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Timokratie

Timokratie 4301 10.24894/HWPh.4301 Martin Dreher
Antike Philosophie Politische Theorie timokratia (τιμοκρατία) Timarchia10 1223 Politie Zensusverfassung10 1224
Timokratie (griech. τιμοκρατία). Der Begriff ist erstmals bei Platon belegt. Im Verfassungsschema der ‹Politeia› bezeichnet ‹T.› die erste der vier verfehlten Staatsformen, in die die beste Verfassung übergeht. Die T., die von Platon auch ‹Timarchia› genannt wird [1], steht zwischen der idealen, königlichen Verfassung oder Aristokratie und der zweiten verfehlten Staatsform, der Oligarchie, und enthält Elemente dieser beiden Formen sowie darüber hinaus eigene. Die kretische und die spartanische Verfassung sind Prototypen einer timokratischen Ordnung, die Platon auch als φιλότιμος πολιτεία («ehrgeizige Staatsordnung») bezeichnet. In ihr behalten zwar die Herrscher und der Kriegerstand ihre anerkannte Stellung, aber die Herrscher sind nicht mehr, wie im Idealstaat, die Philosophen, sondern kriegerische, habsüchtige und wenig gebildete Männer. Das hervorstechendste Merkmal dieser Verfassung ist die Hochschätzung von Siegen und Ehrungen (φιλονικίαι καὶ φιλοτιμίαι) [2]. Dem timokratischen Staat gleicht in Platons Zuordnung von staatlichen und menschlichen Wesenszügen der timokratische Mann (τιμοκρατικὸς νεανίας, φιλότιμος ἀνήρ). Dieser besitzt eine geringe Bildung, beherrscht die Redekunst nicht, ist ehrgeizig, gegenüber den Herrschenden unterwürfig, gegen die Untergeordneten hart und wird mit zunehmendem Alter habsüchtig. Seine Lebensinhalte sind körperliches Training, die Jagd und die Kriegsführung [3].
Aristoteles verwendet den Begriff ebenfalls für eine bestimmte Staatsform, gibt ihm aber einen anderen Inhalt und der mit ‹T.› bezeichneten Verfassung eine andere Position innerhalb seiner Verfassungstypologie. In der ‹Nikomachischen Ethik› unterscheidet er von Königtum und Oligarchie als dritte und relativ schlechteste Staatsform die T., d.h. «die nach der Größe der Vermögen aufgebaute, die als timokratisch zu bezeichnen angemessen scheint; die meisten aber nennen diese Staatsform Politie» (τρίτη δ' ἡ ἀπὸ τιμημάτων, ἣν τιμοκρατικὴν λέγειν οἰκεῖον φαίνεται, πολιτείαν δ' αὐτὴν εἰώθασιν οἱ πλεῖστοι καλεῖν) [4]. Aus der T. entwickle sich ihre Entartungsform Demokratie, die nur wenig von ihr abweiche: «Denn eine Herrschaft der Menge will auch die T. sein, und alle Angehörigen der Vermögensklassen gelten als gleich» (πλήθους γὰρ βούλεται καὶ ἡ τιμοκρατία εἶναι, καὶ ἴσοι πάντες οἱ ἐν τῷ τιμήματι) [5]. Wenn man die Ausführungen über die Politie aus der ‹Politik› zum Verständnis heranzieht, so dürfte Aristoteles mit Gleichheit hier meinen, daß die Mehrzahl der Polisangehörigen durch ein Mindestvermögen eigene Waffen bereitstellen und Kriegsdienst leisten kann; diese Leistung macht sie zu Vollbürgern, was sie berechtigt, gleiches Stimmrecht in der Volksversammlung ihrer Polis auszuüben [6]. Bei der Festsetzung des Mindestvermögens ist darauf zu achten, daß diejenigen, die dadurch das Bürgerrecht erhalten, in der Mehrzahl bleiben, es darf also nicht zu hoch angesetzt werden [7]. Kann die Stimmberechtigung der Mehrheit als demokratisches Element verstanden werden, so macht Aristoteles doch deutlich, daß sich die Politie (und damit die T.) aus der Demokratie und der Oligarchie zusammensetzt, wobei das oligarchische Element darin besteht, daß der Zugang zu den Ämtern, gegebenenfalls abgestuft, den Bürgern der höheren Vermögensklassen vorbehalten bleibt [8]. Aus diesem Grund wurde eine Verfassung, in der die Ämtervergabe an das Vermögen gebunden ist, von Platon als Oligarchie eingestuft [9].
