Verkehrte Welt (lat. mundus inversus; engl. world upside down, reversible world; frz. monde à l'envers, monde inversé; ital. mondo alla riversa, al rovescio; span. mundo al revés; russ. iznanocnyj mir). Der Begriff ‹v.W.› bezeichnet in der Literatur- und Kunstgeschichte eine zum literarischen Topos und ikonographischen Typus verdichtete Vorstellung von einer in ihrer Daseinsordnung auf den Kopf gestellten Welt
[1]. In neuerer Forschung ist neben dem Begriff ‹Verkehrung› (s.d.) auch ‹Inversion› (s.d.) gebräuchlich
[2]. Ethnologie und Anthropologie untersuchen die Inversion in ihrer symbolischen und rituellen Manifestation in unterschiedlichen Kulturen
[3].
Die in einem ägyptischen Bildtypus aus dem 2. Jh. v. Chr. nachweisbare Vorstellung
[4] ist im europäischen Kontext erstmals greifbar bei
Archilochos: Das kosmische Ereignis der Sonnenfinsternis von 648 wird zum Anlaß, die Aufhebung aller Naturgesetze und das Unmögliche (Adynaton,
ἀδύνατον) als Verkehrung der Weltordnung zu imaginieren
[5]. Im Griechischen wird die Vorstellung nicht begrifflich gefaßt, sondern mit der Aristophanischen Formel
τὰ ὑπέρτερα νέρτερα («das oberste zuunterst»)
[6] umschrieben. Antikes Sprichwortgut belegt die Verbreitung von in Adynata gekleideten v.W.-Motiven (‘Ströme fließen bergaufʼ; ‘Wolf und Esel haben Flügelʼ; ‘die Schildkröte holt den Hasen einʼ; ‘Vogelmilch suchenʼ; ‘der Wagen zieht den Ochsenʼ)
[7]. In der griechischen und lateinischen Lyrik werden die Adynata rhetorisches Darstellungsmittel für die durch Liebesleid verkehrte Naturordnung. So tragen in
Theokrits ‹1. Idylle› die Fichten Birnen
[8]; in
Vergils ‹8. Ekloge› flieht der Wolf die Schafe und tragen die Eichen Äpfel
[9].
Im Mittelalter und in der Renaissance wird der Topos in der Hoch- und Volkskultur weiterentwickelt, wobei die satirisch-zeitkritischen und die utopischen Züge hervortreten
[10]. In der Satire (s.d.) wird der korrupte Zustand der Gesellschaft aufgedeckt, in der Utopie (s.d.) eine Wunschwelt egalitärer Verhältnisse oder versöhnter Antagonismen entworfen (Schlaraffenland, Pays de Cocagne,
Goldenes Zeitalter, Verheißungen in Jesaja 11. 6–9)
[11]. Schwank- und Narrendichtungen
[12] und sog. karnevalisierte Literatur
[13] bedienen sich des Topos als Adynaton und Paradoxon (im Sinne der Verkehrung geltender Annahmen ist das Paradoxon Element der Inversionsrhetorik
[14]).
H. J. von Grimmelshausen schildert eine für die Zeit typische v.W.-Druckgraphik: «wie der Ochse den Metzger metzelte / das Wild den Jäger fällete ... der Bauer kriegte und der Soldat pflügte»
[15].
In Literatur und bildender Kunst (Graphik, Tafelmalerei, vor allem Holzschnitt und Kupferstich) ist die v.W. zumeist durch ein begriffliches Oppositionspaar strukturiert
[16]. Die Inversion führt zu einem Platztausch der antithetisch situierten bipolaren, sich gegenseitig ausschließenden Begriffe. Verkehrt werden die bestimmenden Werthierarchien der Alltagspraxis, Sozial- und Geschlechterordnung, Logik, Raum- und Zeitkonzepte, der Kausalnexus, die Relation von Mensch und Tier, Mensch und Ding ebenso wie das Verhältnis von Alltäglichem und Außerordentlichem, Diesseits und Jenseits. Satire und Utopie werden gemeinsam mit den Bilddarstellungen in religiösen und politischen Krisen zu Äußerungsformen der Dissidenz (Reformation, Dreißigjähriger Krieg)
[17]. Auf bestimmte Elemente des Bildinventars der v.W. lassen sich Handlungsmuster zurückführen, wie sie in revolutionären Vorgängen realisiert werden (Bauernaufstände)
[18], wobei es zur Verbindung mit Narrenwesen und Karneval kommt
[19], dessen Themen die Übernahme der hierarchischen Positionen (Narrenkönig, Narrenpapst), die Profanation des Sakralen (Verspottung der Sakramente), die Hyperbolik des Leiblichen (der groteske Leib), der Geschlechtertausch und die Verlachung der Tod-Leben-Opposition (der schwangere Tod) sind
[20].
Eine radikale archaische Form der Inversion tritt in schamanistischen Riten auf, die vor Antritt der Jenseitsreise die Verkehrung aller die diesseitige Welt konstituierenden Ebenen bewirken, die während des Erlebens der anderen Seinsweise aufrechterhalten wird
[21]. Eine ebenfalls radikale Vorstellung gilt in einigen Varianten christlichen Volksglaubens, wonach die endgültige Verkehrung alles Bestehenden das Jüngste Gericht herbeiführt
[22].
Auch im Sprachgebrauch der Philosophie ist der Gedanke der v.W. präsent. Über die weitgespannte topische Verwendung
[23] hinaus gewinnt der Ausdruck durch die gedankliche Figur der Verkehrung einen systematischen Ort in
G. W. F. Hegels ‹Phänomenologie des Geistes›, und zwar beim Übergang vom «Bewußtsein» zum «Selbstbewußtsein»
[24], und wird terminologisch relevant im Kontext der Entfremdungs- und Bewußtseinskritik von
K. Marx. Das Geld «als der existierende und sich betätigende Begriff des Wertes» begreift schon der frühe Marx als die «allgemeine Verwechslung und Vertauschung aller Dinge, also die v.W., die Verwechslung und Vertauschung aller natürlichen und menschlichen Qualitäten»
[25].