer Kritik der reinen Vernunft «würde in Ansehung der Speculation wirklich nur negativ sein, nicht zur Erweiterung, sondern nur zur Läuterung unserer Vernunft dienen und sie von Irrthümern frei halten, welches schon sehr viel gewonnen ist»
[78]. Und so ist gegen Ende der Untersuchung auch erwiesen, daß wir «durch Kritik unserer Vernunft endlich soviel wissen, daß wir in ihrem reinen und speculativen Gebrauche in der That gar nichts wissen können»
[79]. Hier verwendet Kant den Begriff des spekulativen Gebrauchs der Vernunft terminologisch: Spekulative Erkenntnis bezeichnet einen Teil der theoretischen Erkenntnis, der durch den Gegenstandsbereich bestimmt ist. «Eine theoretische Erkenntniß ist speculativ, wenn sie auf einen Gegenstand oder solche Begriffe von einem Gegenstande geht, wozu man in keiner Erfahrung gelangen kann. Sie wird der Naturerkenntniß entgegengesetzt»
[80]. Wird der Rahmen einer möglichen Erfahrung überschritten, erzeugt die spekulative Vernunft Schein, d.h. sie wird dialektisch: «speculative Vernunft in ihrem transscendentalen [sie] Gebrauche ist an sich dialektisch»
[81]. Diese Restriktion des Denkens ist innerhalb des kantischen Systems des Denkens (aber auch mit Blick auf die nachfolgende philosophische Selbstkritik) insbesondere im Kontext der kritischen Untersuchung der Ideen relevant. Denn die Ideen als Gegenstände der spekulativen Vernunft erhalten eine wichtige,
obgleich problematische Funktion für die Erkenntnis bei der Systematisierung der Verstandeserkenntnisse. Jede Verknüpfung von Erkenntnissen geschieht nach Prinzipien, denen die Idee einer systematischen Einheit zugrunde liegt, und ist damit ein Akt der spekulativen Vernunft. Die Prinzipien oder Maximen, nach denen die Vernunft hierbei verfährt, sind deshalb zwar subjektiv: «So giebt es Maximen der speculativen Vernunft, die lediglich auf dem speculativen Interesse derselben beruhen, ob es zwar scheinen mag, sie wären objective Principien»
[82]; dennoch haben die einheitsstiftenden Maximen der Vernunft objektive Bedeutung – nicht für sich selbst, sondern für die Gegenstandserkenntnis –, weil wir, ohne sie vorauszusetzen, «kein zureichendes Merkmal empirischer Wahrheit haben würden»
[83]. Die objektive Bedeutung der Ideen der spekulativen Vernunft läßt sich transzendental erweisen: Denn wenn gezeigt werden kann, daß «alle Regeln des empirischen Gebrauchs der Vernunft unter Voraussetzung eines solchen Gegenstandes in der Idee auf systematische Einheit führen und die Erfahrungserkenntniß jederzeit erweitern, niemals aber derselben zuwider sein können: so ist es eine nothwendige Maxime der Vernunft, nach dergleichen Ideen zu verfahren. Und dieses ist die transscendentale Deduction aller Ideen der speculativen Vernunft, nicht als constitutiver Principien der Erweiterung unserer Erkenntniß über mehr Gegenstände, als Erfahrung geben kann, sondern als regulativer Principien der systematischen Einheit des Mannigfaltigen der empirischen Erkenntniß überhaupt»
[84]. Diese Deduktion legitimiert zwar die regulative Funktion der Ideen – mithin den spekulativen Gebrauch der Vernunft –, nicht aber deren konstitutive Verwendung. In Ansehung von rein spekulativen Erkenntnissen gibt es überhaupt keinen Rechtsgrundzur Prüfung ihrer Gültigkeit: «im speculativen Erkenntnisse» steht eine Behauptung gegen die andere, ohne daß entschieden werden kann, welche vorzuziehen ist. Obwohl also «bei bloß speculativen Fragen der reinen Vernunft» der konstitutive, dogmatische Gebrauch der Vernunft nicht möglich ist, so ist doch ein «polemischer» legitim, d.h. ein Gebrauch, der «die bloße Vereitelung der Scheineinsichten des Gegners»
[85] bewirkt. Denn es zeigt sich, «daß die Grenzen, die sie [die Vernunft] ihrem speculativen Gebrauche zu setzen genöthigt ist, zugleich die vernünftelnde Anmaßungen jedes Gegners einschränken»
[86]. Zu einer Erweiterung positiver Erkenntnis kann es also durch den
spekulativen Gebrauch der reinen Vernunft nicht kommen. Erst später wird sich zeigen, «daß doch in Ansehung des
praktischen Gebrauchs die Vernunft ein Recht habe, etwas anzunehmen, was sie auf keine Weise im Felde der bloßen Speculation ohne hinreichende Beweisgründe vorauszusetzen befugt wäre»
[87].
