Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Unhintergehbarkeit

Unhintergehbarkeit 4436 10.24894/HWPh.4436 Christoph Demmerling
Erkenntnistheorie Sprachphilosophie und Semiotik Nichthintergehbarkeit Sprache, Unhintergehbarkeit der Lebenspraxis, Unhintergehbarkeit der Verstehensapriori11 175
Unhintergehbarkeit. Seit der Antike wird die Frage nach dem, hinter das nicht zurückgegangen werden kann, in Überlegungen zur Bestimmung erster bzw. letzter Prinzipien thematisiert. In der neueren Diskussion ist den Begriffen ‹U.› bzw. ‹Nichthintergehbarkeit› allerdings eine spezifischere Bedeutung zugewachsen: Sie werden häufig im Anschluß an K.-O. Apels Rekonstruktion der jüngeren Philosophiegeschichte verwendet, um Voraussetzungen allen Denkens und Handelns zu bezeichnen. Apel begreift die frühe Kantkritik im Umfeld der deutschen Romantik und die sprachanalytische Philosophie mit ihrer Wendung von bewußtseinsphilosophischen Analysen zu einem Primat der Sprache gemeinsam mit der Entwicklung der hermeneutischen Philosophie und deren Wendung zu einem Primat menschlicher Lebenspraxis und Geschichte als eine sprachhermeneutische Transformation der Transzendentalphilosophie [1]. ‹U.› im weiteren Sinne bezieht sich im theoretischen Kontext der philosophischen Hermeneutik primär auf die U. der Sprache, sekundär auch auf die U. der menschlichen Lebenspraxis.
Strittig in der Diskussion um das Problem der U. sind bes. zwei Fragen: 1) Läßt sich die hermeneutische Tradition uneingeschränkt vom Gedanken an eine U. der Sprache leiten, oder muß nicht vielmehr auch von einer vorprädikativen, d.h. vorsprachlichen Erfahrung ausgegangen werden? 2) Worin besteht der genaue Sinn der Rede von der U. der Sprache?
Im Werk W. Diltheys z.B. werden menschliche Denk- und Sprachvollzüge im Leben bzw. in der Lebenspraxis als einer unhintergehbaren Basis allen Denkens und Erkennens fundiert: «hinter das Leben kann das Denken nicht zurückgehen» [2]. Gleiches gilt für die Untersuchung logischer und sprachphilosophischer Fragen «auf dem Boden der Philosophie des Lebens» bei G. Misch[3] und für E. Husserls Analysen zur Lebenswelt und seine «Theorie der vorprädikativen Erfahrung» [4]. Inwieweit M. Heideggers existentiale Analytik in ‹Sein und Zeit› auf ein vorsprachliches oder aber sprachliches Sinnfundament im Sinne nichthintergehbarer Voraussetzungen des Erkennens zu beziehen ist, ist umstritten [5]. Der spätere Heidegger geht mit seiner Bemerkung, daß die Sprache «das Haus des Seins» sei, zweifellos von einer U. der Sprache aus [6], ebenso H.-G. Gadamer, der schreibt, daß das «Sein, das verstanden werden kann, ... Sprache» ist [7]. K.-O. Apel bezieht diesen Gedanken auch auf die Thematik des «sprachvermittelten In-der-Welt-seins» bei Heidegger [8] und prägt die Wendung von einem sprach-hermeneutisch «nicht ... hintergehbaren Verstehensapriori» [9]. Ein differenzierteres und schwächeres Verständnis der These von der U. der Sprache haben K. Lorenz und J. Mittelstrass entwickelt: «Während das Vermögen zu sprechen in der Tat unhintergehbar ist, ... kann jedes faktisch vorkommende Sprechen sehr wohl hintergangen werden» [10]. Im Rückgriff auf psycholinguistische Studien ist allerdings auch diese modifizierte Version der Auffassung von der U. der Sprache kritisiert worden [11].
Die Begriffe ‹U.› und ‹Nichthintergehbarkeit› werden von K.-O. Apel in speziellerer Bedeutung mit Blick auf die Ethik gebraucht. Hier beziehen sie sich auf «die nichthintergehbaren Bedingungen der Möglichkeit der diskursiven Argumentation», die bereits in einem ethischen Sinne normativ gehaltvoll sein sollen [12].
[1]
K.-O. Apel: Die Idee der Sprache in der Trad. des Humanismus von Dante bis Vico (1963); Transformation der Philos. 1–2 (1973); K. Lorenz/J. Mittelstrass: Die Hintergehbarkeit der Sprache. Kantstudien 58 (1967) 187–208; J. Mittelstrass: Das normat. Fundament der Sprache, in: Die Mögl. von Wissenschaft (1974) 158–205; E. Holenstein: Von der Hintergehbarkeit der Sprache (und der Erlanger Schule), in: Von der Hintergehbarkeit der Sprache (1980) 10–52.
[2]
W. Dilthey: Vorrede (1911). Ges. Schr. 5 (21957) 5.
[3]
G. Misch: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philos. des Lebens (1994); vgl. Lebensphilos. und Phänomenologie (1930).
[4]
E. Husserl: Erfahrung und Urteil. Unters. zur Genealogie der Logik, hg. L. Landgrebe (1948, 41972) 21f. (§ 6); vgl. Art. ‹Vorprädikativ›.
[5]
M. Heidegger: Sein und Zeit § 33 (1927); strittig sind Heideggers Analysen zur «Abkünftigkeit der Aussage»; im Sinne eines Plädoyers für die Hintergehbarkeit der Sprache interpretieren: Lorenz/Mittelstrass, a.O. [1] 196ff.; E. Tugendhat: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung (1979) 187ff.; im Sinne eines Hinweises auf die U. der Sprache versteht ihn Apel: Die Idee ..., a.O. [1] 55ff.
[6]
M. Heidegger: Br. über den ‘Humanismusʼ (1947), in: Wegmarken (1967) 145–194, hier: 145.
[7]
H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode (1960, 41975) 450.
[8]
Apel: Die Idee ..., a.O. [1] 48.
[9]
Einl., in: Transformation ..., a.O. 1, 25.
[10]
Lorenz/Mittelstrass, a.O. [1] 204.
[11]
Holenstein, a.O. [1] bes. 15–52.
[12]
K.-O. Apel: Sprechakttheorie und transz. Sprachpragmatik zur Frage eth. Normen, in: K.-O. Apel (Hg.): Sprachpragmatik und Philos. (1976) 10–173, hier: 16; vgl. Art. ‹Präsupposition II.›. Hist. Wb. Philos. 7 (1989) 1270–1273; Art. ‹Transzendentalpragmatik/Universalpragmatik›, a.O. 10 (1998) 1439–1442.
K.-O. Apel, K. Lorenz/J. Mittelstrass und E. Holenstein s. Anm. [1]. – C. Lafont: Sprache und Welterschließung. Zur linguist. Wende der Hermeneutik Heideggers (1994). – M. Niquet: Nichthintergehbarkeit und Diskurs. Proleg. zu einer Diskurstheorie des Transzendentalen (1999).