11.
W. und Objektivität: Neukantianismus. – Hieran hat vor allem der
Südwestdeutsche Neukantianismus angeknüpft, um so Wahrheit nicht mehr im Rahmen einer Abbildtheorie (s.d.) der Erkenntnis, also aus der «Beziehung der Vorstellung zu einer absoluten W.» heraus zu verstehen (
W. Windelband)
[1], sondern als «Norm des Geistes». Philosophie ist daher vor allem eines: Wissenschaft vom Wert (s.d.). Dieser läßt über Bolzano und Lotze hinaus das «‘Reichʼ des Nichtwirklichen» nun auch positiv bestimmbar werden (
H. Rickert)
[2]. – Eben damit zeigt sich «W.» in zweierlei Hinsicht als Problem: a) in ihrem Verhältnis zum Wert, b) aber auch wissenschaftstheoretisch und hier besonders in bezug zur «W.-Wissenschaft schlechthin»: zur Geschichtswissenschaft (
G. Simmel)
[3].
a) Vor allem Phänomenologie (Husserl) und Gegenstandstheorie (Meinong) zwingen
H. Rickert, den Wert (gegen Husserl wie Meinong) vom Idealen abzugrenzen
[4]: Dieses ist im Unterschied zum Wert durchaus «wirklich», nämlich: «immanent». Rickert vertritt also keine «Zweiwirklichkeiten-»
[5], sondern eine «Einwirklichkeitentheorie» («‘Monismusʼ des Realen»)
[6], die den «W.-Begriff des Positivismus» aufnimmt, zugleich jedoch erkenntnistheoretisch ergänzt um die Subjektbezogenheit aller W.
[7]: Noch vor aller Differenzierung in psychisches oder physisches Sein ist Wirkliches zunächst einmal erlebt, unmittelbar gegeben, «immanentes Objekt» eines Subjekts: «Bewußtseinsinhalt»
[8]. Daß dieser jedoch «die Form der W.» erhält, ist eine Leistung nicht des Vorstellens, sondern der Erkenntnis, des Wissens, also des Urteils
[9]: «wirklich» heißt mit Recht allein das, «was von Urteilen als wirklich bejaht werden soll». Daher ist streng zu unterscheiden «zwischen der Form ‘W.ʼ und dem ‘Wirklichenʼ als dem Inhalt in dieser Form»
[10]. Nicht jener Inhalt, wohl aber diese Form ist daher «transzendent», «Gegenstand der Erkenntnis»: «Wir erkennen daher Wirkliches gerade dadurch, daß wir Unwirkliches anerkennen»
[11]. So tritt die Philosophie überhaupt als «Wertwissenschaft» den «W.-Wissenschaften» gegenüber
[12], grenzt jedoch gerade deswegen auch an das, was bei
Windelband das «Heilige» war: an die «transzendente W.»
[13], das «Ueberwirkliche», das als Antwort auf das Problem der «Wertverwirklichung»
[14] konzipiert wird. Die Deutung, die
B. Bauch dem Problem solcher Wertverwirklichung gibt, macht deutlich, daß «Wahrheit, Wert und W.» Momente einer Entwicklung sind, in der die W. nur als «Übergang» (Rickert), als «‘Weg und Durchgangʼ von ihrem
λόγος-Grunde, den transzendentalen Bedingungen, zu ihrem
λόγος-Ziele, den Werten», in den Blick kommt
[15].
b)
Rickert ist es auch, der das Wertproblem für die Methodenlehre der Einzelwissenschaften fruchtbar macht. Weil «Begriff und W.» zu trennen sind, jener daher
weder «Abbild» noch «Beschreibung» von der W. sein kann, ist das Problem der W. aus dieser Sicht das ihrer Irrationalität, und zwar aufgrundihrer totalen Kontinuität wie Heterogenität gleichermaßen: «Alles fließt», aber «alles ist» auch «anders», W. daher «stetige Andersartigkeit», ein «heterogenes Kontinuum». «Macht über das Wirkliche» bekommen Wissenschaft und Begriff daher nur durch Prozeduren seiner Umformung und Vereinfachung, die an seiner «Unübersehbarkeit» und «Unerschöpflichkeit» indessen nichts zu ändern vermögen
[16]. Gerade deswegen sind die historischen Wissenschaften auf den Begriff des Wertes (bzw. der Kultur) angewiesen: Nur in Beziehung auf ihn wird aus einem sinnlosen «Gewimmel» immer neuer «Andersartigkeiten», das alle W. als solche auszeichnet, eine qualitative, weil sinntragende, historische Individualität, die in Begriffen darstellbar, wissenschaftlich also beherrschbar ist
[17].