In der ‹Kritik der praktischen Vernunft› zeigt Kant in der Tat, wie der reine praktische Gebrauch der Vernunft die objektive Realität von Ideen, wenngleich nur in praktischer Hinsicht, garantiert. Die Postulate der reinen praktischen Vernunft geben «den Ideen der speculativen Vernunft im Allgemeinen (vermittelst der Beziehung aufs Praktische) objective Realität und berechtigen sie zu Begriffen, deren Möglichkeit auch nur zu behaupten sie sich sonst nicht anmaßen könnte»
[88]. Die praktische Vernunft zeigt zwar, daß die Ideen real sind, nicht aber, daß wir von ihnen Anschauungen haben können, folglich «hilft uns diese Eröffnung nicht im mindesten in speculativer Absicht»
[89]. Aufgrunddieser Potenz der praktischen Vernunft, welche der spekulativen Vernunft
nicht zukommt, führt in «der Verbindung also der reinen speculativen mit der reinen praktischen Vernunft zu einem Erkenntnisse ... die letztere das Primat»
[90]. Die spekulative Vernunft kann der praktischen gar nicht übergeordnet werden, «weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbst das der speculativen Vernunft nur bedingt und im praktischen Gebrauche allein vollständig ist»
[91].
4.
Spekulativer Idealismus. – Im Deutschen Idealismus erhält der Begriff ‹S.› ein besonderes Gewicht. Mit Bezug auf spezifische Vorgaben der neuplatonisch-christlichen Tradition des Begriffs wird mit ‹S.› die höchste Form der Erkenntnis bezeichnet, die Erkenntnis des Absoluten.
Bei
J. G. Fichte umfaßt der Begriff ‹S.› zunächst die Bedeutung von ‘Betrachtungʼ und ‘Theorieʼ und wird auf traditionelle Weise der Moral und der praktischen Philosophie entgegengestellt
[92]. Wie Kant verwirft auch Fichte die um ihrer selbst willen betriebene S.; gerechtfertigt ist nur die S., die einem praktischen Interesse untersteht. In den Moralvorlesungen, in denen Fichte den «Unterschied der Tugend die in der Speculation bestehen soll, und der Speculation zur Tugend»
[93] erörtert, wird deutlich, daß letztere eindeutig der Praxis untergeordnet ist. Im Gegensatz zu Kant jedoch deutet sich bei Fichte eine affirmative Verwendung des Begriffs in erkenntnistheoretischen Kontexten an; der Idealismus als die ausgezeichnete Form des Philosophierens kann «nie Denkart seyn, sondern ist nur Speculation»
[94], die höchste Wissenschaft ist deshalb S.
[95], wie auch Wahrheit mit dem «höchsten Standpunkte der Speculation»
[96] identifiziert wird.
