Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Wirklichkeit

Wirklichkeit 4865 10.24894/HWPh.4865Tobias Trappe
Metaphysik Realität operatio12 830 peccatum actuale12 830 vis activa12 830 existentia12 830 actualitas12 830 complementum possibilitatis12 830 essentiae12 830 Dasein12 831 Wirksamkeit12 832 Aktualisierung12 833 Existenz Verwirklichung12 836 Entwirklichung12 836 Wirklichkeitsphilosophie12 837 Sein Quasiwirklichkeit12 838 Pseudo-Existenz12 838 Zweiwirklichkeitentheorie12 839 Einwirklichkeitentheorie12 839 Wirklichkeitswissenschaften12 839 überwirklich12 839 Seinsmodi12 843 Widerstand12 844 Antifiktion12 845 Wirklichkeit Gottes12 836 Selbstoffenbarung des Geistes12 841 übersetzen; übertragen12 834
1. Abgrenzungen. – Spätestens seit der zweiten Hälfte des 17. Jh. meint ‹wirklich› umgangssprachlich vor allem ‘tatsächlich bestehendʼ, und zwar regelmäßig im engeren Sinne handgreiflicher (körperlicher) Vorhandenheit, kann aber darüber hinaus auch die Bedeutung von ‹wahr(haftig)›, ‹eigentlich› (‹wesenhaft›), ‹berechtigt› oder ‹echt› annehmen. Ähnlich wie das häufig synonym gebrauchte ‹Realität› läßt sich ‹W.› auch universal verstehen und bezeichnet dann die Totalität dessen, was ‘wirklich istʼ [1]. – Zwischen ‹Realität› und ‹W.› jedoch differenzieren zu können, bildet eine Eigentümlichkeit des Deutschen, die weder im Englischen noch in den romanischen Sprachen ein vergleichbares Gegenstück hat unddaher regelmäßig zu Konfusionen in der Übersetzung führt [2].
Die philosophische Bedeutung dieser Distinktion weist zurück auf eine Zweideutigkeit im Begriff ‹realitas› (s.d.), die sich an der Wende zum 18. Jh. bei G. W. Leibniz und vor allem in der englischen Philosophie («reality of things») ankündigt [3]. Der Tendenz, ‹Realität› mit den vielfach synonym gebrauchten ‹Existenz›, ‹Dasein›, ‹W.› zu identifizieren, entspricht eine nominalistische, d.h. enge, am extramentalen Ding orientierte Auffassung des Objekts bzw. «objektiven Seins» [4]. Deren Problematik bestimmt neben der Diskussion um den Begriff ‹Geltung› (s.d.) auch die erkenntnistheoretische, zwischen Realismus und Antirealismus bzw. Idealismus strittige Frage um die Denkunabhängigkeit bzw. Erkennbarkeit einer W. ‘an sichʼ [5]. Von dieser gnoseologischen ebenso wie von der ontologischen Fragestellung unterschieden, wenngleich mit ihr in bisweilen schwer zu entwirrender Weise verbunden, ist die Erörterung von ‹W.› im Rahmen der Modallogik(s.d.). Diese kennt freilich in ihrer klassischen, auf Aristoteles zurückgehenden Gestalt nur die Doppelalternative ‹possibile-impossibile› sowie ‹necessarium-contingens›, während sich die Dreiteilung ‹möglich›, ‹wirklich› und ‹notwendig› erst seit J. H. Lambert durchzusetzen beginnt [6]. Diese Entwicklung erklärt einerseits die Nähe von ‹W.› zu ‹Kontingenz› (s.d.), weist aber zum anderen auch hin auf eine gewisse Vernachlässigung von ‹W.› gegenüber ‹Möglichkeit› (s.d.), die jene an Allgemeinheit überragt, bzw. ‹Notwendigkeit› (s.d.), die den Grad höchster Gewißheit ausdrückt. Über dieses mangelnde Interesse an einer differenzierten Klärung des W.-Begriffs [7] darf auch die herausragende Bedeutung von ‹Energeia› (‹actus›, ‹actualitas›) in der von Aristoteles ausgehenden Gegenüberstellung von Akt/Potenz (s.d.) nicht hinwegtäuschen, die mit ihrem teleologischen Verständnis von W. als Verwirklichung eines Eidos nicht eigentlich in die Modallehre gehört, wenngleich sie (wie etwa bei G. W. F. Hegel) immer wieder in diese hineinspielt.
[1]
Vgl. Art. ‹Wirklich›. Grimm 14/II (1960) 575–581; Art. ‹Wirklichkeit›, a.O. 582–586.
[2]
Vgl. G. Baptist: ‹W.›. Zur Übersetzungsproblematik in den roman. Sprachen. Hegel-Studien 34 (1999) 85–98; Beispiel: J. L. Austin: Sense and sensibilia (London 1962); dtsch.: Sinn und Sinnlichkeit, Kap. 7, übers. E. Cassirer (1975) 83–102, bes. die Anm. 5 der Übersetzerin: a.O. 91.
[3]
Vgl. Art. ‹Realitas 2.›. Hist. Wb. Philos. 8 (1992) 181–185, 182f.
[4]
Vgl. Art. ‹Sein, objektives 4.›, a.O. 9 (1995) 251; vgl. auch: Art. ‹Objekt 6.›, a.O. 6 (1984) 1036ff.
[5]
Vgl. M. Willaschek (Hg.): Realismus (2000); Art. ‹Realismus II. 1.›. Hist. Wb. Philos. 8 (1992) 156–159.
[6]
J. H. Lambert: Neues Organon 1 (1764) 89; vgl. Art. ‹Modalität (des Urteils)›. Hist. Wb. Philos. 6 (1984) 12–16.
[7]
Beobachtet etwa durch N. Hartmann: Logische und ontolog. W. (1914). Kleinere Schr. 3 (1958) 220–242, hier: 220.
2. Von der Mystik bis vor Kant. – Der prozeßhaften Konzeption (ebenso wie der vereinzelt belegten Verwendung von ‹W.› als Übersetzung von «operatio» [1]) entspricht der mystische Gebrauch: Wie «aller creâtûren wesen» «in irem wirken» liegt, so muß auch Gott im Sinne des actus purus gedacht werden: als reine «wúrklichkeit» [2]. Diese bewährt sich jedoch nicht so sehr in der Selbsterfassung des göttlichen Wesens und damit in der Einheit von essentia und scientia, sondern im schöpferischen Tätigsein: Auch in diesem Sinne ist Gott «würchlich» [3]. Dieses ‘akthafteʼ Verständnis von ‹W.› bzw. ‹wirklich› [4] steht auch noch hinter dem Gedanken der mystisch-kontemplativen Entwirklichung [5]. Es setzt sich fort in Differenzierungen wie zwischen «würcklichem» («wirkendem») und «beschaulichem Leben» [6] oder «wurcklicher» (peccatum actuale) und habitueller Sünde [7], um schließlich in den Streit um die beständig «würkliche» Kraft (vis activa) einzumünden [8]. Die terminologische Weichenstellung nimmt Ch. Wolff vor: Definiert der Satz vom Widerspruch den Gegensatz vom Unmöglichen und Möglichen, so muß «noch etwas mehrers dazu kommen, wenn etwas seyn soll, wodurch das Mögliche seine Erfüllung erhält. Und diese Erfüllung des Möglichen ist eben dasjenige, was wir Würcklichkeit nennen» [9] («existentia» bzw. «actualitas» [10]). Die als «complementum possibilitatis» bzw. «essentiae» verstandene W. gründet im durchgängigen «Zusammenhange der Dinge» [11], daher letztlich – anti-spinozistisch [12] – in Gottes Weltenwahl, d.h. in seinem Willen [13], hat jedoch die «Kraft» zu ihrem Prinzip («Quelle») [14]. Diesen Sprachgebrauch reflektiert M. Mendelssohn: «Das Wort würklich seyn, wodurch man das Daseyn andeutet, giebt nicht ohne Grund zu verstehen, daß alles, was da ist, auch würklich seyn, d.i. etwas thun müsse» [15].
[1]
Vgl. Art. ‹Wirklichkeit›. Grimm 14/II (1960) 582.
[2]
Vgl. J. Bernhart: Die philos. Mystik des MA (1922) 64–69.
[3]
Berthold von Chiemsee: Tewtsche theologey, c. 22, 10 (1528), hg. W. Reithmeier (1852) 156.
[4]
Vgl. Meister Eckhart: Die rede der underscheidunge. Die dtsch. Werke, hg. J. Quint 5 (1963) 291, 6f.
[5]
Vgl. H. Seuse: Dtsch. Schr., hg. K. Bihlmeyer (1907, ND 1961) 189, 19–21.
[6]
Am Beispiel von Maria und Martha vgl. F. Pfeiffer (Hg.): Dtsch. Mystiker des 14. Jh. (1845/1857) 1, 179, 21 (Hermann von Fritslar); vgl. Art. ‹Vita activa/vita contemplativa›. Hist. Wb. Philos. 11 (2001) 1071–1075.
[7]
«wirklich sund»: M. Luther: Kirchenpostille (1522). Weim. Ausg. 10, 1, 1 (1910, ND 1966) 511; vgl. Art. ‹Wirklich›, a.O. [1] 576; dort auch der Hinweis auf G. Zinzendorf: Sämtl. neue Lieder (1773) 31 («wirklich sünde»).
[8]
Vgl. auch: I. Kant: Ged. von der wahren Schätzung der lebend. Kräfte (1747). Akad.-A. 1, 18ff.
[9]
Ch. Wolff: Vern. Ged. von Gott, der Welt und der Seele des Menschen [Dtsch. Met.] § 14 (1720, 111751). Ges. Werke, hg. J. Ecole u.a. [GW] (1962ff.) I/2, 9.
[10]
Philosophia prima § 174 (21736). GW II/3, 143.
[11]
Dtsch. Met. § 572, a.O. [9] 350.
[12]
Vgl. Wolffs Antwort auf den Spinozismusvorwurf (durch J. Lange): Deutliche Erläuterung des Unterscheides unter einer weisen Verknüpfung der Dinge und einer unumgänglichen Nothwendigkeit, bes. § 11 (1723). Ges. kl. philos. Schr. 4 (1739). GW I/21, 4 (1981) 81–83.
[13]
Dtsch. Met. § 988, a.O. [9] 610.
[14]
§ 120, a.O. 62; vgl. § 115, a.O. 60.