Für den Begriff ‹T.› sind aus der griechischsprachigen Antike keine weiteren eigenständigen Entwicklungen überliefert. Seine Verwendung beschränkte sich auf Traktate [10], Scholien, Kommentare, Anthologien und Epitomai fast ausschließlich aus der Zeit vom 2. Jh. n.Chr. an, die die Äußerungen der beiden Schulengründer wiedergeben oder paraphrasieren. Selbst die Theoretiker, die eine Verfassungstypologie nach dem Vorbild von Platon und bes. Aristoteles vorlegten, verzichteten auf den Begriff ‹T.›. So findet sich insbesondere bei Polybios in seinem Schema der sechs Verfassungen statt des aristotelischen Paars ‹Timokratie› (oder ‹Politie›) – ‹Demokratie› bzw. statt der platonischen guten und entarteten Demokratie jetzt das Paar ‹Demokratie› – ‹Ochlokratie› [11]. Ins Lateinische ist der Terminus im Gegensatz zu anderen Verfassungsbezeichnungen offenbar nicht übernommen worden.
Die moderne Altertumswissenschaft verwendet in enger, aber nicht strenger Anwendung des von Aristoteles eingeführten Kriteriums des Vermögens ‹T.› für alle Verfassungen, in denen die Einteilung der Bevölkerung in Vermögensklassen die Voraussetzung für die Wahrnehmung politischer Rechte und – vorrangig militärischer – Pflichten darstellt. Für die Verwendung des Begriffs ist dabei nicht entscheidend, ob der Bürgerstatus selbst, die Ausübung des Stimmrechts oder die Übernahme von Ämtern nach dem Vermögen abgestuft ist. Als frühestes antikes Beispiel für eine T. gilt heute die solonische Verfassung Athens aus dem frühen 6. Jh. v.Chr., deren vier Vermögensklassen für den Zugang zu den Ämtern Bedeutung hatten, ohne daß die antiken Quellen diese Verfassung als ‹T.› bezeichnen [12]. Als bekanntestes Beispiel für eine T., in der das Stimmrecht der Bürger gemäß ihrer Einteilung in Vermögensklassen abgestuft war, ist die Verfassung der römischen Republik zu nennen. Synonym mit ‹T.› wird manchmal auch der moderne Begriff ‹Zensusverfassung› verwendet, der das lateinische Wort für ‹Vermögensschätzung›, ‹census›, aufgreift.
[1]
Platon: Resp. 545 b 7.
[2]
544 c–548 d 5.
[3]
548 d 6–550 b.
[4]
Aristoteles: Eth. Nic. 1160 a 31–37; zu diesen ‘meistenʼ gehört auch Aristoteles selbst, vgl. Pol. 1279 a 39.
[5]
Eth. Nic. 1160 b 18–22; vgl. zur Gleichheit auch: 1161 a 4–6.
[6]
Pol. 1279 a 37–b 4; zur Stelle vgl. E. Schütrumpf: Aristoteles, Politik Buch II und III (1991) 466–469.
[7]
a.O. 1297 b 1–8; vgl. 1265 b 27ff.
[8]
a.O. 1306 b 7; 1266 b 23; 1292 a 39–41; 1320 b 20ff.; in der Demokratie spielt die Steuerklasse normalerweise keine Rolle (1294 b 12f.), allenfalls bei einem sehr niedrigen Zensus (1291 b 39–41).
[9]
Platon: Resp. 550 c 10553 a; nach Xenophon: Mem. 4, 6, 12 soll Sokrates diese Staatsform als Plutokratie bezeichnet haben.
[10]
Sallustius: Des dieux et du monde (Σαλουστίου περὶ θεῶν καὶ κόσμου), hg. G. Rochefort (Paris 1960) ch. 11.
[11]
Polybios VI, 4, 10.
[12]
Vgl. bes. Aristoteles: Ath. pol. 7, 3–4; Pol. 1274 a 18–21; Platon: Leg. 698 b 4f.