Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Weltschmerz

Weltschmerz 4801 10.24894/HWPh.4801 Wolfdietrich Rasch
Literaturtheorie world-woe mal du siècle ennui
Weltschmerz (engl. world-woe; weltschmerz; frz. mal du siècle) ist eine Bezeichnung für das ständige Leiden am unaufhebbaren Zwiespalt zwischen den Ansprüchen des Geistes und Herzens und der Beschaffenheit der Wirklichkeit [1]. Durch einzelne schmerzliche Erfahrungen wird dieses Leiden nur ausgelöst oder bestätigt, nicht verursacht. Der Begriff wird geläufig in der europäischen Spätromantik des frühen 19. Jh. Die Erfahrung der unlöslichen Antinomie von Ich und Welt ist schon in J. W. Goethes Roman ‹Die Leiden des jungen Werthers› (1774) gestaltet, mit breitester Resonanz in Europa. Es ist jedoch problematisch, den Terminus schon auf jene Dichtungen des 18. Jh. anzuwenden [2], in denen sich mannigfaches Leiden an der Wirklichkeit meistens als sanfte Melancholie (s.d.) oder empfindsame Trauer (s.d.) ausspricht. Gewiß sind das Vorklänge der sich im 19. Jh. äußernden leidvollen Desillusionierung und Weltverneinung. Diese aber hat nach der Französischen Revolution eine spezifische Ausprägung erfahren, für die man den Begriff ‹W.› vorbehalten sollte. Der weltfeindliche Affekt verschärft sich, die grauen Färbungen werden dunkler. Dieser W. ist kaum noch als Gegenposition gegen den Optimismus der Aufklärung gerichtet, sondern wird ohne Gegenhalt zu einer habituellen Verneinung. Die Verschärfung zeigt sich schon in F.-R. de Chateaubriands in der Werther-Nachfolge stehendem Roman ‹René› (1802) oder in den (anonymen) ‹Nachtwachen des Bonaventura› (1805). Beide Werke dürfen als frühe Bekundungen des W. gelten.
Das Wort ist zuerst bei Jean Paul nachgewiesen [3]. Es bezeichnet hier die Gesamtheit des Leidens in der Welt: «Gott, um den W. auszuhalten, muß die Zukunft sehen». H. Heine bezeichnet 1831 mit ‹W.› das Leiden an der Vergänglichkeit irdischer Größe [4]. K. L. Immermann nennt 1838 ‹W.› die resignierende Verneinung aller Gegebenheiten [5] und kennzeichnet 1836 die Stimmungslage der Zeit um 1830 durch die Neigung, «sich auch ohne alles besondre Leid unselig zu fühlen» [6].
Th. Mundt, F. Hebbel und andere verwenden das Wort als literaturkritischen Begriff [7]. 1855 gibt J. Schmidt eine prägnante Formulierung des Phänomens: «Diese Poesie des W., der Vorbote einer innern Revolution der Gesellschaft, ging nicht aus einem Behagen am Gemeinen und Häßlichen hervor, sondern aus einem hochfliegenden Idealismus, der in seinem vergeblichen Ringen nach Gestaltung sich endlich mit Trauer und Zorn darauf resignirte, eine unermeßliche Wüste zu beleuchten, in der nur das vorhanden ist, was nicht sein soll» [8].
‹W.› berührt sich eng mit dem gleichfalls modischen Begriff ‹Zerrissenheit› (s.d.), auch mit ‹Schwermut› (s.d.), ‹Langeweile› (s.d.), ‹Überdruß› (s.d.). Das französische Wort für ‹W.› ist ‹mal du siècle›, oft auch ‹ennui› [9]. Weltschmerzliche Gestimmtheit findet sich bei europäischen Autoren wie J.-K. Huysmans, A. de Musset, G. Leopardi, J. P. Jacobsen, M. J. Lermontov.