[15]
M. Mendelssohn: Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele (1767), Anhang (31769). Ges. Schr. 3/1, hg. L. Strauss (1972) 144.
3. W. und Empfindung: Crusius, Kant. – Gegenüber Wolff reduziert C. A. Crusius die Ontologie auf die «wirklich vorhandenen Dinge» [1], d.h. auf das, was nicht nur gedacht wird, sondern «auch ausserhalb der Gedanken irgendwo vorhanden ist». Dinge in diesem eigentlichen («engern») Sinne [2] aber haben zum «Kennzeichen der W.» zuletzt «Empfindung» [3]. Nicht dies, wohl aber die Tatsache, daß Crusius in weiterer Folge Raum («irgendwo») und «Zeit», dann auch «Causalität» bzw. «Kraft» als Bestimmungen der «Existenz» ansetzt [4], hat die Kritik Kants herausgefordert [5]. Ihm zufolge muß «Sein» im Sinne der Kopula streng unterschieden werden vom «Sein» als «Dasein», «Existenz», «W.»: Nur hier, nicht dort wird die «Sache an und für sich selbst gesetzt». Diese «absolute Position» aber ist gerade kein (wie es später heißen wird: «reales» [6]) «Prädicat», keine «Determination» des Dinges mehr, also kein complementum [7]. Das ist zwar gegen den von Wolff wie A. G. Baumgarten[8] formulierten Begriff von «Dasein» bzw. «W.» gerichtet, anfangs jedoch noch keineswegs gegen das Projekt eines (ontologischen) Gottesbeweises überhaupt – nur daß jetzt nicht auf die W. des Göttlichen, sondern auf die Göttlichkeit des Wirklichen geschlossen wird (J. H. Tieftrunk) [9]. Erst die kritische Philosophie stellt mit der Onto-Theologie auch die (klassische Form der) Metaphysik insgesamt in Frage. Denn was als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung in seiner «objektiven Realität» deduziert wird, ist zugleich auf den «empirischen Gebrauch», auf Erfahrung und deren (synthetische) Einheit «restringiert» [10]. Das gilt wie für alle Kategorien, so auch für die dem assertorischen Urteil zugeordnete W., die nun als Kategorie der Modalität eindeutig von der (zu den Qualitätskategorien gerechneten) Realität abgegrenzt ist [11]. Demgemäß ist wirklich, was «mit den materialen Bedingungen der Erfahrung ... zusammenhängt». «Empfindung» [12] bzw. der (den «Analogien der Erfahrung» entsprechend geregelte) Zusammenhang mit Wahrnehmung ist daher «der einzige Charakter der W.» [13]. Möglichkeit und W. zu unterscheiden, zeichnet dabei den intellectus ectypus im Gegensatz zum intellectus archetypus aus, ist in diesem Sinne also nur «subjectiv» gültig: «Wäre nämlich unser Verstand anschauend, so hätte er keine Gegenstände als das Wirkliche» [14]. Mit diesem Auseinandertreten von Sinnlichkeit und Verstand kann daher W. (im Sinne der positio absoluta, des Existenzoperators) innerhalb der (endlichen) Erkenntnis dem «Begriffe eines Dinges, (Realen)» nichts mehr hinzufügen [15]. Das ist der Sinn des berühmten Diktums: «Hundert wirkliche Thaler enthalten nicht das Mindeste mehr, als hundert mögliche» [16].
[1]
Vgl. C. A. Crusius: Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten § 9 (1745, ND 1964) 15f.
[2]
§ 11, a.O. 21.
[3]
§ 16, a.O. 28; vgl. § 56, a.O. 98.
[4]
Vgl. §§ 46. 59, a.O. 73–75. 103–105.
[5]
I. Kant: Der einzig mögl. Beweisgrundzu einer Demonstration des Daseyns Gottes (1763). Akad.-A. 2, 76.
[6]
KrV A 598f./B 626f.
[7]
a.O. [5] 72–74; Met. L2 [Met. Pölitz] (1821). Akad.-A. 28/2. 1, 554f.
[8]
Vgl. A. Baumgarten: Metaphysica § 55 (71779, ND 1963) 15f.: «Würkligkeit».
[9]
Vgl. J. H. Tieftrunk: [Komm. zu:] I. Kant, Der einzig mögl. Beweisgr. ... I. Kant's Vermischte Schriften (1799) 2, 174. 242; vgl. H. Cohen: Die systemat. Begriffe in Kants vorkrit. Schriften (1873) 33.
[10]
Vgl. Kant: KrV A 219/B 266f.
[11]
Dazu: H. Holzhey: Das philos. Realitätsproblem, in: J. Kopper/W. Marx (Hg.): 200 Jahre KrV (1981) 79–111.
[12]
Kant: KrV A 218/B 266; vgl. L. H. Jakob: Prüfung der Mendelssohnschen Morgenstunden (1786) 243f.
[13]
KrV A 225f./B 272f.
[14]
KU B 339–342 (§ 76 Anm.).
[15]
KrV A 233f./B 286.
[16]
KrV A 599/B 627.
4. W. als Manifestation: Spinozismusstreit. – Daß mitunter der (nicht relative bzw. prädikative, sondern absolute) Begriff des Seins mit dem der W. tendenziell verschmilzt, öffnet diesen für eine pantheistische Interpretation. Ausgangspunkt ist G. E. Lessings Rehabilitierung des trinitarischen Dogmas [1]. F. H. Jacobis «Commentar» zu diesem Ansatz argumentiert ausdrücklich «nach Spinozistischen Ideen» und gibt so der Rezeption der Lessingschen Philosophie ihren entscheidenden Impuls: «Der Gott des Spinoza, ist das lautere Prinzipium der Würklichkeit in allem Würklichen, des Seyns in allem Daseyn, durchaus ohne Individualität, und schlechterdings unendlich». Als indifferente, beziehungslose Einheit verstanden, «muß die Gottheit aber schlechterdings der Würklichkeit entbehren, die nur im bestimmten Einzelnen sich ausgedrückt befinden kann» [2]. Der Unterschied zwischen W. bzw. Sein einerseits, dem Wirklichen bzw. Dasein andererseits wird (auch unter Aufnahme kabbalistisch-mystischer Motive) von Spinoza her als explicatio begriffen: als Ausdruck, Selbstoffenbarung (manifestatio sui) des (immanenten) Ensoph (s.d.). Daß diese Auslegung die Intention Spinozas geradewegs «umzukehren» scheint [3], hat ihre Attraktivität nicht schmälern können. J. G. Herder ordnet sie ein in eine Ontologie der Kraft bzw. «Macht d.i. W. und Wirksamkeit», «wirkliche Wirksamkeit, wirksames Daseyn» [4]. «W.» (austauschbar mit «Realität», «thätiges Daseyn» [5]) «offenbaret» sich «als Macht» und wird als solche zum «Höchsten», was Gott, das «All», «seinen Geschöpfen» geben kann [6], präsent als «Gefühl» in «Selbstbewußtseyn, Selbstwirksamkeit» [7].
[1]
G. E. Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) § 73. Werke, hg. H. G. Göpfert 8 (1996) 505.
[2]
F. H. Jacobi: Über die Lehre des Spinoza (1785). Werke, hg. K. Hammacher/W. Jaeschke 1/1 (1998) 39; vgl. 22f.
[3]
M. Mendelssohn: Erinnerungen an Herrn Jacobi, a.O. 180f. Ges. Schr., a.O. [15 zu 2.] 3/2 (1974) 206.
[4]
J. G. Herder: Gott (1787, 21800). Sämmtl. Werke, hg. B. Suphan (1877–1913) 16, 478f.
[5]
a.O. 502. 536.
[6]
541; vgl. 536. 573.
[7]
574; vgl. 552.
5. Seyn und W.: Fichte, Schelling. – Indem der Idealismus die Kantische Begrenzung des Wissens auf Erscheinungen hinter sich läßt, kommt es zu einer neuen Unterscheidung des Begriffs ‹W.› nicht so sehr von ‹Realität› als vielmehr von ‹Sein›, das nun (erneut) zur Kategorie des Absoluten avanciert, während ‹W.› (wie die anderen Modalkategorien) nur noch als Bestimmung endlich-bedingter Existenz in Frage kommt. So insistiert schon die frühe Wissenschaftslehre J. G. Fichtes darauf, «absolutes Seyn und wirkliches Daseyn» sorgfältig voneinander zu unterscheiden, soll sich dieses aus jenem «erklären» lassen [1]. Das geschieht u.a. mit Blick auf die alltäglich ebenso zuverlässig vollzogene wie intersubjektiv abgestimmte Unterscheidung zwischen «W.» und «Nichtwirklichkeit», d.h. zwischen dem «wirklich Reellen» (der wahren «Thatsache» des «gegenwärtigen Erfahrens und Lebens») und dem «nicht wirklichen, bloß eingebildeten, und vorgebildeten» [2]. Fichte zeigt: Primäres Kennzeichen, «Charakter der W.», ist das Selbstvergessen [3], W. daher nicht außerhalb aller Subjektivität, sondern nur eine bestimmte Modalität ihrer selbst [4]. – Auch der frühe F. W. J. Schelling sucht «alles Setzen, alles Daseyn, alle W.» in dem absoluten, unbedingten, schlechthin einen Sein, dem absoluten Ich, zu begründen [5]. Das zwingt zu einer ausdrücklichen Differenzierung zwischen diesem «absoluten Seyn» einerseits und «jedem bedingten Existiren» («Daseyn, Existenz, W.») andererseits: «Seyn» drückt demnach «das reine, absolute Gesetztseyn aus, dagegen Daseyn schon etymologisch ein bedingtes, eingeschränktes Gesetztsein», «W.» aber «ein auf bestimmte Art, durch eine bestimmte Bedingung bedingtes Gesetztseyn». Insofern ist das Ich ebensowenig «wirklich», wie man von Gott «Daseyn» aussagen darf; wohl hat «die Welt der Erscheinungen» «Daseyn», «W.» aber nur jede «einzelne Erscheinung» in ihrem Zusammenhang [6]. Dementsprechend liegt das bloße, absolute Sein des Ich vor aller «Möglichkeit, W., Nothwendigkeit» [7]. Von daher müssen die «Formen der Modalität» von den «Kategorien ... der Relation, der Quantität und der Qualität» abgehoben werden [8] und markieren als Bestimmungen des endlichen Ich den Übergang von der theoretischen zur praktischen Philosophie [9], denn erst mit ihnen gibt es überhaupt so etwas wie ein «Sollen» (bzw. Dürfen) [10] sowie «Pflicht» und «Recht» [11].
