Auf Schritt und Tritt 

3 Marktmacht

Auf Schritt und Tritt - Der schweizerische Schuhmarkt 1918–19483 Marktmacht10.24894/978-3-03810-460-5 Roman WildMarktmacht 3 100 Eine exportorientierte Schuhfabrik fasst am Binnenmarkt Fuss 1951 wurde im solothurnischen Schönenwerd ausgiebig gefeiert. Anlass dazu gab das 100-Jahr-Jubiläum der von Carl Franz Bally begründeten (proto-) industriellen Schuhproduktion. 1 Dass sich die Feierlichkeiten von März bis Dezember hinzogen, mag damit zu tun haben, dass die C. F. Bally AG zwischenzeitlich zu einem Schuhkonzern angewachsen war, der in England, Frankreich, Österreich, Nordamerika, Brasilien und Argentinien Tochtergesellschaften unterhielt und 16 000 ArbeiterInnen, Angestellte und Manager beschäftigte. Die kollektive Anstrengung brachte 28 000 Schuhpaare hervor, pro Tag wohlgemerkt. Von «Ballyanern» umgeben, hielt die Konzernleitung Rückschau auf das in der Vergangenheit gemeinsam Erreichte und wagte einen Ausblick darauf, was die Zukunft an Zielen und Herausforderungen bereithalten möge. 2 Aufgelockert wurden die Reden mit kurzweiligen Banketten, Aufführungen und Umzügen. Zu den Festivitäten zog Bally auch Lieferanten, Konkurrenten und Pressevertreter hinzu, die sich mit Respektsbekundungen und Freundschaftsgaben — etwa in Form eines Goldschuhs oder einer Silbersandale — überboten. Das Schönenwerder Wiegenfest war, so liesse sich überspitzt formulieren, ein Festakt des gesamten schweizerischen Schuhmarkts. Zur offiziellen Jubiläumsfeier lud der Schuhkonzern am 7. Juni, und es kamen die Funktionäre der nationalen wie internationalen Schuh- und Lederwirtschaft, die Vertreter von Gemeinden, die mehr als 200 Ballyaner beheimateten, die Regierungsräte der Fabrikstandort-Kantone Solothurn, Aargau, Baselland, Uri und zwei Bundesräte. Über diese unternehmerische Machtdemonstration wurde, wie ein Blick in den Pressespiegel zeigt, landauf, landab berichtet; die Anwesenheit der Landesregierung wurde bisweilen als anmassend empfunden und hämisch kommentiert. 3 Den Höhepunkt bildete die An- 101 3 Marktmacht sprache von Rodolphe Rubattel. Der Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartements erinnerte an den mit Erfolgen und Rückschlägen gespickten Aufstieg Ballys zum Primus der schweizerischen Schuhwirtschaft: «Die blühende Entwicklung Ihres Unternehmens ist das Ergebnis einer langen Beharrlichkeit, einer lobenswerten Stetigkeit in der Tatkraft, eines gründlichen Verständnisses der Bedürfnisse und der wechselnden Geschmacksrichtung einer über die ganze Welt verstreuten Kundschaft, einer immerwährenden Anpassung der technischen und kaufmännischen Organisation an die unnachgiebigen Erfordernisse der Produktion, wie auch der Konkurrenz, eines dauernden Suchens nach neuen Formen und Materialien, eines immer vertiefteren und menschlicheren Zusammenarbeitens all derer, die zu ihrem Gedeihen und zu ihrem Ruf beitragen, gleichviel in welchem Rang sie auch stehen mögen. Meine Herren, das sind Ehrenbezeugungen, die man nicht jeden Tag zu vergeben hat.» 4 Der langen magistralen Rede kurzer Sinn kann dahingehend gedeutet werden, dass die Bally-Geschichte eine Geschichte der Marktanpassung sei. Seine führende Stellung, so Rubattel, verdanke der Schuhkonzern der flexiblen Anpassung an den Binnenwie den Weltmarkt. 5 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie diese «Vermarktlichung» im Betriebsalltag vonstattenging. 6 Welche Manager verantworteten die Marktfähigkeit, von welchen Prämissen und Konzepten liessen sie sich dabei leiten? Mit welchen organisatorischen Vorkehrungen und technischen Apparaturen versuchte Bally, die nachfrageseitigen Marktimpulse einzufangen? Und wie reagierten die übrigen Schuhmarktteilnehmer auf das Schönenwerder Streben nach Unternehmenswachstum und Marktmacht? Unternehmen stellen eigene sozioökonomische Strukturtypen dar. In Abhängigkeit von Fragestellung und Forschungsansatz können sie als Eigentumsform, Machtgebilde, Herrschaftsgefüge, Finanzkonstrukt, Marktakteur, Arbeitszusammenhang, Produktionsfaktor oder kulturelle Lebensform gefasst und beschrieben werden. 7 Bei der Beschäftigung mit modernen, vertikal integrierten und auf Massenproduktion getrimmten Grossunternehmen kommt man an Alfred D. Chandler Jr. nicht vorbei. Der an der Harvard Business School forschende Wirtschaftshistoriker und Ökonom hat durch die Publikation von mehreren, thematisch eng verzahnten Studien zur Genese von Grossunternehmen ein Masternarrativ entwickelt, an dem sich eine ganze Generation von 102 UnternehmenshistorikerInnen abarbeitete. Als Hauptwerk darf das 1977 veröffentlichte Buch The Visible Hand: The Managerial Revolution in American Business gelten. Chandlers zentrale Argumentationslinie stützt auf die «middle managers» ab, eine neuartige Profession, die die bürokratischen Schaltstellen in Grossunternehmen besetzte. 