Auch bei
F. W. J. Schelling ist die Verwendung des Begriffs nicht einheitlich. Zunächst bezeichnet ‹S.› allgemein Sache und Tätigkeit des Philosophen
[97] und zielt auf «das Unbedingte»
[98]. ‹S.› ist dem Begriff der Erfahrung entgegengesetzt, doch gibt es der Sache nach einen Übergang, indem «die Ideen, zu denen sich unsere Speculation erhoben hat ... zu Gegenständen der Erfahrung werden»
[99]. Zudem verwendet Schelling den Begriff in einem eingeschränkteren Sinn, er steht dann für die analytische Fähigkeit des Verstandes, mittels deren man Komplexes trennen kann, die er sowohl dem «gesunden Verstand» als auch dem «philosophischen Talent» entgegenstellt
[100]. Diese Art des Denkens wird von Schelling als «todte», «mißgeleitete» und «vernünftelnde» S.
[101] kritisiert, da sie dazu führt, «der Speculation halber etwas zu trennen, was in der Wirklichkeit nie getrennt ist»
[102]. Erst seit der Begegnung mit Hegel (in Jena) verändert sich die Verwendung des Begriffs. Deutlich wird dies vor allem in der Einleitung zu den ‹Ideen zu einer Philosophie der Natur› (1797): In der zweiten Auflage von 1803 ist der Begriff ‹S.›, der für den trennenden, abstrahierenden Verstandesgebrauch stand, durch den Begriff ‹Reflexion› ersetzt
[103]. Das Adjektiv gewinnt in Schellings Naturphilosophie eine zentrale Bedeutung: Von 1800–1801 gibt Schelling die ‹Zeitschrift für speculative Physik› heraus. «Speculative Physik» richtet sich, im Gegensatz zu «empirischer Physik», nicht auf «Naturerscheinungen», sondern «auf ihre letzten Gründe»
[104]: die «erste Untersuchung der speculativen Physik ist die über das Unbedingte der Naturwissenschaft»
[105]. Schließlich wird ‹S.› auch für die Erkenntnisform des Absoluten überhaupt verwendet; Wissenschaft des Absoluten ist nicht gemäß dem Verstand möglich, der abstrahiert und ableitet, sondern nur gemäß der Vernunft und auf spekulative Weise: «Speculation
ist alles, d.h. Schauen, Betrachten dessen, was ist in Gott. Die Wissenschaft selbst hat nur insoweit Werth, als sie speculativ ist, d.h. Contemplation Gottes wie er ist»
[106]. Indem ‹S.› für Schelling vor allem ein «Schauen» ist, steht er einerseits in einer langen Tradition, andererseits unterscheidet er sich in diesem Punkt spezifisch von Hegel
[107], für den ‹S.› ebenfalls Erkenntnis des Absoluten, jedoch nicht im Sinne des Schauens, sondern im Sinne eines bestimmten Modus des Denkens ist.
In Auseinandersetzung mit Kants Kritik der S. zeigt
G. W. F. Hegel, daß der Vorwurf der Widersprüchlichkeit des spekulativen Vernunftgebrauchs nur für das Verstandesdenken notwendig und zutreffend ist, sich hingegen auf dem Standpunkt der S. auflöst und ein positives Ergebnis hervorbringt. Die Unterscheidung von Verstandesdenken und spekulativem Vernunftdenken trifft Hegel bereits in der ‹Differenzschrift›, wo er den Standpunkt der «S.» dem der «Reflexion» entgegenstellt
[108]. Während die Reflexion eine Verstandestätigkeit ist, die die Trennung und Entgegensetzung der Bestimmungen des Verstandes zur Aufgabe hat, gehört die S. der Vernunft an
[109]. Ihr «Princip» ist die «absolute Identität»
[110]; daher ist es auch die «höchste Aufgabe» der S., «die Trennung in der Identität des Subjekts und Objekts aufzuheben»
[111]. Der Gegenstand der S. ist somit einer, in dem die sich gegenseitig bedingenden Gegensätze aufgehoben sind, der mithin unbedingt ist, «das Absolute»
[112]. S. und Philosophie werden von Hegel nahezu identifiziert: Es macht die «wesentlichste Seite eines philosophischen Systems» aus, «S. zu seyn»