[1]
J. G. Fichte: Grundlage der ges. Wiss.lehre (1794). Akad.-A. I/2, 410 (Anm.).
[2]
Sonnenklarer Bericht ... (1801). Akad.-A. I/7, 196f.
[3]
a.O. 198f.
[4]
203; vgl. ähnlich: a.O. [1] 373f.
[5]
F. W. J. Schelling: Vom Ich als Princip der Philos. (1795). Sämmtl. Werke [SW], hg. K. F. A. Schelling (1856–61) I/1, 178.
[6]
a.O. 209f.; vgl. auch: System der ges. Philos. § 291 (1804). SW I/6, 523. 529; mit Blick auf den ontolog. Gottesbeweis vgl. Philos. Briefe über Dogmatismus und Kriticismus (1795). SW I/1, 308.
[7]
a.O. [5] 221; vgl. 232.
[8]
a.O. 222.
[9]
Besonders deutlich: System des transsc. Idealismus (1800). SW I/3, 515 und 527.
[10]
a.O. [5] 233; vgl. auch: Über das absolute Identitäts-System (1802/03). SW I/5, 56.
[11]
Neue Deduktion des Naturrechts ... §§ 64f. (1795). SW I/1, 259.
6. Vernunft und W.: Hegel. – Der von Schelling in seiner späteren Philosophie in Anspruch genommene ‘expressiveʼ Begriff von W. als «Actualisierung», «Offenbarung» usw. [1] liegt auch den Überlegungen Hegels zugrunde [2]. Diese sind daher auch schnell als die große philosophische Alternative gegenüber Kants Kategorien der Modalität empfunden worden [3]. Tatsächlich findet sich bei Hegel die Polemik gegenüber Kants Modalbestimmungen von Anfang an [4], und zwar im Hinblick sowohl auf ihr Verhältnis untereinander [5] und ihre Stellung zu den übrigen Kategorien(-gruppen) [6] als auch nach ihrer inhaltlichen Bestimmtheit [7]. Wirkungsgeschichtlich bedeutsamer [8] als die nun allerdings auch bei Hegel keineswegs einheitliche [9] Logik der Modalbestimmungen waren indessen die programmatischen Äußerungen in der ‹Vorrede› zur ‹Rechtsphilosophie› von 1821 (bzw. 1820). Durch diese «einfachen Sätze», die Anlaß für zahlreiche Reformulierungsvorschläge werden sollten [10], wird der Begriff der W. verknüpft mit der Frage nach dem Verhältnis der Philosophie bes. zur politischen Situation ihrer Zeit: «Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig». Zwar ist der Begriff der W. für die Formulierung dieser der Philosophie wie dem gebildeten Bewußtsein gleichermaßen eigentümlichen Überzeugung [11] nicht zwingend: Philosophie widersetzt sich jedweder Form der «Seinsvermiesung»[12], schließlich ist das, «was ist» und was Philosophie daher zu «begreifen» hat, gar nichts anderes als «Vernunft» [13], W. daher auch «seyende Vernunft» [14]. Dennoch übernimmt der W.-Begriff hier eine nur ihn kennzeichnende Funktion. Dabei ist auseinanderzuhalten: 1) Negativ richtet sich die (dem Jüngling noch verschlossene [15]) These von der Vernünftigkeit der W. bzw. von der W. der Vernunft a) gegen die ontologische Abwertung des «Idealen» zur bloßen «Chimäre», vor allem aber zum bloßen «Sollen» [16] sowie b) gegen eine Reduktion von W. auf handgreifliche, sinnlich wahrnehmbare Realität; das wiederum ist – nach Hegel – ein akzeptabler Sinn der Kantischen Kritik am ontologischen Gottesbeweis [17]. Sich über diese W. zu «erheben», ist schon eine «praktische Forderung» des Sittlichen, liegt aber auch der Philosophie überhaupt zugrunde, wird also bereits mit der Anfangsbestimmung der Logik (dem «reinen Gedanken», dem «Sein als solchem») erreicht [18]. 2) Sowohl nach den (bloßen) Andeutungen der ‹Rechtsphilosophie› [19] als auch nach den Erläuterungen der (Berliner) ‹Enzyklopädie› muß Hegels These von der W. der Vernunft darüber hinaus auch terminologisch verstanden werden [20]. Hier ist zu unterscheiden: a) Als Bestimmung der Logik ist ‹W.› zunächst der übergreifende Titel des dritten und abschließenden Abschnitts der Wesens- und damit der objektiven Logik [21], durch den sich der Übergang zur subjektiven Logik oder Begriffslogik vollzieht. In diesem Sinne verstanden meint ‹W.› die Einheit von «Reflexion-in-sich» und «Reflexion-in-Anderes» bzw. «Innen» und «Außen»: «Die W. ist die Einheit des Wesens und der Existenz; in ihr hat das gestaltlose Wesen und die haltlose Erscheinung; – oder das bestimmungslose Bestehen und die bestandlose Mannichfaltigkeit ihre Wahrheit» [22]. In diesem weiteren (oft als «Wirksamkeit» [23] weithin rezipierten [24]) Sinn ist ‹W.› eine höhere, komplexere Bestimmung als ‹Existenz›, denn erst in jener, nicht in dieser ist die Äußerung bzw. Offenbarung des Wesens von diesem nicht mehr unterschieden; eben damit beansprucht Hegel zugleich, den aristotelischen Begriff der Energeia logisch-ontologisch eingeholt zu haben [25]. b) Dieser so verstandenen W. als (Selbst-)Manifestation bzw. -offenbarung [26] ordnet Hegel neben den kantischen Relationskategorien in allerdings unterschiedlicher Weise [27] auch die Modalitätsbestimmungen («die eigentliche W.») zu [28]. Innerhalb dieser wiederholt sich der Gegensatz von Innerem und Äußerem noch einmal, so daß «Möglichkeit» und «Zufälligkeit» als «Momente der W.» begreifbar werden: Jene als das «nur Innere der W.», diese als «die nur äußere W.». Aus ihrem wechselseitigen «Sichübersetzen» ineinander resultiert «die Notwendigkeit», d.h. die «entwickelte W.» [29], als deren vollständige Explikation dann die Relationskategorie ‹Wechselwirkung› (s.d.) gelten darf.
[1]
F. W. J. Schelling: Br. an E. A. Eschenmayer (April 1812). SW I/8, 173; Die Weltalter (1813). SW I/8, 308. 306; vgl. auch: 221. 311. 315.
[2]
Vgl. G. W. F. Hegel: Enzykl. der philos. Wiss. § 136, Zus. (1830). Jub.ausg., hg. H. Glockner (1927–40) 8, 309.
[3]
Vgl. H. M. Chalybäus: Entwurf eines Systems der Wiss.lehre (1846) 227–244, bes. 230–233; F. A. Trendelenburg: Log. Unters. (31870) 2, 177–227, bes. 219ff.
[4]
G. W. F. Hegel: Differenz des Fichte'schen und Schelling'schen Systems der Philos. (1801). Akad.-A. 4, 5f.
[5]
Vgl. Vorles. über die Gesch. der Philos. III. Jub.ausg. 19, 567.
[6]
Wiss. der Logik I (1812/13). Akad.-A. 11, 42. 189f.; vgl. die Neubearb. von 1832. Akad.-A. 21, 67. 323f.
[7]
Enzykl. § 143 Zus., a.O. [2] 322f.
[8]
Inzwischen allerdings textkritisch problematisiert; vgl. die divergierenden Formulierungen in den Nachschriften: Philos. des Rechts, hg. K.-H. Ilting (1983) 157 [Nachschr. Wannemann]; Philos. des Rechts (1819/20), hg. D. Henrich (1983) 51.
[9]
Auf solche Unterschiede ist schon früh aufmerksam gemacht worden, vgl. etwa: K. Rosenkranz: Wiss. der log. Idee 1 (1858) 427f.
[10]
Vgl. Ch. H. Weisse: Grundzüge der Met. (1835) 449f.; die unterschiedlichen Lesarten reflektiert etwa: C. L. Michelet: Das System der Philos. 1 (1876) 123f.
[11]
G. W. F. Hegel: Grundlinien der Philos. des Rechts (1821 [1820]). Jub.ausg. 7, 33.
[12]
O. Marquard: Apologie des Zufälligen (1984), in: Apologie des Zufälligen (1986) 117–139, hier: 127.
[13]
Hegel, a.O. [11] 35.
[14]
Enzykl. der philos. Wiss. § 6 (1830). Akad.-A. 20, 44.
[15]
§ 396, Zus., a.O. [2] 10, 104.
[16]
a.O. [14] 45; vgl. Art. ‹Sollen I. 1.›. Hist. Wb. Philos. 9 (1995) 1026–1033.
[17]
Wiss. der Logik II (1816). Akad.-A. 12, 128f.; Enzykl. § 51, a.O. [14] 91f.; Vorles. über die Gesch. der Philos. III [1822ff.]. Jub.ausg. 19, 585f.
[18]
Wiss. der Logik I (1832). Akad.-A. 21, 76; vgl. auch: Enzykl. § 88, a.O. [14] 125f.
[19]
Vgl. Grundlin. § 1, a.O. [11] 38f.
[20]
So ausdrücklich: Enzykl. § 6, a.O. [14] 44f.
[21]
Wiss. der Logik I, a.O. [6] 369–409; Enzykl. §§ 142–149, a.O. [14] 164–169.
[22]
a.O. 369.
[23]
Vgl. K. Fischer: System der Logik und Metaphysik (21865) 380–382; J. E. Erdmann: Grundriss der Logik und Met. § 124 (1841, 41863), hg. G. J. Bolland (Leiden 1901) 82.
[24]
Vgl. etwa: Erdmann, a.O. 81f.; vgl. Rosenkranz, a.O. [9] 426f.
[25]
Hegel: Enzykl. § 142, Zus., a.O. [2] 8, 321f.; vgl. mit Bezug auf die kategoriale Fassung etwa des «Geistes»: Enzykl. § 34 Zus., a.O. 108f.
[26]
Vgl. Wiss. der Logik I, a.O. [6] 380; Enzykl. § 142, a.O. [14] 164; Enzykl. § 383, mit Zus., a.O. [2] 10, 33–35.
