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Verkehrte Welt

Verkehrte Welt 4569 10.24894/HWPh.4569 Renate Lachmann
Topoi und Metaphern mundus inversus world upside down reversible world monde à l'envers iznanocnyj mir Welt, verkehrte Inversion Verwechslung11 706
Verkehrte Welt (lat. mundus inversus; engl. world upside down, reversible world; frz. monde à l'envers, monde inversé; ital. mondo alla riversa, al rovescio; span. mundo al revés; russ. iznanocnyj mir). Der Begriff ‹v.W.› bezeichnet in der Literatur- und Kunstgeschichte eine zum literarischen Topos und ikonographischen Typus verdichtete Vorstellung von einer in ihrer Daseinsordnung auf den Kopf gestellten Welt [1]. In neuerer Forschung ist neben dem Begriff ‹Verkehrung› (s.d.) auch ‹Inversion› (s.d.) gebräuchlich [2]. Ethnologie und Anthropologie untersuchen die Inversion in ihrer symbolischen und rituellen Manifestation in unterschiedlichen Kulturen [3].
Die in einem ägyptischen Bildtypus aus dem 2. Jh. v. Chr. nachweisbare Vorstellung [4] ist im europäischen Kontext erstmals greifbar bei Archilochos: Das kosmische Ereignis der Sonnenfinsternis von 648 wird zum Anlaß, die Aufhebung aller Naturgesetze und das Unmögliche (Adynaton, ἀδύνατον) als Verkehrung der Weltordnung zu imaginieren [5]. Im Griechischen wird die Vorstellung nicht begrifflich gefaßt, sondern mit der Aristophanischen Formel τὰ ὑπέρτερα νέρτερα («das oberste zuunterst») [6] umschrieben. Antikes Sprichwortgut belegt die Verbreitung von in Adynata gekleideten v.W.-Motiven (‘Ströme fließen bergaufʼ; ‘Wolf und Esel haben Flügelʼ; ‘die Schildkröte holt den Hasen einʼ; ‘Vogelmilch suchenʼ; ‘der Wagen zieht den Ochsenʼ) [7]. In der griechischen und lateinischen Lyrik werden die Adynata rhetorisches Darstellungsmittel für die durch Liebesleid verkehrte Naturordnung. So tragen in Theokrits ‹1. Idylle› die Fichten Birnen [8]; in Vergils ‹8. Ekloge› flieht der Wolf die Schafe und tragen die Eichen Äpfel [9].
Im Mittelalter und in der Renaissance wird der Topos in der Hoch- und Volkskultur weiterentwickelt, wobei die satirisch-zeitkritischen und die utopischen Züge hervortreten [10]. In der Satire (s.d.) wird der korrupte Zustand der Gesellschaft aufgedeckt, in der Utopie (s.d.) eine Wunschwelt egalitärer Verhältnisse oder versöhnter Antagonismen entworfen (Schlaraffenland, Pays de Cocagne, Goldenes Zeitalter, Verheißungen in Jesaja 11. 6–9) [11]. Schwank- und Narrendichtungen [12] und sog. karnevalisierte Literatur [13] bedienen sich des Topos als Adynaton und Paradoxon (im Sinne der Verkehrung geltender Annahmen ist das Paradoxon Element der Inversionsrhetorik [14]). H. J. von Grimmelshausen schildert eine für die Zeit typische v.W.-Druckgraphik: «wie der Ochse den Metzger metzelte / das Wild den Jäger fällete ... der Bauer kriegte und der Soldat pflügte» [15].
In Literatur und bildender Kunst (Graphik, Tafelmalerei, vor allem Holzschnitt und Kupferstich) ist die v.W. zumeist durch ein begriffliches Oppositionspaar strukturiert [16]. Die Inversion führt zu einem Platztausch der antithetisch situierten bipolaren, sich gegenseitig ausschließenden Begriffe. Verkehrt werden die bestimmenden Werthierarchien der Alltagspraxis, Sozial- und Geschlechterordnung, Logik, Raum- und Zeitkonzepte, der Kausalnexus, die Relation von Mensch und Tier, Mensch und Ding ebenso wie das Verhältnis von Alltäglichem und Außerordentlichem, Diesseits und Jenseits. Satire und Utopie werden gemeinsam mit den Bilddarstellungen in religiösen und politischen Krisen zu Äußerungsformen der Dissidenz (Reformation, Dreißigjähriger Krieg) [17]. Auf bestimmte Elemente des Bildinventars der v.W. lassen sich Handlungsmuster zurückführen, wie sie in revolutionären Vorgängen realisiert werden (Bauernaufstände) [18], wobei es zur Verbindung mit Narrenwesen und Karneval kommt [19], dessen Themen die Übernahme der hierarchischen Positionen (Narrenkönig, Narrenpapst), die Profanation des Sakralen (Verspottung der Sakramente), die Hyperbolik des Leiblichen (der groteske Leib), der Geschlechtertausch und die Verlachung der Tod-Leben-Opposition (der schwangere Tod) sind [20].
Eine radikale archaische Form der Inversion tritt in schamanistischen Riten auf, die vor Antritt der Jenseitsreise die Verkehrung aller die diesseitige Welt konstituierenden Ebenen bewirken, die während des Erlebens der anderen Seinsweise aufrechterhalten wird [21]. Eine ebenfalls radikale Vorstellung gilt in einigen Varianten christlichen Volksglaubens, wonach die endgültige Verkehrung alles Bestehenden das Jüngste Gericht herbeiführt [22].
