Überzeitlich (griech.
ὑπέρχρονος; lat. supra tempus; engl. above time, transcending time). Das Adjektiv ‹überzeitlich› gehört wie ‹übergegensätzlich› (s.d.), ‹überweltlich› (
ὑπερκόσμιος)
[1] und ‹überwesentlich›, ‹überseiend› (s.d.) zu den
ὑπέρ-Komposita, die im Rahmen der neuplatonischen Philosophie gebildet wurden, um die absolute Transzendentalität des Einen (s.d.) auszudrücken. Es wird zunächst im Sinne der Außerzeitlichkeit verwendet: Für das Eine sind Zeitbestimmungen kategorial fehl am Platze. Wird die Vorsilbe aber im Sinne des Überstiegs über die endliche, sukzessiv verlaufende Zeit gedeutet, dann werden, wie die Begriffsgeschichte zeigt, mit dem Ausdruck auch Konzepte von Ewigkeit (s.d.) und Allzeitlichkeit (s.d.) formulierbar.
In der ersten Hypothese des Platonischen ‹Parmenides› wird die Zeitlichkeit des Einen negiert: Das Eine ist nicht in der Zeit und hat nicht an der Zeit teil
[2]. Die neuplatonische Exegese dieser Stelle bleibt zunächst an der Teilhabe-Begrifflichkeit orientiert.
Proklos formuliert die Außerzeitlichkeit des Einen analog zum Platonischen
ἐπέκεινα τῆς οὐσίας («jenseits des Seins») als
ἐπέκεινα χρόνου, hebt aber auch ausdrücklich den Überstieg des Einen über Zeit und Ewigkeit hervor (
ὅλου χρόνου καὶ αὐτοῦ τοῦ αἰῶνος ἐξῃρημένου)
[3]. Unter dem Einfluß der neuplatonischen Metaphysik gebrauchen im 4. Jh. n. Chr. die Kirchenväter
Basilius von Caesarea und
Gregor von Nazianz den Ausdruck
ὑπέρχρονος.
Basilius bezeichnet im Kontext
schöpfungstheologischer Überlegungen den Zustand vor der Erschaffung des Kosmos metaphorisch als «überzeitlich»
und ewig
[4],
Gregor expliziert im Kontext
trinitätstheologischer Überlegungen die Wesensgleichheit (Homoousie) des Vaters mit dem Sohn durch die Argumentationsfigur einer «überzeitlichen», d.h. nicht der Zeit unterliegenden Zeugung des Sohnes. Die innergöttliche Entfaltung ist zeitlos
[5].
Simplikios aus der Neuplatonikerschule von Athen kommentiert mit Rekurs auf die Aristotelische ‹Physik› (VIII, 1) erkenntnistheoretisch: «Wie Gott das unter die Zeit Fallende auf zeitlose Weise erkennt, so erkennen wir das Überzeitliche auf zeithafte Weise» (
ὡς γὰρ ὁ θεὸς ἀχρόνως τὰ ὑπὸ χρόνον νοεῖ, οὕτως ἡμεῖς τὰ ὑπὲρ χρόνον χρονικῶς)
[6].
Die lateinische Sprache hat kein Äquivalent des griechischen Ausdrucks entwickelt. Lateinische Übersetzungen der Kirchenväter umschreiben den Ausdruck u.a. mit Wendungen wie etwa «transcendens omne tempus»
[7]. In der scholastischen Theologie wird – besonders im Anschluß an den neuplatonischen ‹Liber de Causis›, der das Sein, welches «vor der Ewigkeit» («superius aeternitate»), das, welches «mit der Ewigkeit» («cum aeternitate»), und das, welches «nach der Ewigkeit und über der Zeit» («post aeternitatem et supra tempus») ist, differenziert
[8] – die Paraphrase «supra tempus» einschlägig
[9].
Nikolaus von Kues wird später das Kunstwort «supertemporalis» verwenden: «Die Wahrheit, sofern sie zeitlich eingeschränkt ist («ut est temporaliter contracta»), ist gleichsam Zeichen und Bild der überzeitlichen Wahrheit» («veritas supertemporalis»)
[10].
Der deutsche Terminus ‹überzeitlich› wird besonders durch
F. W. J. Schelling gebräuchlich. In der ‹Einleitung in die Philosophie der Mythologie› bezeichnet Schelling den Urzustand des Menschen vor dem Fall als überzeitlich: «Das Urseyn des Menschen ist ... nur als ein noch überzeitliches und in wesentlicher Ewigkeit zu denken, die der Zeit gegenüber selbst nur zeitloses Moment ist»
[11]. Für den Schelling nahestehenden
F. X. von Baader ist es die «Bestimmung des Menschen», «in der Zeit zugleich über und inner ihr seiend sie in ihrem Gang zu leiten und zu schirmen». Der «Fall des Menschen in die Zeit» vollzieht sich, wo er «den Schlüssel gleichsam verdrehend, die überzeitliche Region abschloß und der unterzeitlichen den Eingang öffnete»
[12].
