Zeitlosigkeit (lat. intemporalitas; engl. timelessness; frz. atemporalité, intemporalité). Ausdrücke für ‹zeitlos› finden sich im Griechischen (
ἄχρονος) wie im Lateinischen (‹intemporalis›) erst nachklassisch und überdies nur sporadisch belegt. Es handelt sich in beiden Sprachen um eine vox docta, die sowohl bei Medizinern (hier in der Bedeutung «ohne bestimmte Zeit» oder «unzeitig»
[1]) als auch bei Philosophen und Theologen (hier vor allem zur Bezeichnung des Gegensatzes zwischen Nichtzeitlichem und dem unter zeitlicher Bestimmung Stehenden) anzutreffen ist. Insbesondere die Substantivbildung ‹Z.› ist ein ausgesprochenes Reflexionswort, das im Griechischen
gar nicht, im Lateinischen sehr selten und neusprachlich nicht vor dem 18. Jh. nachweisbar ist. Philosophisch dominiert eine Verwendung in gnoseologischem Kontext: ‹Z.› bezeichnet primär den Modus und Status der reinen, von Zeitlichkeit prinzipiell nicht affizierten Vernunfterkenntnis, insbesondere den Status ewiger Wahrheiten
[2].
1. Die ältesten Belege für
ἄχρονος bietet
Philon von Alexandria, dem die allegorische Schriftauslegung die Möglichkeit eröffnet, in den geschichtlichen Erzählungen der Bibel immer wieder die Spannung von Zeitlichem und Zeitlosem zu entdecken
[3]. Im christlichen Bereich ist ‹Z.› seit
Ignatius von Antiochien als Attribut Gottes belegt
[4], taucht aber auch in verschiedenen dogmatischen Kontroversen in spezielleren Anwendungen auf:
Ambrosius von Mailand etwa betont gegen die Arianer die Z. der Zeugung des Sohnes aus dem Vater
[5],
Arnobius der
Jüngere gegen die Monophysiten, daß in der Inkarnation das göttliche Wort «seine Z. nicht preisgab, aber einen vollkommenen zeitlichen Menschen annahm» («non amittendo intemporalitatem suam, sed adsumendo temporalem hominem perfectum»)
[6]. Im philosophischen Bereich bietet das Stichwort ‹intemporalis› als erster
Apuleius von Madaura, der damit die Lebensform des tugendhaften Weisen auszeichnet
[7]. Wenn
Alexander von Aphrodisias gelegentlich herausstellt, daß alles Sehen «zeitlos» (
ἀχρόνως) geschieht, während das Hören «der Zeit bedarf»
[8], dürfte er indirekt angesprochen haben, warum eine optische Metaphorik zum Ausdruck von Vernunfterkenntnis immer als besonders naheliegend erschien. Es ist
Plotin, der dann den wichtigen Grundsatz aufstellt, daß «alle Vernunfterkenntnis zeitlos» (
ἄχρονος πᾶσα νόησις) ist, da ihre (transzendenten) Gegenstände «ewig, nicht in der Zeit» sind
[9].
Proklos betont, daß die Götter «das Innerzeitliche auf zeitlose Weise» (
ἀχρόνως τὰ ἔγχρονα) erkennen, während die der Zeit unterworfenen niederen Wesen «das Zeitlose nur auf innerzeitliche Weise» (
τὸ ἄχρονον ἐγχρόνως) aufnehmen können
[10]. Noch
Thomas von Aquin spricht in diesem Sinne davon, daß die Zeit für das göttliche Erkennen nur von seiten des erkannten Zeitlichen («ex parte intellectorum»), nicht aber von ihm selbst her («ex parte ipsius intellectus») in Betracht kommen könne, erkennt dieses Erkennen doch «das Zeitliche auf zeitlose Weise» («temporalia intemporaliter cognoscit»)
[11]. Ganz ähnlich heißt es auch bei
Nikolaus von Kues, daß in Gott alles «Zeitliche auf zeitlose, weil auf ewige Weise» («temporalia intemporaliter quia aeterne») ist
[12].
2. Die neuzeitliche rationale Theologie versteht, so etwa bei
Ch. Wolff, in Anknüpfung an die Diskussionen um den Begriff der Ewigkeit (s.d.) insbesondere im Mittelalter das ewige Sein Gottes als ein Sein «ausser der Zeit», nicht etwa nur «in einer unendlichen Zeit»
[13].
M. Mendelssohn gebraucht in einem entsprechenden Zusammenhang die Wendung von «einer Z., einer unwandelbaren Ewigkeit» Gottes, «die ihrem Wesen nach weder Anfang, noch Fortgang, noch Ende haben kann»
[14]. In transzendentallogischem Sinne verwendet den Begriff ‹Z.› dann
F. W. J. Schelling: Er nennt «Zeit überhaupt» das «Schema der gänzlichen Z.»
[15] und charakterisiert das «Ich» als «zeitlosen Akt»
[16].
J. G. Fichte versteht das «Erkennen» zunächst als ein «Ausdehnen des absolut Zeitlosen durch eine Zeit hindurch, die uns eben in diesem Ausdehnen entsteht»
[17]; in seiner Spätphilosophie geht es dann auch darum, sich zum «Geburtsort der Zeit selbst, u. zur Anschauung der absoluten Z. in Gott, über die Zeit hinweg»
[18], zu erheben. Nach
G. W. F. Hegel
schließlich ist es der logische Raum des «Wesens», des in die Reflexion hinein aufgehobenen Seins, der uns mit Z. konfrontiert, ist das Wesen als solches doch «das vergangene, aber zeitlos vergangene Seyn»
[19].
Der überkommenen Frage nach dem Zeitlosen im Unterschied zum Zeitlichen will
L. Feuerbach den Boden entziehen, wenn für ihn «Raum und Zeit die Existenzform alles Wesens» sind: «Eine zeitlose Empfindung, ein zeitloser Wille, ein zeitloser Gedanke, ein zeitloses Wesen sind Undinge. Wer keine Zeit überhaupt, hat auch keine Zeit, keinen Drang zum Wollen, zum Denken»
[20]. Mit
E. von Hartmann tritt insofern ein Novum ein, als Z. jetzt auf die Ebene des Unbewußten verlegt wird: Wenn «das Unbewußte jeden Denkproceß mit seinen Resultaten in einen Moment, d.h. in Nullzeit zusammenfaßt, so ist das Denken des Unbewußten zeitlos, obwohl noch in der Zeit, weil der Moment, in welchem gedacht wird, noch seine zeitliche Stelle in der übrigen Reihe der zeitlichen Erscheinungen hat»
[21]. In psychoanalytischem Kontext konzipiert
S. Freud eine «Z.» der «unbewußten Regungen»
[22], während Neukantianer wie
R. Reininger weiterhin von der «Z. des Icherlebnisses» sprechen
[23], aber auch davon, daß «das Bewußtsein der Zeit ... selbst zeitlos»
[24] sei. Wenigstens mittelbar stehen Theoreme wie diese in Zusammenhang mit der idealistischen, zu Beginn des 20. Jh. von
J. M. E. McTaggart erneuerten These von der Unwirklichkeit der Zeit
[25]. Auf vielfache Weise haben schließlich Denker des 20. Jh. von
N. Hartmann bis
J.-P. Sartre versucht, sich in Beziehung auf den «Urgegensatz von Zeitlichem und Zeitlosem»
[26] neu zu orientieren
[27].