[113]. In der Vorrede zum ‹System der Wissenschaft› gibt Hegel einen Ausblick auf die Stufe des Bewußtseins, auf der «die Momente des Geistes», nämlich Sein und Wissen, nicht mehr auseinanderfallen: «Ihre Bewegung, die sich in diesem Elemente zum Ganzen organisirt, ist die Logik oder speculative Philosophie»
[114]. Spekulative Philosophie ist damit auch als «eigentliche Metaphysik»
[115] bestimmt und als das, «was früher, zumal in Beziehung auf das religiöse Bewußtseyn und dessen Inhalt, als das Mystische bezeichnet zu werden pflegte»
[116]. Wenngleich Hegel ‹S.›, mithin alles Vernünftige, in die Nähe von Mystik und Religion stellt
[117], so macht er doch zugleich deutlich, daß damit «nur so viel gesagt ist, daß dasselbe über den Verstand hinausgeht, und keineswegs, daß dasselbe überhaupt als dem Denken unzugänglich und unbegreiflich zu betrachten sey»
[118]. Für Hegel ist die Frage nach der Darstellbarkeit spekulativer Inhalte ein zentrales Problem, bereits in der Vorrede zur ‹Phänomenologie des Geistes› heißt es, «daß die Natur des Urtheils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjects und Prädicats in sich schließt, durch den speculativen Satz zerstört wird»
[119]. In der ‹Wissenschaft der Logik› expliziert Hegel diese Feststellung und erläutert, «daß der Satz, in Form eines Urtheils, nicht geschickt ist, speculative Wahrheiten auszudrücken»
[120], denn das «Urtheil ist eine identische Beziehung zwischen Subject und Prädicat»; ist nun «der Inhalt speculativ, so ist auch das Nichtidentische des Subjects und Prädicats wesentliches Moment, aber diß ist im Urtheile nicht ausgedrückt»
[121]. So muß im spekulativen Satz zugleich die Identität und Nichtidentität von Subjekt und Objekt dargestellt werden. Diese entgegengesetzte, «dialektische Bewegung des Satzes selbst» ist «allein das wirkliche Speculative, und nur das Aussprechen derselben ist speculative Darstellung»
[122]. Die Begriffe ‹Dialektik› und ‹S.› gehören
eng zusammen und werden von Hegel beide zur Charakterisierung des Vernunftdenkens verwendet, sie sind jedoch darin zu unterscheiden, daß das Dialektische die «negativ-vernünftige» Seite des Logischen ausmacht, «das Spekulative» hingegen die «positiv-vernünftige» Seite, welche «die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung (...), das Affirmative, das in ihrer Auflösung und ihrem Uebergehen enthalten ist», auffaßt
[123]. Wie bei Schelling ist auch bei Hegel die S. nicht einfach der Empirie entgegengesetzt, sondern beide sind miteinander vermittelt: «das Empirische, in seiner Synthesis aufgefaßt, ist der spekulative Begriff»
[124].
Neben der Kritik am Begriff der S., die in der Folgezeit dominiert, formiert sich im Spätidealismus eine geistige Bewegung, in der ‹S.› noch einmal als Wissenschaft verstanden und ernstgenommen wird. Im Anschluß an die Religionsphilosophie Hegels entstehen ethische Theorien, die sich um eine Vermittlung von Christentum und Philosophie bemühen und sich unter den Disziplinenbegriffen «speculativer Theismus»
[125] und «spekulative Ethik»
[126] systematisch Ausdruck verschaffen. Die Bewegung findet im zunehmend kritisch und positivistisch orientierten Denken des 19. Jh. kaum Nachfolger.
5.
Kritik und Auflösung. – Bereits im Todesjahr Hegels erscheint ein ‹Briefwechsel über speculative Philosophie in ihrem Conflict mit Wissenschaft und Sprache›
[127], der sich in der Hauptsache polemisch gegen die Philosophie Hegels, dann aber auch gegen alle spekulative Philosophie richtet, die den Irrtum begehe, das Konkrete vom Abstrakten abzuleiten, «ein Irrtum übrigens, der unter den speculativen Philosophen einen ununterbrochenen Zusammenhang hat, so dass er sich von dem Begriff der Speculation gar nicht mehr trennen lässt»
[128].