Schelling versucht, die Überzeitlichkeit Gottes mit (zeitlicher) Entwicklung zusammenzudenken. Ausdrücklich knüpft er an die «älteren Theologen» und die Rede von der «ewigen Zeugung» des Sohnes an, wenn er die «vorzeitliche», durch Schöpfung als Vergangenheit gesetzte Ewigkeit von der «absoluten» abhebt, die «überzeitliche Ewigkeit zu nennen» wäre und «die noch gar keine Beziehung auf Zeit hat, die selbst nicht etwa ein erster Moment ist, sondern über aller Zeit». Sie geht «dem ersten Moment, der von Ewigkeit ist», nach Schelling «nur in Gedanken» voraus
[13]. Für die weitere theologische wie philosophische Begriffsgeschichte ist seine – auch im Rückgriff auf das hebräische ‹Naezach› zu denkende – Konzeption einer «lebendigen» und «wahren» Ewigkeit bedeutsam, die nicht durch bloße Negation von Zeit ausgezeichnet ist: «Die wahre Ewigkeit ist nicht die, welche alle Zeit ausschließt, sondern welche die Zeit (die ewige Zeit) selbst sich unterworfen enthält»
[14]. So faßt noch
K. Barth die «Zeitlichkeit der Ewigkeit» als «Vorzeitlichkeit, Überzeitlichkeit und Nachzeitlichkeit»: «dieses die Zeit tragende Leben Gottes ist seine Ewigkeit als Überzeitlichkeit»
[15].
F. Medicus greift auf Schellings Explikation zurück, um im Kontext neukantianischer Ansätze zur Problemgeschichte das «Ueberzeitliche der Philosophie» gerade
nicht als das «von der Zeit gelöste, sondern das die Zeit Beherrschende» zu beschreiben
[16].
B. Bauch greift die Unterscheidung von Medicus auf und bestimmt in Analogie dazu das Verhältnis der «seinsüberlegenen ... (
ἐπέκεινα τῆς οὐσίας)» und «zeitüberlegenen ... (
ἐπέκεινα τοῦ χρόνου)» «Geltungsbeziehungen», denen eine überzeitliche Ewigkeit zugesprochen wird. Sie sind überzeitlich, d.h. unabhängig von der Zeit, jedoch übergreifend auf das Zeitliche. Sie sind ferner überseiend, d.h. sie sind nicht-seiend, aber greifen auf alles Seiende über und beherrschen es als seine Möglichkeitsbedingungen
[17]. Dieser Begriff von Überzeitlichkeit liegt auch Bauchs Bestimmung der Ewigkeit (der Idee) zu Grunde, die also deren Beziehung zum Zeitlichen einschließt und insofern über eine bloße Zeitunabhängigkeit im Sinne der Außerzeitlichkeit eines logischen «dritten Reichs»
[18] hinausgeht. Innerhalb der phänomenologischen Tradition bestimmt
E. Husserl die Ü. der «idealen Gegenstände» als «Allzeitlichkeit»
[19].
N. Hartmann räumt dem Wesen der Werte
[20] und dem objektivierten Geist
[21] eine Überzeitlichkeit ein. Ebenfalls zur Charakterisierung der Werte verwendet
H. Rickert den Ausdruck ‹überzeitlich› gleichbedeutend mit «ewig», «zeitlos» oder «übergeschichtlich» (s.d.)
[22]. Auf dem Feld der Zeitphilosophie nimmt
H. Conrad-Martius – im Anschluß an den platonisch-aristotelischen Begriff des Aion (s.d.) – zur metaphysischen Begründung der realen Zeitbewegung der empirischen Welt eine überzeitliche Zeit an, die durch ihre «äonische Zeitraumbewegung» die zeitliche Zeit hervorbringt
[23].
M. Heidegger distanziert sich schon früh von dem metaphysischen Begriffsgebrauch des Terminus. Er kritisiert «die als überzeitlich aufgemachte und als ewig gültig in thronende Vornehmheit gesetzte Idealität von Werten und dergleichen als Phantome» und hält angesichts der Versuche, einen übergeschichtlichen Bestand philosophischer Probleme auszumachen, fest: «im Historischen des faktischen (philosophierenden) Lebens gibt es keine überzeitliche An-sich-Problematik und Systematik philosophischer Fragen». Ebenso wendet er sich gegen die Erklärung der Geschichte als einer «zeitlichen Verwirklichung überzeitlicher Ideen und Werte»
[24]. Unter Berufung auf
M. Scheler, für den die geistige Person ihrem Wesen nach überzeitlich ist
[25], wird der Terminus zu einem Schlüsselbegriff bei
H.-E. Hengstenberg. Im Horizont der Frage nach dem Verhältnis von Sein und Zeit profiliert er die zwischen den Kategorien der Zeitlosigkeit und der Zeitlichkeit positionierte ontologische Kategorie einer zeitgebundenen «entitativen» bzw. «relationalen» Überzeitlichkeit
[26].