[27]
Vgl. dazu: D. Henrich: Hegels Theorie über den Zufall. Hegel im Kontext (31981) 157–186; E. J. Fleischmann: Die W. in Hegels Logik. Z. philos. Forsch. 18 (1964) 3–29; G. Schmidt: Das Spiel der Modalitäten und die Macht der Notwendigkeit, in: I. Fetscher (Hg.): Hegel in der Sicht der neueren Forschung (1973) 188–206.
[28]
Hegel: Wiss. der Logik I, a.O. [6] 161; vgl. 381–392; Enzykl. §§ 143–147, a.O. [14] 164–167; vgl. auch die wechselnden Konzeptionen in den frühen Logikentwürfen von 1808ff. bzw. 1810/11: Jub.ausg., a.O. [2] 3, 179f. 127f.; diese Zuordnung der Modal-zu den Relationskategorien bes. bei Weisse, a.O. [10] 420–468.
[29]
Enzykl. § 145, mit Zus., a.O. [2] 8, 325ff.; § 147, a.O. 330f.
7. Vernunft oder W.: Schelling, Kierkegaard, Feuerbach, Marx, Engels. – Gegen Hegels Identifikation des Wirklichen mit dem Vernünftigen erhebt sich auf breiter Front Kritik [1]. Regelmäßig steht dabei der Prozeß der «abstrakten» (rein logischen) Entwicklung des Begriffs zur «concreten» «Realität» (I. H. Fichte) [2] bzw. das Verhältnis der Logik zur Realphilosophie, insbesondere zur Philosophie der Natur [3], zur Debatte. Ein zentrales Stichwort gibt der Kritik noch der späte Schelling: Jene Philosophie, die im Identitätssystem ihre gültige Formulierung, durch Hegel jedoch eine (einseitige) Gestalt erhalten hat, ist eine «rein negative Philosophie», in der «von dem, was wirklich existirt», nie die Rede sein kann [4]. Weil die «W.» nichts zum «Was», zum «Inhalt des Wirklichen» hinzutut, ist die «W.» streng zu unterscheiden von «dem Wirklichen»: Nur dieses ist der Vernunft zugänglich [5], während eine «positive Erklärung der W.» [6] stets auf «Erfahrung» zurückgreifen muß. Philosophie vollendet sich daher in einem «Empirismus», denn nur dieser hat Zugang nicht nur zur «wirklichen Natur, zum wirklichen Menschen, zum wirklichen Bewußtseyn» [7], sondern vor allem zum «wirklichen Gott» [8].
Aber erst bei S. Kierkegaard wird Schellings Hinwendung zum Wirklichen [9] zu einer Problematisierung der in der Logik entfalteten Vernunft überhaupt verschärft: Denn wie zur W. wesentlich der logisch nicht faßbare «Zufall» gehört, so darf umgekehrt die Logik der W. nicht vorgreifen [10]. Aber es ist nicht so sehr die W. überhaupt, auch nicht die «äußere Welt» [11], sondern eine ganz bestimmte W., welche die nur durch einen «Sprung» (s.d.) überwindbare Grenze von Vernunft, Logik, «interessenloser» «Abstraktion», «reinem Denken» markiert: «Der wirkliche Mensch» in seinem «Interesse» am «Existieren» [12]. Weil damit ‹W.› und ‹Interesse› gleichbedeutend werden [13], das unendliche Interesse am Existieren jedoch eine «Forderung des Ethischen» darstellt, so ist «die einzige W., die es für einen Existierenden gibt, seine eigene ethische» [14]: Nur intellektuell und ästhetisch steht daher die Möglichkeit höher als die W., nichtaber vom ethischen Standpunkt aus [15]. Über ihn geht noch einmal der «Glaube» hinaus: Dieser ist nicht (in erster Linie) an der je eigenen, sondern an der W. eines Anderen interessiert: des «Lehrers», also an «der W. Gottes». Weil aber auch hier «W. im Sinne von Existenz» immer Sache des «Einzelnen» ist, so ist die eigentliche Grenze der Logik die «W. Gottes» «als einzelner Mensch» [16].
Daß diese nach Hegel einsetzende Wende zur W. nicht nur als Zuwendung zum wirklichen Gott (Schelling) oder zur je eigenen Existenz (Kierkegaard) verstanden werden darf, verdankt sie vor allem dem Einfluß L. Feuerbachs. Er proklamiert: «Der Anfang der Philosophie ist das Endliche, das Bestimmte, das Wirkliche» [17]. Das versteht sich einerseits als Rehabilitierung des vorphilosophischen Seinsverständnisses [18], andererseits als Heilung jenes Wirklichkeitsverlustes, an dem krankt, wer (neuplatonisch) an die Stelle einer «wirklichen Welt» ein imaginäres, intelligibles Universum der Gedanken setzt [19]. So kommt es zu einer Reformulierung der Transzendentalienlehre unter realistischen Bedingungen: «Nur, was wirklich, ist wahr» [20]. Feuerbach konkretisiert die Identität von W. und Endlichkeit zu der von W. und Sinnlichkeit [21]. Dabei meint solche W. keineswegs Ansichsein, sondern vitale Bedeutsamkeit [22] für ein wesentlich sinnliches Subjekt. Das hat eine doppelte Konsequenz: Einerseits avanciert «Liebe» zum Kriterium von «Sein», «Wahrheit», «W.» [23], andererseits ist (nicht das Vernünftige, sondern) das sinnlich-leibliche «Menschliche ... das Wahre und Wirkliche» [24]. Hier knüpft K. Marx an, deutet jedoch die Verkehrung von W. und Unwirklichkeit [25] als Resultat einer ökonomischen, durch die Herrschaft des Privateigentums ausgelösten Entwicklung, in welcher die «Lebensäußerung» und «Verwirklichung» des Menschen in seine «Lebensentäußerung» und «Entwirklichung» umgeschlagen ist [26]. Das spricht erstens gegen den Satz von der Vernünftigkeit des Wirklichen [27], der sich dialektisch transformieren läßt «in den andern: Alles was besteht, ist wert, daß es zugrunde geht» [28]. Und das erfordert zweitens in ideologiekritischer Wendung den Ausgang vom «wirklichen», d.h. «wirkenden», «tätigen», «produzierenden» Menschen und seinem materiellen, empirisch konstatierbaren Lebensprozeß [29].
[1]
Darauf weist Hegel noch selbst hin: Enzykl. § 6 (1830), a.O. [14 zu 6.] 44ff.; vgl. H. E. G. Paulus: [Rez. zu:] G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philos. des Rechts (1821), hier zit. nach: M. Riedel (Hg.): Materialien zu Hegels Rechtsphilos. (1975) 1, 53–66, hier: 58ff.; R. Haym: Hegel und seine Zeit (1857, 21927) 367f.
[2]
Vgl. etwa: I. H. Fichte: Grundzüge zum System der Philos. 2: Die Ontologie (1836, ND 1969) 7f. 281–289.
[3]
Vgl. etwa: F. W. J. Schelling: Vorrede zu einer philos. Schrift des Herrn Victor Cousin (1834). SW I/10, 212f.; die (frühe) Diskussion ist aufgearbeitet bei B. Burkhardt: Hegels ‹Wiss. der Logik› im Spannungsfeld der Kritik (1993).
[4]
Zur Gesch. der neuern Philos. (1827). SW I/10, 125.
[5]
Philos. der Offenbarung, 4. Vorles. (1841ff.). SW II/3, 60f.; vgl. auch: 60–73; 7. Vorles., a.O. 115. 119.
[6]
Vorrede, a.O. [3] 216.
[7]
Philos. der Offenb., 7. Vorles., a.O. [5] 133.
[8]
3. Vorles., a.O. 46; 7. Vorles., a.O. 141; 8. Vorles., a.O. 149–162.
[9]
Vgl. S. Kierkegaard: Die Tagebücher, hg. H. Gerdes (1962) 1, 273f. [Papirer III A 179] (22. Nov. 1841).
[10]
Der Begriff Angst (1844). Samlede Værker, hg. A. B. Drachmann [SV] (Kopenhagen 2192036) 4, 282; Abschließende unwissenschaftl. Nachschr. (1846). SV 7, 289.
[11]
Abschl. unwiss. Nachschr., a.O. 279.
[12]
a.O. 257–259.
[13]
270; vgl. auch: Der Begriff Angst, a.O. [10] 190. 293.
[14]
271.
[15]
273–297.
[16]
281.
[17]
L. Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reform der Philos. (1842, 21846). Ges. Werke, hg. W. Schuffenhauer 9 (1970) 249f.
[18]
Grundsätze der Philos. der Zukunft § 26 (1843, 21846), a.O. 305.
[19]
§ 29, a.O. 310.
[20]
§ 31, a.O. 314.
[21]
§ 32, a.O. 316; § 48, a.O. 330.
[22]
Vgl. § 15, a.O. 286.
[23]
§ 35, a.O. 318.
[24]
§ 50, a.O. 333.
[25]
a.O. [17] 250.
[26]
K. Marx: Ökonom.-philos. Manuskr. aus dem Jahre 1844. MEW, Erg.-Bd. 1, 539–541.
[27]
Kritik der Hegelschen Rechtsphilos. (1843). MEW 1, 266.
[28]
F. Engels: L. Feuerbach und der Ausgang der klass. dtsch. Philos. (1888). MEW 21, 266f.
[29]
K. Marx/F. Engels: Die dtsch. Ideologie (1845/46). MEW 3, 26f. u.ö.; vgl. Art. ‹Ideologie II.›. Hist. Wb. Philos. 4 (1976) 164–173.
8. Alles Wirkliche ist notwendig: A. Schopenhauer. – Mit A. Schopenhauers Kritik an der Kantischen Kategorienlehre insgesamt wird auch deren Begriff von W. problematisch. Gleichwohl zeichnen sich die «Kategorien der Modalität» immerhin dadurch aus, daß sie den Urteilsformen tatsächlich entsprechen. Schopenhauer begreift sie indessen nicht als Stammbegriffe des Verstandes. «Die Begriffe des Möglichen, Wirklichen und Nothwendigen» leiten sich vielmehr «aus dem Satze vom Grunde» her [1]. Insofern dieser die «Welt der Vorstellung» und demgemäß auch (als «Gesetz der Kausalität») die «Materie» beherrscht, verdient sie (bzw. der «Inbegriff alles Materiellen») den Titel nicht der «Realität», sondern der «W.». Schließlich ist ihr «Seyn» «durch und durch Kausalität», «Wirken» [2]. Eine «wirkliche, d.i. wirkende Welt» außerhalb der durch totale Relativität ausgezeichneten Vorstellungswelt zu suchen ist also nicht falsch, sondern sinnlos [3]; «W.» und «Traum» sind daher nicht von außen, sondern nur im empirischen Vorgang des «Erwachens» unterscheidbar [4]. Doch zeigt die genauere Ableitung aus dem Satz vom Grunde, daß der «Begriff des Wirklichen» Produkt einer Abstraktion von eben diesen Kausalverhältnissen ist: In ihm wird der Gegenstand nur als «Wirkung» betrachtet, und zwar ohne Rücksicht auf eine «Ursache». «Da aber in der Natur Jedes aus einer Ursache hervorgeht; so ist jedes Wirkliche auch nothwendig» [5], so daß der ganze «Unterschied zwischen nothwendig, wirklich und möglich» letztlich nur abstrakt ist: «in der realen Welt ... fallen alle Drei in Eins zusammen» [6].