In Deutschland waren besonders Lord Byrons Dichtungen wirksam, deren Weltekel [10] und blasierte Verzweiflung intensiv rezipiert wurden. Die politische Enttäuschung, die rasch zunehmende Lösung aus den kirchlichen Bindungen, der durch die Restauration behinderte Übergang zu neuen Gesellschaftsordnungen, die unbewältigte Neuorientierung, die durch die industrielle Revolution gefordert, durch das romantische Erbe erschwert wurde, sind Voraussetzungen des W. als zeitspezifischer, weitverbreiteter Haltung, die in den Dichtungen von K. L. Immermann, H. Heine, N. Lenau, W. Waiblinger, in Dramen Ch. D. Grabbes und G. Büchners, in den Romanen der Jungdeutschen, in A. von Ungern-Sternbergs Erzählung ‹Die Zerrissenen› und in vielen anderen Werken literarischen Ausdruck fand. Die Philosophie A. Schopenhauers[11], besonders deren Begründung des Pessimismus (s.d.), kann als theoretische Grundlegung des W. angesehen werden. Sie kommt allerdings erst nach 1848 zu ihrer eigentlichen Wirkung.
In der zweiten Hälfte des 19. Jh. bekommt das Wort einen ironischen Beiklang, oft eine negative Färbung, es ist «durch Mißbrauch lächerlich geworden» [12]. Der späte F. Nietzsche distanziert sich vom «europäischen ‘W.ʼ» [13]. ‹W.› gilt schließlich als Bezeichnung einer koketten Pose jugendlicher Subjektivität, die bloßes persönliches Unglück auf die Weltdeutung überträgt, oder einer «krankhaften Empfindlichkeit für die Mängel und Übel der Welt» [14]. Nichtsdestoweniger macht die Entwicklungspsychologie in jedem Lebensgang Phasen aus, in denen, um mit Heine zu sprechen, für den «nagenden Bandwurm des W.» im Herzen [15] eine besondere Empfindsamkeit besteht.
[1]
Art. ‹W.›. Grimm 14/I, 1 (1955) 1685–1688; F. Kainz: Art. ‹Pessimistische Dichtung›, in: P. Merker/W. Stammler (Hg.): Reallex. der dtsch. Lit.gesch. 2 (1926–28) 663–676.
[2]
Vgl. W. Rose: From Goethe to Byron. The development of ‘W.ʼ in German lit. (London 1924).
[3]
Jean Paul: Selina [postum 1827]. Sämtl. Werke, hg. E. Berend II/4 (1934) 485.
[4]
H. Heine: Französ. Maler. Gemäldeausstellung in Paris (1831). Sämtl. Werke, hg. M. Windfuhr 12/1 (1980) 39.
[5]
K. L. Immermann: Münchhausen I, 2 (1838). Werke, hg. H. Maync (1906) 1, 238f.
[6]
Die Epigonen I, 10 [1823–1835], a.O. 3, 135.
[7]
Grimm, a.O. [1] 1686f.
[8]
J. Schmidt: Gesch. der Dtsch. Lit. im 19. Jh. (21855) 3, 10.
[9]
Vgl. auch: Art. ‹Spleen›. Hist. Wb. Philos. 9 (1995) 1422–1424.
[10]
Vgl. Art. ‹Ekel›, a.O. 2 (1972) 432.
[11]
A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorst. (1819, 21844, 31859).
[12]
F. Th. Vischer: Aesthetik oder Wiss. des Schönen (1846–57) 1, 452.
[13]
F. Nietzsche: Zur Genealogie der Moral 3, 17 (1887). Krit. Ges.ausg., hg. G. Colli/M. Montinari (1967ff.) 6/2, 395.
[14]
F. Kirchner/C. Michaeli: Art. ‹W.›, in: Wörterbuch der philos. Grundbegriffe (1911) 1094.
[15]
H. Heine: Geständnisse (1854), a.O. [4] 15, 12.
W. A. Braun: Types of W. in German poetry (New York 1905). – W. Rose s. Anm. [2]. – K. Kern: Der W. in der Lyrik von Leopardi, Vigny und Leconte de Lisle (1962). – H. Bost: Der Weltschmerzler: Ein lit. Typus und seine Motive (1994). – H. Zeman (Hg.): N. Lenau und der europ. W. (Wien 1997).