Gegenüber den badischen Vertretern des Neukantianismus zeichnet sich die
Marburger Schule anfangs durch eine stärkere Konzentration auf die Forschungssituation der modernen Physik aus. Vor diesem Hintergrundkonzipiert
P. Natorp die «Modalitätsstufen» ‹Möglichkeit›, ‹W.› und ‹Notwendigkeit› streng in bezug auf die wissenschaftliche Arbeit als: «Hypothese», experimentell festgestellte «Tatsache» sowie «Gesetz»
[18]. Allerdings muß für eine solche zum «kritischen Idealismus» fortgebildete Transzendentalphilosophie der Versuch Kants, «W. auf den Zusammenhang mit der Empfindung» zu gründen
[19], als Infragestellung des logischen Programms überhaupt erscheinen
[20]. Gegen Kant rehabilitiert
H. Cohen daher den «ontologischen Beweis», um «das Denken da flott zu machen, wo sonst nur bei der Empfindung Rettung schien». «Denken» («Begriff») erzeugt, ist «Ursprung», kennt daher nichts «Gegebenes», ihm läßt sich daher auch nichts (auch «Existenz» nicht) «hinzufügen», «beilegen»: Es gibt kein «Loch im Denken», «aus dem der Maulwurf der Empfindung hervorlugt»
[21]. Muß im System der reinen Erkenntnis wohl «Empfindung» aufgegeben werden, so doch nicht deren «Anspruch»
[22]. Was «Empfindung» nur «stammelt», das wird im «Urteil der W.» allererst zu sachgerechter «Aussprache» gebracht: als (kritische) «Kategorie» des «Einzelnen»
[23]. Ist das «Einzelne» das eigentliche «Problem der W.», so wird dieses doch erst gelöst durch die «Größe»: Sie «ist die Kategorie, welche sich deckt mit der Kategorie des Einzelnen, mit der Kategorie der W.»
[24]. Weil «Größe» das «Äquivalent» ist zur W., deren «Kriterium», gelingt es Cohen, die im Begriff der W. ausgesprochene allgemeine Problematik gegenüber der viel zu begrenzten Empfindung zurückzugewinnen, und zwar nicht nur für den Bereich der Natur bzw. der mathematischen Naturwissenschaften, sondern auch für die Geisteswissenschaften sowie die Ästhetik
[25].
Daß unter der für den Neukantianismus kennzeichnenden erkenntniskritischen Perspektive (einzel-)wissenschaftlicher Objektivität W. jeden Charakter eines der methodologischen Besinnung vorausgehenden «Datums» verliert (
R. Hönigswald)
[26], stößt vielfach auf Protest. Wo er nicht sogar in reine «Mystik» umschlägt
[27] oder zur «W.-Lehre» als «induktiver Metaphysik» fortschreitet (
H. Driesch)
[28], formiert sich solche Kritik (von Dilthey her) zum Gegensatz von «Wissenschaft und W.», die dem Menschen im unmittelbaren Willenserlebnis mit ‘unumstößlicherʼ Gewißheit begegnet (
M. Frischeisen-Köhler)
[29]. So muß der Neukantianismus sein Verhältnis zu Hegel klären
[30]: Handelt es sich noch um kritischen oder bereits um absoluten Idealismus? Es
ist – neben
J. Cohn[31] – vor allem
E. Cassirer, der klarstellt: «Vernunft» ist «‘alles Wirklicheʼ» nicht im Sinne «einer Gegebenheit», sondern «einer unendlichen Aufgabe», also ein «reines Sollen»
[32], asymptotisches Ziel
[33], in dem W. gerade nicht «ganz zurücktritt» (
H. Maier)
[34], sondern sich in ihrer Unerschöpflichkeit je neu bekundet
[35]. Die Reflexion auf die unterschiedlichen Objektivierungsleistungen verleiht dabei der von Kant herausgearbeiteten Fähigkeit des intellectus ectypus, zwischen W. und Möglichkeit zu unterscheiden, eine neue, umfassende Bedeutung: Menschliche Erkenntnis ist wesentlich symbolische Erkenntnis
[36]; wo sie pathologisch gestört ist, wird nicht nur der «Unterschied zwischen W. und Möglichkeit unscharf», sondern beschränkt sich menschliche Existenz auf die «konkrete Sphäre, in der wirkliche Dinge stattfinden»
[37]. Die Einsicht in die zahlreichen «Symbol-» und «Bildwelten», in denen der Mensch lebt, kehrt nun allerdings den Manifestationsbegriff von W. um: Wissenschaft und Kunst, Mythos und Religion sind demnach «nicht verschiedene Weisen, in denen sich ein an sich Wirkliches dem Geiste offenbart, sondern sie sind die Wege, die der Geist in seiner Objektivierung, d.h. in seiner Selbstoffenbarung verfolgt»
[38].