[1]
A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorst. I, Anhang: Die Kritik der Kantischen Philos. (1819, 31859). Sämtl. Werke, hg. A. Hübscher (1937–41, 31972) 2, 549.
[2]
I, § 4, a.O. 9f.
[3]
§ 5, a.O. 17.
[4]
a.O. 19–22; vgl. auch: Parerga und Paralip. 1, Versuch über das Geistersehn (1850), a.O. 5, 244ff.
[5]
a.O. [1] 549–551; vgl. 555.
[6]
a.O. 554.
9. Auszug aus der W.: 2. Hälfte des 19. Jh. – Seit der 2. Hälfte des 19. Jh. wird der Begriff ‹W.› mit der allgemeinen Abkehr vom Idealismus verschiedentlich zum Schlagwort für positivistische und materialistische Strömungen. Bezeichnenderweise hat die Reaktion gegen eine solche «W.-Philosophie» (E. Dühring) [1] gerade das eingeleitet, was bis heute als «Auszug aus der W.» [2] diagnostiziert wird. Auslöser ist die mit der «Rückkehr zu Kant» eingeleitete Wende zur Erkenntnistheorie, und zwar zunächst unter sinnesphysiologischen Bedingungen: «Welt der Empfindung» und «Welt der W.» treten auseinander, diese ist nur noch aus jener erschließbar (H. Helmholtz) [3], wird nicht durch den Menschen abgebildet, sondern mit Hilfe von «Fiktionen» verfälscht (H. Vaihinger) [4], ist bestenfalls «Inbegriff der notwendigen, durch Sinneszwang gegebenen Erscheinungen», also «Produkt der Organisation der Gattung» (F. A. Lange) [5]. F. Nietzsche feiert diesen Verlust einer an-sich-seienden W. als Ausdruck der spontan-schöpferischen Leistung des Menschen [6]: Zwischen W.en kann «gewählt» werden [7]! Das hat zwei Konsequenzen: Ist die grob materialistische Identifikation des «Realen» mit dem «Wirklichen» als bloßem «Stoff» [8] hinfällig geworden, dann wird auch (erstens) der Realismus einer ‘eigentlichen W.ʼ [9] problematisch: «Es giebt für uns keine ‘W.ʼ», insofern in aller (vermeintlichen) ‘W.ʼ immer schon verborgene «Schätzungen der Dinge» wirksam sind [10]. Das eröffnet (zweitens) die Möglichkeit zur «Kritik der ‘W.ʼ» [11], die vor allem einen Betrug durchschaut: die «'wirkliche W.'» [12].
[1]
E. Dühring: W.-Philos. (1895); vgl. J. Duboc: Jenseits vom Wirklichen (1896).
[2]
Vgl. D. Vaihinger: Auszug aus der W. (2000).
[3]
H. Helmholtz: Über das Sehen des Menschen (1855). Vortr. und Reden 1 (51903) 85–117, hier: 115f.
[4]
H. Vaihinger: Die Philos. des Als Ob [1876–78] (1911, 9–101927, ND 1986) pass.
[5]
F. A. Lange: Gesch. des Materialismus (21873/75), hg. A. Schmidt (1974) 981f.
[6]
Vgl. F. Nietzsche: Nachgel. Fragm., Sommer 1875 9[1]. Krit. Ges.ausg., hg. G. Colli/M. Montinari (1967ff.) 4/1, 212; Frühjahr 1884 25[318], a.O. 7/2, 90; vgl. auch: Sept. 1870–Jan. 1871 5[78], a.O. 3/3, 114.
[7]
Vgl. Menschliches, Allzumenschl. II, 114. 135 (1878, 21886), a.O. 4/3, 62. 71.
[8]
Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872), a.O. 3/2, 209.
[9]
Nachgel. Fragm., Juni-Juli 1885 38[10], a.O. 7/3, 337.
[10]
Die fröhl. Wiss. II, 57 (1882), a.O. 5/2, 97f.
[11]
Nachgel. Fragm., Herbst 1887 10[19], a.O. 8/2, 131.
[12]
Menschl., Allzumenschl. II, 32, a.O. [7] 30; vgl. auch die Kritik an den Fiktionen von Religion und Moral: Der Antichrist 15. 39 (1888), a.O. 6/3, 179f. 210.
10. Unwirklichkeit: Bolzano, Lotze, Frege. – Die Integration der W. in die (moderne) Logik verdankt sich B. Bolzanos «Behauptung, daß es Wahrheiten an sich gibt». Dieses ‘gebenʼ meint jedoch keineswegs, daß solchen Wahrheiten «Sein oder Dasein (die Existenz)» [1] zukommt. Weil Bolzano ‹Sein›, ‹Dasein› und ‹W.› synonym gebraucht [2], haben Wahrheiten an sich «kein wirkliches Dasein» im Sinne raum-zeitlicher Bestimmtheit, wohl aber als «erkannte» oder «gedachte» [3]. Dieses Problem – Unwirklichkeit des Logischen an sich, seine W. in bezug auf das subjektive Gegebensein – kehrt in G. Freges Konzept eines «dritten Reichs» des «Gedankens» wieder: Der Gedanke als eine zeitlos-unveränderliche Größe ist unwirklich, insofern ihm das fehlt, was naturhafte W. auszeichnet: «die Wechselwirkung». Dennoch sind Gedanken nicht gänzlich «unwirklich, aber ihre W. ist ganz anderer Art, als die der Dinge. Und ihr Wirken wird ausgelöst durch ein Tun der Denkenden, ohne das sie wirkungslos wären ... Und doch schafft der Denkende sie nicht, sondern muß sie nehmen, wie sie sind. Sie können wahr sein, ohne von einem Denkenden gefaßt zu werden, und sind auch dann nicht ganz unwirklich, wenigstens wenn sie gefaßt und dadurch in Wirksamkeit gesetzt werden können» [4]. Aber nicht Frege, sondern R. H. Lotze führt für diese eigentümliche «Quasi-W.» oder «Pseudo-Existenz» idealer Gegenstände (A. Meinong) [5] jene Begrifflichkeit ein, die dann vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Psychologismus [6] zum Zuge kommt: die «Geltung». Dennoch ist bei Lotze das, was gilt, zwar nicht seiend, deswegen aber doch nicht unwirklich. Denn unter ‹W.› will Lotze ausdrücklich in Übereinstimmung mit dem «Sprachgebrauch» ganz allgemein nur eine «Bejahung» oder «Position» verstehen, so daß «existierende» Dinge, «bestehende» Ereignisse und Verhältnisse, aber auch ein als wahr «geltender» Satz durchaus «wirklich» sind [7].
[1]
B. Bolzano: Wiss.lehre § 30 (1837). Ges.ausg., hg. J. Berg u.a. (1969ff.) I/11, 1, 168.
[2]
§ 142, a.O. I/12, 1, 124f.
[3]
Vgl. §§ 25f., a.O. [1] 137–141.
[4]
Vgl. bes. G. Frege: Der Gedanke (1918/19). Kl. Schr., hg. I. Angelelli (1967) 360–362; vgl. Art. ‹Reich, Drittes 2.›. Hist. Wb. Philos. 8 (1992) 499–502.
[5]
A. Meinong: Über Annahmen (1902). Ges.ausg. 4, 224. 226. 263f. 266.
[6]
Vgl. etwa: Th. Lipps: Grundtatsachen des Seelenlebens (1883) bes. 394ff.
[7]
R. H. Lotze: Logik 3, § 316 (1874, 21880), hg. G. Misch (1912) 511f.; mit ausdrücklicher Berufung auf diese Stelle vgl.: Metaphysik (1879, 21884) 3.
11. W. und Objektivität: Neukantianismus. – Hieran hat vor allem der Südwestdeutsche Neukantianismus angeknüpft, um so Wahrheit nicht mehr im Rahmen einer Abbildtheorie (s.d.) der Erkenntnis, also aus der «Beziehung der Vorstellung zu einer absoluten W.» heraus zu verstehen (W. Windelband) [1], sondern als «Norm des Geistes». Philosophie ist daher vor allem eines: Wissenschaft vom Wert (s.d.). Dieser läßt über Bolzano und Lotze hinaus das «‘Reichʼ des Nichtwirklichen» nun auch positiv bestimmbar werden (H. Rickert) [2]. – Eben damit zeigt sich «W.» in zweierlei Hinsicht als Problem: a) in ihrem Verhältnis zum Wert, b) aber auch wissenschaftstheoretisch und hier besonders in bezug zur «W.-Wissenschaft schlechthin»: zur Geschichtswissenschaft (G. Simmel) [3].