Auch im Sprachgebrauch der Philosophie ist der Gedanke der v.W. präsent. Über die weitgespannte topische Verwendung [23] hinaus gewinnt der Ausdruck durch die gedankliche Figur der Verkehrung einen systematischen Ort in G. W. F. Hegels ‹Phänomenologie des Geistes›, und zwar beim Übergang vom «Bewußtsein» zum «Selbstbewußtsein» [24], und wird terminologisch relevant im Kontext der Entfremdungs- und Bewußtseinskritik von K. Marx. Das Geld «als der existierende und sich betätigende Begriff des Wertes» begreift schon der frühe Marx als die «allgemeine Verwechslung und Vertauschung aller Dinge, also die v.W., die Verwechslung und Vertauschung aller natürlichen und menschlichen Qualitäten» [25].
[1]
E. R. Curtius: Europ. Lit. und lat. MA (1948, 101984) 104–108; H. Kenner: Das Phänomen der v.W. in der griech.-röm. Antike (1970) 5. 63ff.; H. Grant: Images et gravures du monde à l'envers, in: J. Lafond/A. Redondo (Hg.): L'image du monde renversé et ses représentations litt. et paralitt. (1979) 17–32; M. Bachtin: Tvorchestvo F. Rable ... (Moskau 1965); dtsch.: F. Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (1987) 335ff.
[2]
M. Kuper: Zur Semiotik der Inversion. V.W. und Lachkultur im 16. Jh. (1993).
[3]
B. A. Babcock (Hg.): The reversible world. Symb. inversion in art and soc. (1978).
[4]
Kenner, a.O. [1] 64.
[5]
Archilochos: Frg. 122, hg. M. L. West (Hg.): Iambi et elegi Graeci 1 (Oxford 21989) 47f.; Curtius, a.O. [1] 105; Kenner, a.O. 65.
[6]
Aristophanes: Lys. 772; Kenner, a.O. 5.
[7]
Beispiele bei Kenner, a.O. 64.
[8]
Theokrit: Idyll. 1 (Thyrsis), 131ff., zit. a.O. 66.
[9]
Curtius, a.O. [1] 105.
[10]
Vgl. Art. ‹Welt, verkehrte›, in: Lex. des MA 8 (1997) 2158.
[11]
W. Weiss: V.W., Schlaraffenland und Tausendjähriges Reich. Utop. Entwürfe in der engl. Lit. des MA, in: M. Pfister (Hg.): Alternat. Welten (1982) 81–95; F. Delpech: Aspects des pays de Cocagne, in: Lafond/Redondo (Hg.), a.O. [1] 35–48; D. Kunzle: World upside down. The iconography of a Europ. broadsheet type, in: Babcock (Hg.), a.O. [3] 39–94.
[12]
H. Bote: Ein kurtzweilig Lesen von Dyl Ulenspiegel geboren uss dem Land zu Brunsswick (1510/15); S. Brant: Narrenschiff (1494); Erasmus von Rott.: Encomium moriae (Straßburg 1511).
[13]
F. Rabelais: Gargantua et Pantagruel (1534–64); H. J. von Grimmelshausen: Der Abentheuerl. Simplicissimus Teutsch (1669).
[14]
H. Plett: Das Paradoxon als rhet. Kategorie, in: P. Geyer/R. Hagenbüchle (Hg.): Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländ. Denkens (1992) 89–104; vgl. Art. ‹Paradox›. Hist. Wb. Philos. 7 (1989) 81–97.
[15]
Curtius, a.O. [1] 108.
[16]
Kunzle, a.O. [11].
[17]
Kuper, a.O. [2] 14.
[18]
a.O. 10. 40ff.; B. Scribner: Reformation, Karneval und die v.W., in: R. van Dülmen/N. Schindler: Volkskultur (1984) 143.
[19]
Bachtin, a.O. [1] 122; G. Kaiser: Totentanz und v.W., in: F. Link (Hg.): Tanz und Tod in Kunst und Lit. (1993) 93–118.
[20]
Bachtin, a.O. 359ff.
[21]
B. G. Myerhoff: Return to Wirikuta. Ritual reversal and symbolic continuity in Peyote Hunt of the Huichol Indians, in: Babcock (Hg.), a.O. [3] 225–239; M. Eliade: Shamanism. Archaic techniques of ecstasy (1964).
[22]
J. Simpson: The world upside-down shall be. A Note on the Folklore of Doomsday. J. Amer. Folklore 91 (1978) 559–671.
[23]
Vgl. etwa: A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorst., Anhang (1819/44). Sämtl. Werke, hg. A. Hübscher 2 (21949) 603; F. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral 3, 14 (1887). Krit. Ges.ausg. 6/2 (1968) 389; Socrates und die Tragödie [1871], a.O. 3/2 (1973) 33.
[24]
G. W. F. Hegel: Phän. des Geistes, III. Krafft und Verstand (1807). Akad.-A. 9 (1980) 88–102, 96f.; H.-G. Gadamer: Die v.W. (1966). Hegel-Studien, Beih. 3 (1966) 135–154; ND, in: H. F. Fulda/D. Henrich (Hg.): Mat. zu Hegels ‹Phän. des Geistes› (1973) 106–130.
[25]
K. Marx: Ökon.-philos. Ms. [1844]. MEW 40, 564ff.; Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilos. (1844). MEW 1, 378; Die dtsch. Ideologie [1846]. MEW 3, 505; H.-J. Helmich: ‘V.W.ʼ als Grundgedanke des Marxschen Werkes (1980).