Im Zuge der Weiterführung und kritischen Rezeption des Hegelschen Denkens kommt es in unterschiedlichen Kontexten, insbesondere in der Religions- und Geschichtsphilosophie, zu vehementer Kritik an der S. In Auseinandersetzung mit Hegel wendet sich
L. Feuerbach gegen «speculative Religionsphilosophie», die die «Religion zum Spielball speculativer Willkür macht»
[129]. Seinen Begriff von Religion, in dem die sinnliche und empirische Erfahrung eine zentrale Bedeutung erhält, setzt er der spekulativen Philosophie
[130] oder der «Speculation» entgegen, so daß er seine Schrift ‹Das Wesen des Christentums› als «das direkte Gegenteil, ja die Auflösung der S.»
[131] versteht. In dem Vorwort zur zweiten Auflage heißt es: «Ich verwerfe überhaupt unbedingt die absolute, die immaterielle, die mit sich selbst zufriedne Speculation – die Speculation, die ihren Stoff aus sich selbst schöpft»
[132].
In der sich gegen den Idealismus wendenden materialistischen Geschichtsbetrachtung von
K. Marx und
F. Engels, die die konkreten Lebensbedingungen als Voraussetzungen für geschichtliche Prozesse akzentuiert, wird S. im Gegensatz zu materieller Wirklichkeit begriffen und scharf kritisiert. Das «Geheimnis der spekulativen, der Hegelschen Konstruktion»
[133] wird als Verdrehung des wahren geschichtlichen Prozesses entlarvt: Während die Epigonen noch nicht einmal das Niveau des Hegelschen Denkens erreichen, unterliegt Hegel selbst dem Verdikt, die Leser seiner Schriften – obgleich mit großer Meisterschaft – zu täuschen, denn er «verleitet den Leser dazu, die spekulative Entwicklung für wirklich und die wirkliche Entwickelung für spekulativ zu halten»
[134]. Dies bedeutet, daß die «spekulative
Idee, die abstrakte Vorstellung» zur «treibenden Kraft der Geschichte und dadurch die Geschichte zur bloßen Geschichte der Philosophie gemacht» wird
[135]. Folgt man der «spekulativen Philosophie»
[136] Hegels, so «hat man sämtliche materialistischen Elemente aus der Geschichte beseitigt und kann nun seinem spekulativen Roß ruhig die Zügel schießen lassen»
[137]. Marx und Engels sehen hierin keine Erneuerung der Geschichtsbetrachtung, sondern «nur wieder die alte Illusion der spekulativen Philosophie über die Herrschaft des Geistes in der Geschichte»
[138].
S. Kierkegaards Kritik an der S. innerhalb seiner Auseinandersetzung mit dem Christentum ist bestimmt durch ein radikalisiertes Interesse an der Existenz des Menschen, da «alles wesentliche Erkennen ... die Existenz»
[139] betrifft. Kierkegaard erhebt den «Einwand gegen die moderne S.» (worunter in der Hauptsache die Systementwürfe des deutschen Idealismus zu verstehen sind), «daß sie in einer Art welthistorischer Distraktion vergessen hat, was es heißt, Mensch zu sein»
[140]. Der «Trug der S.» besteht geradezu darin, «sich aus der Existenz herauserinnern zu wollen»
[141]. Die Selbstverleugnung des spekulativen Denkers läßt Kierkegaard deshalb in polemischer Absicht von «Spekulanten»
[142] reden. Mit dem Interesse am Objektiven gerät die S. in konträren Gegensatz zum Christentum, welches, auf «Innerlichkeit» gerichtet, eine «Existenzmitteilung»
[143] ausdrückt. Die S. begibt sich folglich in Widersprüche, wenn sie, obgleich «das Christentum der gerade Gegensatz zur S. ist»
[144], meint, «die Wahrheit des Christentums»
[145] erfassen zu können. So ist «die moderne S. das höchste Mißverständnis des Christentums»
[146]. Das «entscheidende Christliche», daß «der einzelne Mensch vor Gott sei, bekommt die S. niemals in den Kopf; sie verallgemeinert lediglich die einzelnen Menschen phantastisch in das Geschlecht». In dieser Realitätsmöglichkeit des einzelnen Menschen besteht jedoch «das Ärgernis des Christentums», das «Schutzwehr ist wider alle S.»