a) Vor allem Phänomenologie (Husserl) und Gegenstandstheorie (Meinong) zwingen H. Rickert, den Wert (gegen Husserl wie Meinong) vom Idealen abzugrenzen [4]: Dieses ist im Unterschied zum Wert durchaus «wirklich», nämlich: «immanent». Rickert vertritt also keine «Zweiwirklichkeiten-» [5], sondern eine «Einwirklichkeitentheorie» («‘Monismusʼ des Realen») [6], die den «W.-Begriff des Positivismus» aufnimmt, zugleich jedoch erkenntnistheoretisch ergänzt um die Subjektbezogenheit aller W. [7]: Noch vor aller Differenzierung in psychisches oder physisches Sein ist Wirkliches zunächst einmal erlebt, unmittelbar gegeben, «immanentes Objekt» eines Subjekts: «Bewußtseinsinhalt» [8]. Daß dieser jedoch «die Form der W.» erhält, ist eine Leistung nicht des Vorstellens, sondern der Erkenntnis, des Wissens, also des Urteils [9]: «wirklich» heißt mit Recht allein das, «was von Urteilen als wirklich bejaht werden soll». Daher ist streng zu unterscheiden «zwischen der Form ‘W.ʼ und dem ‘Wirklichenʼ als dem Inhalt in dieser Form» [10]. Nicht jener Inhalt, wohl aber diese Form ist daher «transzendent», «Gegenstand der Erkenntnis»: «Wir erkennen daher Wirkliches gerade dadurch, daß wir Unwirkliches anerkennen» [11]. So tritt die Philosophie überhaupt als «Wertwissenschaft» den «W.-Wissenschaften» gegenüber [12], grenzt jedoch gerade deswegen auch an das, was bei Windelband das «Heilige» war: an die «transzendente W.» [13], das «Ueberwirkliche», das als Antwort auf das Problem der «Wertverwirklichung» [14] konzipiert wird. Die Deutung, die B. Bauch dem Problem solcher Wertverwirklichung gibt, macht deutlich, daß «Wahrheit, Wert und W.» Momente einer Entwicklung sind, in der die W. nur als «Übergang» (Rickert), als «‘Weg und Durchgangʼ von ihrem λόγος-Grunde, den transzendentalen Bedingungen, zu ihrem λόγος-Ziele, den Werten», in den Blick kommt [15].
b) Rickert ist es auch, der das Wertproblem für die Methodenlehre der Einzelwissenschaften fruchtbar macht. Weil «Begriff und W.» zu trennen sind, jener daher weder «Abbild» noch «Beschreibung» von der W. sein kann, ist das Problem der W. aus dieser Sicht das ihrer Irrationalität, und zwar aufgrundihrer totalen Kontinuität wie Heterogenität gleichermaßen: «Alles fließt», aber «alles ist» auch «anders», W. daher «stetige Andersartigkeit», ein «heterogenes Kontinuum». «Macht über das Wirkliche» bekommen Wissenschaft und Begriff daher nur durch Prozeduren seiner Umformung und Vereinfachung, die an seiner «Unübersehbarkeit» und «Unerschöpflichkeit» indessen nichts zu ändern vermögen [16]. Gerade deswegen sind die historischen Wissenschaften auf den Begriff des Wertes (bzw. der Kultur) angewiesen: Nur in Beziehung auf ihn wird aus einem sinnlosen «Gewimmel» immer neuer «Andersartigkeiten», das alle W. als solche auszeichnet, eine qualitative, weil sinntragende, historische Individualität, die in Begriffen darstellbar, wissenschaftlich also beherrschbar ist [17].
Gegenüber den badischen Vertretern des Neukantianismus zeichnet sich die Marburger Schule anfangs durch eine stärkere Konzentration auf die Forschungssituation der modernen Physik aus. Vor diesem Hintergrundkonzipiert P. Natorp die «Modalitätsstufen» ‹Möglichkeit›, ‹W.› und ‹Notwendigkeit› streng in bezug auf die wissenschaftliche Arbeit als: «Hypothese», experimentell festgestellte «Tatsache» sowie «Gesetz» [18]. Allerdings muß für eine solche zum «kritischen Idealismus» fortgebildete Transzendentalphilosophie der Versuch Kants, «W. auf den Zusammenhang mit der Empfindung» zu gründen [19], als Infragestellung des logischen Programms überhaupt erscheinen [20]. Gegen Kant rehabilitiert H. Cohen daher den «ontologischen Beweis», um «das Denken da flott zu machen, wo sonst nur bei der Empfindung Rettung schien». «Denken» («Begriff») erzeugt, ist «Ursprung», kennt daher nichts «Gegebenes», ihm läßt sich daher auch nichts (auch «Existenz» nicht) «hinzufügen», «beilegen»: Es gibt kein «Loch im Denken», «aus dem der Maulwurf der Empfindung hervorlugt» [21]. Muß im System der reinen Erkenntnis wohl «Empfindung» aufgegeben werden, so doch nicht deren «Anspruch» [22]. Was «Empfindung» nur «stammelt», das wird im «Urteil der W.» allererst zu sachgerechter «Aussprache» gebracht: als (kritische) «Kategorie» des «Einzelnen» [23]. Ist das «Einzelne» das eigentliche «Problem der W.», so wird dieses doch erst gelöst durch die «Größe»: Sie «ist die Kategorie, welche sich deckt mit der Kategorie des Einzelnen, mit der Kategorie der W.» [24]. Weil «Größe» das «Äquivalent» ist zur W., deren «Kriterium», gelingt es Cohen, die im Begriff der W. ausgesprochene allgemeine Problematik gegenüber der viel zu begrenzten Empfindung zurückzugewinnen, und zwar nicht nur für den Bereich der Natur bzw. der mathematischen Naturwissenschaften, sondern auch für die Geisteswissenschaften sowie die Ästhetik [25].
Daß unter der für den Neukantianismus kennzeichnenden erkenntniskritischen Perspektive (einzel-)wissenschaftlicher Objektivität W. jeden Charakter eines der methodologischen Besinnung vorausgehenden «Datums» verliert (R. Hönigswald) [26], stößt vielfach auf Protest. Wo er nicht sogar in reine «Mystik» umschlägt [27] oder zur «W.-Lehre» als «induktiver Metaphysik» fortschreitet (H. Driesch) [28], formiert sich solche Kritik (von Dilthey her) zum Gegensatz von «Wissenschaft und W.», die dem Menschen im unmittelbaren Willenserlebnis mit ‘unumstößlicherʼ Gewißheit begegnet (M. Frischeisen-Köhler) [29]. So muß der Neukantianismus sein Verhältnis zu Hegel klären [30]: Handelt es sich noch um kritischen oder bereits um absoluten Idealismus? Es ist – neben J. Cohn[31] – vor allem E. Cassirer, der klarstellt: «Vernunft» ist «‘alles Wirklicheʼ» nicht im Sinne «einer Gegebenheit», sondern «einer unendlichen Aufgabe», also ein «reines Sollen» [32], asymptotisches Ziel [33], in dem W. gerade nicht «ganz zurücktritt» (H. Maier) [34], sondern sich in ihrer Unerschöpflichkeit je neu bekundet [35]. Die Reflexion auf die unterschiedlichen Objektivierungsleistungen verleiht dabei der von Kant herausgearbeiteten Fähigkeit des intellectus ectypus, zwischen W. und Möglichkeit zu unterscheiden, eine neue, umfassende Bedeutung: Menschliche Erkenntnis ist wesentlich symbolische Erkenntnis [36]; wo sie pathologisch gestört ist, wird nicht nur der «Unterschied zwischen W. und Möglichkeit unscharf», sondern beschränkt sich menschliche Existenz auf die «konkrete Sphäre, in der wirkliche Dinge stattfinden» [37]. Die Einsicht in die zahlreichen «Symbol-» und «Bildwelten», in denen der Mensch lebt, kehrt nun allerdings den Manifestationsbegriff von W. um: Wissenschaft und Kunst, Mythos und Religion sind demnach «nicht verschiedene Weisen, in denen sich ein an sich Wirkliches dem Geiste offenbart, sondern sie sind die Wege, die der Geist in seiner Objektivierung, d.h. in seiner Selbstoffenbarung verfolgt» [38].
[1]
W. Windelband: Immanuel Kant (1881), in: Präludien (1884, 91924) 1, 112–146, 132.
[2]
H. Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis (1891, 61928) 300f.
[3]
G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilos. (1892). Ges.ausg., hg. O. Rammstedt (1989ff.) 2, 348f.
[4]
Vgl. Rickert, a.O. [2] 270f.
[5]
104f.
[6]
a.O. VIIIf. [Vorwort zu 31915]; vgl. a.O. 425.
[7]
122f.
[8]
107.
[9]
148; vgl. 147–151.
[10]
204; mit Bezug auf Kants Beispiel der hundert Taler: 140.
[11]
218.
[12]
439.
[13]
W. Windelband: Das Heilige (1902), a.O. [1] 2, 295–332, 305.
[14]
Rickert, a.O. [2] 450f.
[15]
B. Bauch: Wahrheit, Wert und W. (1923) 465.
[16]
H. Rickert: Kulturwiss. und Naturwiss. (1898, 6/71926) 28–38: Kap. 5: «Begriff und W.».
[17]
a.O. 78–101; sozialwissenschaftl. weitergeführt durch M. Weber: Die ‘Objektivitätʼ sozialwissenschaftl. und sozialpolit. Erkenntnis (1904). Ges. Aufs. zur Wiss.lehre (71988) 146–214, bes. 170f. 174. 190f.
[18]
P. Natorp: Philosophie (1911, 31921) 56–58.
[19]
H. Cohen: Logik der reinen Erkenntnis (1902, 21914). Werke, hg. H. Holzhey 6 (1977) 462.
[20]
a.O. 477.
[21]
81. 475.
[22]
Vgl. bes. 472f.; auch: 463f. 469 u.ö.; das hebt zu Recht W. Marx hervor in: Transz. Logik als Wiss.theorie (1977) 66ff.
[23]
Cohen, a.O. [19] 469–473.
[24]
a.O. 478f.; vgl. 484.
[25]
494f.; vgl. 495–501.
[26]
Vgl. R. Hönigswald: Zur Wiss.theorie und -systematik. Kantstudien 17 (1912) 28–84, bes. 74f. 81f.
[27]
W. Windelband: Von der Mystik unserer Zeit (1910), a.O. [1] 1, 290–299, bes. 295f.
[28]
H. Driesch: Wirklichkeitslehre (1917, 31930) bes. 32–51.
[29]
M. Frischeisen-Köhler: Wissenschaft und W. (1912); vgl. auch: Das Realitätsproblem (1912).
[30]
Vgl. E. von Aster: Neukantianismus und Hegelianismus. Eine philos.geschichtl. Parallele. Festschr. Th. Lipps (1911) 1–25.
[31]
J. Cohn: W. als Aufgabe (1940), hg. J. von Kempski (1955).
[32]
E. Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philos. und Wiss. der neueren Zeit 1–4 (1906–50/57), 3 (21923, ND 1994) 367; vgl. 362–377; ähnlich: Natorp, a.O. [18] 58–60.
[33]
Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik. Jb. Philos. 1 (1913) 1–59, 31f.; ND, in: Erkenntnis, Begriff, Kultur, hg. R. A. Bast (1993) 3–76, 42.
[34]
So die Kritik bei: H. Maier: Philos. der W. (1926/34) 1, 56; vgl. bes. 1–91.
[35]
E. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910, ND 1980) 427; vgl. Philos. der symbol. Formen 1–3 (1923–29, 21953/54, ND 1988) 3, 557f.