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W. Windelband: Immanuel Kant (1881), in: Präludien (1884, 91924) 1, 112–146, 132. |
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H. Rickert: Der Gegenstand der Erkenntnis (1891, 61928) 300f. |
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G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilos. (1892). Ges.ausg., hg. O. Rammstedt (1989ff.) 2, 348f. |
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Vgl. Rickert, a.O. [2] 270f. |
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a.O. VIIIf. [Vorwort zu 31915]; vgl. a.O. 425. |
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204; mit Bezug auf Kants Beispiel der hundert Taler: 140. |
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W. Windelband: Das Heilige (1902), a.O. [1] 2, 295–332, 305. |
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B. Bauch: Wahrheit, Wert und W. (1923) 465. |
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H. Rickert: Kulturwiss. und Naturwiss. (1898, 6/71926) 28–38: Kap. 5: «Begriff und W.». |
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a.O. 78–101; sozialwissenschaftl. weitergeführt durch M. Weber: Die ‘Objektivitätʼ sozialwissenschaftl. und sozialpolit. Erkenntnis (1904). Ges. Aufs. zur Wiss.lehre ( 71988) 146–214, bes. 170f. 174. 190f. |
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P. Natorp: Philosophie (1911, 31921) 56–58. |
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H. Cohen: Logik der reinen Erkenntnis (1902, 21914). Werke, hg. H. Holzhey 6 (1977) 462. |
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Vgl. bes. 472f.; auch: 463f. 469 u.ö.; das hebt zu Recht W. Marx hervor in: Transz. Logik als Wiss.theorie (1977) 66ff. |
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Cohen, a.O. [19] 469–473. |
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Vgl. R. Hönigswald: Zur Wiss.theorie und -systematik. Kantstudien 17 (1912) 28–84, bes. 74f. 81f. |
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W. Windelband: Von der Mystik unserer Zeit (1910), a.O. [1] 1, 290–299, bes. 295f. |
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H. Driesch: Wirklichkeitslehre (1917, 31930) bes. 32–51. |
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M. Frischeisen-Köhler: Wissenschaft und W. (1912); vgl. auch: Das Realitätsproblem (1912). |
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Vgl. E. von Aster: Neukantianismus und Hegelianismus. Eine philos.geschichtl. Parallele. Festschr. Th. Lipps (1911) 1–25. |
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J. Cohn: W. als Aufgabe (1940), hg. J. von Kempski (1955). |
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E. Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philos. und Wiss. der neueren Zeit 1–4 (1906–50/57), 3 ( 21923, ND 1994) 367; vgl. 362–377; ähnlich: Natorp, a.O. [18] 58–60. |
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Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik. Jb. Philos. 1 (1913) 1–59, 31f.; ND, in: Erkenntnis, Begriff, Kultur, hg. R. A. Bast (1993) 3–76, 42. |
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So die Kritik bei: H. Maier: Philos. der W. (1926/34) 1, 56; vgl. bes. 1–91. |
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E. Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910, ND 1980) 427; vgl. Philos. der symbol. Formen 1–3 (1923–29, 21953/54, ND 1988) 3, 557f. |
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An essay on man (1944); dtsch.: Versuch über den Menschen (1990), hg. R. Kaiser (1996) 92f. |
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a.O. 93–95; im Anschluß an: K. Goldstein: Human nature in the light of psychopathology (Cambridge 1940) 49ff. |
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Cassirer: Philos. der symb. Formen, a.O. [35] 1, 9; vgl. 48. |