[147]. Obgleich sich Kierkegaards Kritik vornehmlich gegen die «moderne» und «neue S.»
[148] richtet, zeigt sich für ihn die Differenz von «spekulativem Philosoph» und «existierendem Denker» bereits zwischen Platon und Sokrates und ist mithin im Zusammenhang einer umfassenden Kritik am spekulativen Denken überhaupt zu verstehen
[149].
Zwar verliert diese Kritik an der S. im 20. Jh. an Schärfe, doch wird der Begriff selten, wie bei
K. Jaspers, affirmativ verwendet. Bei ihm ist die S. bestimmt als «kontemplatives Sichversenken zur Berührung mit der Transzendenz in selbstergriffener, ergrübelter, gestalteter Chiffrenschrift, welche sie als metaphysische Gegenständlichkeit vor den Geist bringt» und als «ein Denken, das denkend über das Denkbare hinaustreibt, Mystik für den Verstand, der erkennen möchte, Helligkeit für ein Selbstsein, das darin transzendiert»
[150].
Nach
Th. W. Adorno kann die Philosophie «auch nach Absage an den Idealismus, der S. ... nicht entraten, die der Idealismus zu Ehren brachte und die mit ihm verpönt ward»
[151]. Doch ‹S.› wird nun «freilich in weiterm Sinn als dem allzu positiv Hegelschen»
[152] verstanden. Nur in «solchem Widerstand überlebt das spekulative Moment: was sich sein Gesetz nicht vorschreiben läßt von den gegebenen Tatsachen, transzendiert sie noch in der engsten Fühlung mit den Gegenständen und in der Absage an sakrosankte Transzendenz»
[153]. In Auseinandersetzung mit Hegel betont Adorno den «Erfahrungscharakter der S.»
[154] und hält
darin, daß ‹S.› «nichts anderes als das nach innen geschlagene Leben noch einmal» meint, «spekulative Philosophie» und «Musik miteinander verschwistert»
[155].
Im anglo-amerikanischen Sprachraum bezeichnet ‹speculative philosophy› im allgemeinen Sinne die Tradition des europäischen Denkens, die sich mit metaphysischen Fragestellungen unter universellem Erklärungsanspruch beschäftigt. Sie spielt dort keine beherrschende Rolle
[156]. Eine Ausnahme bildet
A. N. Whitehead, der einen ‹Essay in Speculative Philosophy›
[157] schreibt und definiert: «Speculative Philosophy is the endeavour to frame a coherent, logical, necessary system of general ideas in terms of which every element of our experience can be interpreted»
[158]. Das «ideal of speculative philosophy» wäre es demnach, deutlich machen zu können, daß ihre Grundbegriffe nicht getrennt voneinander, sondern nur im Kontext miteinander explizierbar sind: «In other words, it is presupposed that no entity can be conceived in complete abstraction from the system of the universe, and that it is the business of speculative philosophy to exhibit this truth»
[159]. Bei dieser Unternehmung weiß sich Whitehead gleichwohl der anglo-amerikanischen Tradition verpflichtet: «Speculative boldness must be balanced by complete humility before logic, and before fact»
[160].
Seit 1987 erscheint erneut
[161] ‹The Journal of Speculative Philosophy›
[162]. Die Herausgeber haben es sich zur Aufgabe gemacht, «to promote constructive interaction between Continental philosophy and American thought»
[163]. Entsprechend verstehen sie den Begriff ‹speculative philosophy› in der Spannung, die zwischen seiner Tradition und unserer Gegenwart besteht: «Speculative philosophy reaches from the depths to the hights of human experience, requiring us to bring careful, disciplined, and critical observation into a living relation with the kind of reflection that can only be characterized as the love for wisdom»
[164].