[36]
An essay on man (1944); dtsch.: Versuch über den Menschen (1990), hg. R. Kaiser (1996) 92f.
[37]
a.O. 93–95; im Anschluß an: K. Goldstein: Human nature in the light of psychopathology (Cambridge 1940) 49ff.
[38]
Cassirer: Philos. der symb. Formen, a.O. [35] 1, 9; vgl. 48.
12. Vernunft und W.: Husserl. – Die phänomenologische Forderung nach anschaulicher Gegebenheit der «Sachen selbst» [1] erschien insbesondere gegenüber dem Neukantianismus vielfach als «Wende», ja «Durchbruch zum realen Objekt». Tatsächlich wird mit E. Husserls Ausweitung des Anschauungsbegriffs zugleich auch das, was sich originär geben läßt und in diesem Sinne wirklich ist, über den Bereich der Natur, der «realen W.» hinaus entschränkt. Diese für den vermeintlichen «platonisierenden Realismus» der ‹Logischen Untersuchungen› zentrale Differenzierung [2] tritt jedoch hinter einen anderen, für die transzendental fortgebildete Phänomenologie entscheidenden Aspekt der (Geltungs-)Vorgegebenheit zurück: «Die ‘W.ʼ» (als objektiv «räumlich-zeitliche W.» des vorphilosophischen Lebens), «das sagt schon das Wort, finde ich ... als daseiende vor und nehme sie, wie sie sich mir gibt, auch als daseiende hin». Insofern dies nicht ohne weiteres für «einzelne Gegebenheiten», wohl aber für deren Gesamthorizont gilt, können W. und («immer daseiende») Welt bis zur Identität verschmelzen [3]. Solche Vorgegebenheit im Hinblick sowohl auf den einzelnen Gegenstand als auch auf die Welt zu problematisieren, ist die Leistung der (phänomenologischen) Reduktion (s.d.). Indem sie die Frage nach W. oder Unwirklichkeit «einklammert», ermöglicht sie nicht nur die umfassende Analyse der noetisch-noematischen Konstitution von (vor allem: Ding-)Gegenständlichkeiten, sondern auch die Klärung des Sinnes von ‹W.› (bzw. ‹Unwirklichkeit›). Insofern «'wirklich-sein' und ‘vernünftig ausweisbar seinʼ in Korrelation» zueinander stehen [4], geschieht die Untersuchung der verschiedenen Seinsbzw. W.-Modalitäten [5] unter dem übergreifenden Titel «Vernunft und W.» [6]. Angesichts einer Vielzahl von Gegenstandsregionen erfordert diese Fragestellung daher eine ebensolche Mannigfaltigkeit dessen, was Husserl «Phänomenologie der Vernunft» nennt [7]. Hier zeigt sich vor allem eines: W. ist im Fall (mundanen) «transzendenten Seins» nicht einfach mit anschaulicher Gegebenheit identisch, sondern an prinzipiell unabschließbare Synthesen ausweisender Erfahrung gebunden, also im Unterschied zu (transzendentalem) «immanentem Sein» eine «Idee», nicht «absolute», sondern je nur «präsumptive W.» [8].
Während Husserls Untersuchungen zum Gegensatz von W. und Phantasie («W.-als-ob») [9] bzw. Positionalität und Quasi-Positionalität eine ganze Reihe von Studien zur Intentionalität der Vergegenwärtigung (s.d.) vorbereitet hat [10], stößt seine «Wendung ins Subjektive» (M. Geiger) [11] von seiten der Münchener bzw. Göttinger Phänomenologie auf breite Ablehnung. Diese steht ganz im Zeichen einer «wirklichen W.» (H. Conrad-Martius) [12], d.h. der auf sich selbst stehenden und in sich selbst gründenden «Welt» [13].
[1]
Vgl. Art. ‹Sache II.›. Hist. Wb. Philos. 8 (1992) 1096–1100, 1098f.
[2]
E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phän. und phänomenolog. Philos. 1, §§ 19. 22 (1913) 36. 40. Husserliana [Hua.] 3/1 (Den Haag 1976) 42. 47; vgl. auch: Die Idee der Phänomenologie (1907). Hua. 2 (1958) 75: «reale» bzw. «ideale W.».
[3]
Ideen 1, § 30, a.O. 52f./60f.; Die Krisis der europ. Wiss. §§ 38–40 (1935/36). Hua. 6 (1954) 148–154.
[4]
Ideen 1, § 115, a.O. 282/314.
[5]
Vgl. § 145, a.O. 302f./336f.; Krisis § 40, a.O. [3] 152.
[6]
Ideen 1, §§ 128–153, a.O. 265–323/295–359.
[7]
§ 152, a.O. 318f./354f.
[8]
§ 46, a.O. 86/98; vgl. auch: Cartes. Medit. 3 (1931). Hua. 1 (21963) 91–99; dazu: K. Americks: Husserl's realism. Philos. Review 86 (1977) 498–519.
[9]
Vgl. §§ 109–114, a.O. 222–235/247–262; Cartes. Medit. 3, § 25, a.O. 93f.
[10]
Vgl. etwa: E. Fink: Vergegenwärtigung und Bild. Beitr. zur Phänomenol. der Unwirklichkeit (1930), in: Studien zur Phänomenol. (Den Haag 1966) 1–78.
[11]
Vgl. E. Ströker/P. Janssen: Phänomenolog. Philos. (1989) 118–140.
[12]
H. Conrad-Martius: Die transz. und die ontolog. Phänomenologie (1958/59), in: Schr. zur Philos. 3 (1965) 393–402, bes. 397.
[13]
Vgl. auch: E. Stein: Husserls Phänomenologie und die Philos. des Hl. Thomas v. Aquino (1929), in: H. Noack (Hg.): Husserl (1973) 61–86, bes. 73; R. Ingarden: Über den transz. Idealismus bei E. Husserl, in: L. van Breda/J. Taminiaux (Hg.): Husserl et la pensée moderne (Den Haag 1959) 190–204; Der Streit um die Existenz der Welt (1964/65).
13. Ontologie der W. – Gegenüber der Phänomenologie hebt G. Jacoby in seiner ‹Allgemeinen Ontologie der W.› den Primat der wirklichen W. vor dem Subjekt hervor [1]: Wirkliches besteht «kraft seines Seins von uns unabhängig, subjektfrei objektiv an sich» [2]. Einen ähnlich umfassenden Begründungsanspruch [3] vertritt auch die Fundamentalontologie M. Heideggers. Dabei wird schon die frühe Einsicht, daß die psychologistische Urteilslehre «die logische ‘W.ʼ» in ihrer ontologischen Eigenart überhaupt nicht kennt [4], zum Anlaß für die Frage, wie sich der «Gesamtbereich des ‘Seinsʼ in seine verschiedenen Wirklichkeitsweisen gliedern» läßt [5]. Die Aufgabe einer entsprechenden «kategorialen Charakteristik der Wirklichkeitsbereiche und die noch vorgängige erste Auseinanderhaltung derselben» [6] bereitet dabei die fundamentalontologische Scheidung von «Kategorien» (des Vorhandenen) und «Existenzialien» (des Daseins) vor: Nur jenen, nicht diesen ist W. «im traditionellen Sinne» [7], ja schon energeia [8] zuzurechnen. Entsprechendes trifft auch für Lotzes Begriff der «Geltung» zu: Denn als «W. (Sein) wahrer Sätze» ist auch sie der bloßen «Vorhandenheit» zuzurechnen [9]. Damit wird die Beziehung von Möglichkeit und W. doppelt bestimmbar: Nur als «modale Kategorie der Vorhandenheit» ist Möglichkeit «ontologisch niedriger als W. und Notwendigkeit», während sich existenzial dieses Verhältnis gerade umkehrt: Dasein ist «Seinkönnen», also «primär Möglichsein». Wohl von dieser «Möglichkeit als Existenzial» [10] gilt daher der Satz: «Höher als die W. steht die Möglichkeit» [11]. Diese Abwertung der W. setzt sich in der Spätphilosophie fort, wird jedoch nicht mehr im Horizont des geschichtlichen Daseins, sondern – mit Blick auf den Wandel der energeia erst zu actualitas, dann zu W. im Sinne wissenschaftlicher Meßbarkeit (M. Planck) – aus der Perspektive der Seinsgeschichte untermauert [12].
Eine großangelegte Modalanalyse (s.d.) der W. findet sich jedoch erst bei N. Hartmann. Im System der Ontologie ist dabei von vornherein einer Verwechslung von ‹Dasein› (im Unterschied zu ‹Sosein›), ‹Realität› (im Unterschied zu ‹Idealität›) und ‹W.› (im Gegensatz zu ‹Möglichkeit› und ‹Notwendigkeit›) durch die Unterscheidung von Seinsweisen, Seinsmomenten und den Seinsmodi vorgebeugt. Die Bedeutungsschwankungen des Begriffs ‹W.› [13] werden dabei zum Indiz für die sie kennzeichnende Unfaßbarkeit bzw. Irrationalität: Nicht als Mitte zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit, sondern in ausgesprochener «Gegensatzstellung» zu beiden [14] zeichnet sich W. in allen vier von Hartmann unterschiedenen Sphären des (irrealen, d.h. logischen, idealen und gnoseologischen [15] und des realen [16]) Seins durch «Relationslosigkeit und Abgelöstheit» aus: «wirklich» ist, was «rein in sich selbst», «rein ‘durch Nichtsʼ» ist, «‘Sein schlechthinʼ, das nicht weiter reduzierbar ist». Deswegen ist ‹W.› (bedingt auch die ‹Unwirklichkeit›) der einzige streng «‘reineʼ Seinsmodus», während es sich bei den übrigen Modalkategorien um «basierte», «relationale Modi» handelt, die von sich selbst her, ihrem eigenen «Sinn» nach an Wirkliches zurückgebunden sind («modales Grundgesetz»). Dementsprechend gilt etwa: «Wenn A notwendig ist, so ist es ‘auf Grund von etwasʼ notwendig ... Wenn A möglich ist, so ist es ‘vermöge gewisser Bedingungenʼ möglich» [17].
[1]
Vgl. G. Jacoby: Allg. Ontol. der W. (1925/55) 1, 12–17; 2, 956–963.
[2]
a.O. 2, 954; vgl. Art. ‹Ontologie 3. c.›. Hist. Wb. Philos. 6 (1984) 1196.
[3]
Vgl. bes. 2, 696–899.
[4]
M. Heidegger: Die Lehre vom Urteil im Psychologismus (1914). Ges.ausg. [GA] (1975ff.) I/1, 161.
[5]
a.O. 186.
[6]
Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus (1916), a.O. 211.
[7]
Vgl. etwa: Die Grundprobleme der Phänomenol. [1927]. GA II/24, 153.
[8]
Die Grundbegriffe der ant. Philos. [1926]. GA II/22, 180.
[9]
Logik [1925/26]. GA II/21, 77; vgl. 62–88; vgl. auch: Sein und Zeit §§ 21. 33 (1927, 171993) 99. 155f.
[10]
Sein und Zeit § 31, a.O. 143.
[11]
§ 7, a.O. 38.
[12]
Vgl. Die Met. als Geschichte des Seins [1941], in: Nietzsche II (1961) 399–457; Wiss. und Besinnung [1953], in: Vorträge und Aufsätze (1954) 45–70, bes. 45–51. 56–58.
[13]
Vgl. N. Hartmann: Möglichkeit und W. (1938, 31966) 49–51; vgl. zum Ganzen auch: a.O. [7 zu 1.].
[14]
Eine vergleichbare Sonderstellung der W. auch bei: P. Natorp: Philos. Systematik (1922/23), hg. H. Knittermeyer (1958) 83–128, bes. 111–113; auch: 133f.
[15]
Hartmann, a.O. [13] 259–394.
[16]
a.O. 95–258.
[17]
60–74.
14. W. und Widerstand: Scheler, Jaspers. – Daß W. in ihrer ‘Seinsautonomieʼ und ‘Härteʼ dem Menschen vor allem im leiblich-vitalen Erleben, Drang, Trieb als Widerstand (s.d.) begegnet, ist eine Einsicht, deren Wurzeln noch hinter W. Dilthey[1] auf die Frühphilosophie Schellings zurückreichen: «Quelle alles Wirklichen für uns» ist demnach «das ursprünglich Praktische in uns» [2]. In ausführlicher Auseinandersetzung mit Dilthey [3] hat M. Scheler diesen Gedanken anthropologisch fruchtbar gemacht: Ist W., das «‘Wirklichseinʼ des Wirklichen ... uns nur in einem mit Angst verbundenen allgemeinen Widerstande bzw. einem Erlebnis des Widerstandes gegeben» [4], so zeichnet es den Menschen als «Geist» aus, eben diesen «W.-Eindruck» bzw. «W.-Charakter» von Dingen und Welt zurückweisen, «Wirklichsein» («Dasein») und «Wesen» also voneinander trennen zu können. Diese u.a. von M. Buber kritisierte These [5] bietet nicht nur die Möglichkeit, den Sinn der phänomenologischen Reduktion neu zu erläutern [6], sondern läßt sich auch für die Psychopathologie fruchtbar machen (und umgekehrt [7]): Weil «wirklich» das ist, «was wir leibhaft wahrnehmen», «was uns Widerstand leistet», an dem unser praktisches «Bedeuten» scheitert, lassen sich von hier aus Entfremdungserlebnisse, Sinnestäuschungen, aber auch die unterschiedlichen Formen etwa des Wahns (s.d.) verständlich machen [8]. Insbesondere im Rahmen der hier anknüpfenden leibphänomenologischen Anthropologie [9] bestätigt sich, was ebenfalls schon von Dilthey erkannt worden ist [10]: Daß «die menschliche W.» «die ursprüngliche Form der Realität» darstellt, «der gegenüber das tote Sein nur etwas Abgeleitetes ist» [11].
[1]
Vgl. W. Dilthey: Beitr. zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (1890). Ges. Schr. 5 (21957) 131; vgl. Art. ‹Realität der Außenwelt›. Hist. Wb. Philos. 8 (1992) 206–211.
[2]
F. W. J. Schelling: Abh. zur Erläut. des Idealismus der Wiss.lehre (1796/97). SW I/1, 398.
[3]
M. Scheler: Erkenntnis und Arbeit (1926). Ges. Werke (1954ff.) 8, 362–378.
[4]
Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), a.O. 9, 16f.
[5]
M. Buber: Das Problem des Menschen (1948, 51982) 144–146.
[6]
Scheler, a.O. [4] 42–44; dazu: W. Henckmann: Max Schelers These: W. ist Widerstandserlebnis, in: R. Hüntelmann (Hg.): W. und Sinnerfahrung (1998) 140–174.
[7]
O. Becker: Husserl und Descartes. Arch. Rechts-Soz.philos. 39 (1936/37) 616–621, hier: 618f.; R. Ingarden: Einf. in die Phänomenol. E. Husserls (1967). Ges. Werke 4, hg. G. Haeflige (1992) 259.
[8]
K. Jaspers: Allg. Psychopathol. (1913, 91973) 79; vgl. 78ff.
[9]
Vgl. Th. Fuchs: Leib – Raum – Person (2000) bes. 111ff.
[10]
Dilthey, a.O. [1] 110ff. 125.
[11]
O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen (1941, 31956) 114; vgl. 112–131.
15. Wirklichkeitsverlust und Wirklichkeitsgewinn. Tendenzen nach dem Zweiten Weltkrieg. – Im Zuge einer um sich greifenden «Pathologisierung des Politischen» [1] kann der «Wirklichkeitsverlust» spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs jedoch auch zur zeitdiagnostischen Kategorie avancieren [2]. Hintergrundfür diese Diskussion sind vor allem die sich ausbreitende «Medienwirklichkeit» sowie die Herausbildung eines eigenständigen Typs der virtuellen Realität [3]. Jenseits der Frage, ob es sich dabei um ein «Verschwinden» (leibhaft erfahrener) W. [4] oder bloß um deren ‘Verschwindelnʼ [5] handelt, ermöglicht diese Entwicklung den pluralen Gebrauch von ‹W.› [6]: Fortan sind es «W.en, in denen wir leben» [7], «sub-universes» [8], «multiple realities» [9], eine Vielfalt von geschlossenen «Sinnbereichen», denen der Mensch jeweils einen «Wirklichkeitsakzent» verleihen kann [10]. Mit diesem ‘Verlust der Einen W.ʼ, also einer W. in der «absoluten Bedeutung» des Wortes, zeigt sich W. als «gesellschaftliche Konstruktion», als W. in «Anführungsstrichen». Das ist (auch) philosophiekritisch gemeint und öffnet so das thematische Feld vor allem der Soziologie [11]. Denn diese kann unbefangener als Philosophie zur Kenntnis nehmen, was die moderne Kunst schon zu Beginn des 20. Jh. verkündet hat: das «ontologische Mißtrauensvotum» gegenüber der «vorfindbaren W.» [12]. Das verbindet sich [13] mit dem Gedankengut des «radikalen Konstruktivismus» [14] und der (Neuro-) Biologie [15]. Ob erfunden, konstruiert oder gar «phantomisiert» [16]: W. ist klärungsbedürftig geworden [17], vor allem aber labil, kostbar und bedarf angesichts einer weitgehend durchfiktionalisierten Welt gerade nicht mehr der Überwindung im Schein (s.d.), sondern muß überhaupt erst (wieder) erfahrbar werden [18]. Ein möglicher Ort: die Kunst, die gerade nicht mehr durch Fiktion, sondern «Antifiktion» bestimmt ist [19]; eine mögliche Weise, wie sich das «Wirklichwerden des Wirklichen» ereignet: Liebe [20].
Tobias Trappe
[1]
Vgl. Art. ‹Pathologie IV. 1.›. Hist. Wb. Philos. 7 (1989) 187–189.
[2]
Vgl. die Kongreßakten: H. H. Walz (Hg.): W. heute (1958); darin u.a. auch: W. Weischedel: Die Frage nach der W., a.O. 67–88.
[3]
Vgl. L. Ellrich: Zwischen ‘wirklicherʼ und ‘virtueller Realitätʼ. Über die erstaunliche Wiederkehr des Realen im Virtuellen, in: C. Honegger u.a. (Hg.): Grenzenlose Gesellschaft 1 (1999) 397–411; Art. ‹Virtualität II.›. Hist. Wb. Philos. 11 (2001) 1066–1068.
[4]
Th. Fuchs: Cinematograph. Anm. zum Verschwinden der W. (2002); Zeit-Diagnosen (2002) 191–210; von pädagog. Seite: H. von Hentig: Das allmähl. Verschwinden der W. (1985); ‘aktualisiertʼ: Der techn. Zivilisation gewachsen bleiben. Nachdenken über die Neuen Medien und das gar nicht mehr allmähl. Verschwinden der W. (2002).
[5]
G. Gabriel: Grundprobleme der Erkenntnistheorie (21998) 191.
[6]
W. Weischedel: W. und W.en (1960).
[7]
H. Blumenberg: W.en, in denen wir leben (1981).
[8]
Vgl. W. James: The principles of psychology (New York 1890) 2, 291ff.
[9]
A. Schütz: On multiple realities (1945); dtsch.: Über die mannigfalt. W.en, in: Ges. Aufs. 1 (Den Haag 1971) 237–298.
[10]
A. Schütz/Th. Luckmann: Strukturen der Lebenswelt (1979/84).
[11]
P. L. Berger/Th. Luckmann: The social construction of reality (New York 1969); dtsch.: Die gesellschaftl. Konstruktion der W. (1969, 51977) bes. 1–20.
[12]
A. Gehlen: Die Seele im techn. Zeitalter (1957) 51f.
[13]
Deutlich etwa bei: H. Geisslinger: Die Imagination der W. (1992).
[14]
Vgl. P. Watzlawick (Hg.): Die erfundene W. (1981).
[15]
G. Roth: Das Gehirn und seine W. (1994).
[16]
Vgl. G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen 1 (1956, 71994) bes. 142ff.; mit Blick auf die Literatur vgl. P. Heller: Phantasie und Phantomisierung. Merkur 103 (1956) 917–922.
[17]
Vgl. Was heißt ‘wirklichʼ, hg. Bayer. Akad. der schönen Künste (2000).
[18]
A. Janhsen-Vukićević: Dies. Hier. Jetzt. W.-Erfahrungen mit zeitgenöss. Kunst (2000) bes. 238ff.
[19]
O. Marquard: Kunst als Antifiktion. Versuch über den Weg der W. ins Fiktive (1983), in: Aesthetica und Anaesthetica (1989) 82–99.
[20]
R. Spaemann: Die Zweideutigkeit des Glücks (1990), in: Grenzen (2001) 95–107, 105.