8 Ihrer planend-kontrollierenden Praktiken wegen hätten diese Wirtschaftsakteure ungeahnte Grössen- und Durchlaufgewinne erzielt. Ausgehend von US-amerikanischen Unternehmen der Chemie-, Maschinen- und Automobilindustrie propagiert der Historiker ein Verlaufsmodell in drei Phasen: In einem ersten Zeitraum von 1790 bis 1840 war der Markt der primäre Mechanismus für die Produktion und Distribution von Waren und Dienstleistungen. In der Phase von 1840 bis 1880, die durch Transport- und Kommunikationsrevolutionen sowie steigende Marktvolumina charakterisiert wird, sanken die Kosten der betriebsintern vollzogenen Transaktionen — mit der Folge, dass die modernen Unternehmen deutliche Wachstumsschübe verzeichneten. In der dritten Phase von 1880 bis 1920 erlangte der Typus des vertikal organisierten Unternehmens schliesslich eine Effizienz, dem der Markt nichts mehr entgegenzusetzen hatte. 9 An der Omnipräsenz von The Visible Hand hat vor allem eine in der Einleitung platzierte These Anteil. Den historischen Kontext beiseitelassend, unternimmt Chandler einen Frontalangriff auf den Markt (neo-)klassischer Prägung: «The theme propounded here is that modern business enterprise took the place of market mechanisms in coordinating the activities of the economy and allocating its resources. In many sectors of the economy the visible hand of management replaced what Adam Smith referred to as the invisible hand of market forces.» 10 Gewiss wäre es angezeigt, einerseits auf die in den Wirtschaftswissenschaften geführte Marktdebatte 11 einzugehen und andererseits die von Chandler-Schülern, -Skeptikern und -Kritikern monierten Diskussionspunkte aufzugreifen — stichwortartig seien nur die Übergewichtung des unternehmerischen Innenlebens, das fehlende Sensorium für (regulierungs-)politische Fragestellungen oder der Technikdeterminismus genannt. 12 Im Kontext einer Wissensgeschichte ökonomischer Praktiken ist es sinnvoll, bei jener doppelten Leerstelle anzusetzen, die Ingrid Jeacle und Lee Parker im Aufsatz «The ‹Problem› of the Office» identifizierten: Beim Büro als Raum, in dem Informations- und Kontrollapparate untergebracht waren und Planungs- und Kommu- 103 3 Marktmacht nikationspraktiken vollzogen wurden; und beim Büro verstanden als Strategie für den zeitgenössischen Marktauftritt. 13 Die Rezeption und Aneignung des Office Management durch die Verantwortlichen der Bally-Holding wird weite Teile des vorliegenden Kapitels strukturieren. Mit Blick auf den Bally-Forschungsstand sind fünf Themenfelder auseinanderzuhalten. Erstens haben zwei Autoren in den 1930er-Jahren unter wohlwollender Duldung der Unternehmensleitung den organisatorischen Aufbau und die Exportausrichtung der Schuhfabriken behandelt. 14 Speziell der Beitrag des Publizisten Hermann Büchi, der später als einflussreicher Drahtzieher (Wirtschaftsförderung, Antikommunismus) in Erscheinung trat, 15 verdient für seinen problemorientierten Zugriff Anerkennung. 16 Zweitens hat Bally als überregional bedeutsamer Arbeitgeber das Interesse der Historiografie auf sich gezogen. Die empirisch gesättigten Studien von Karin Baumann Püntener und Peter Heim zeichnen das Bild eines gleichsam rekrutierungsfreudigen wie gewerkschaftsfeindlichen Unternehmens, das mithilfe grosszügig dotierter Wohlfahrtseinrichtungen eine loyale Stammarbeiterschaft heranzog. 17 Drittens haben Rudolf Jaun und Ruedi Rüegsegger die Pilotversuche der schweizerischen Rationalisierungsbewegung ausgeleuchtet. Im Rahmen seiner 1986 vorgelegten Dissertation Management und Arbeiterschaft konzentriert sich Jaun auf die von Iwan Bally mitgetragene Institutionalisierung des Scientific Management an der ETH Zürich und die 1913 in Schönenwerd lancierten arbeitswissenschaftlichen Zeitstudien-, Ermüdungs- und Akkordlohn-Versuche. Rüegsegger fokussiert mit der Psychotechnik auf eine kurzlebige Spielart der Rationalisierungsbewegung und arbeitet am Beispiel ihres führenden Vertreters Jules Suter die komplexe Übertragung von psychologischen Wissensbeständen in den Betriebsalltag heraus. 18 Viertens gilt es, die vom Bundesrat eingesetzte Unabhängige Expertenkommission Schweiz — Zweiter Weltkrieg zu nennen, die den Verstrickungen der schweizerischen Wirtschaft mit dem Dritten Reich nachging. Die von Bally in Wien unterhaltenen Produktions- und Verkaufsgesellschaften bieten Anschauungsunterricht zu den kriegswirtschaftlichen Sachzwängen und unternehmerischen Handlungsspielräumen. Neben einer Spezialuntersuchung zu den in Österreich angestrebten und teilweise auch realisierten «Arisierungen» — einem Prozess, bei dem unter anderem Eigentumstransfers von jüdischem in «arischen» Besitz erzwungen wurden — und dem UEK-Schlussbericht griff auch 104 ein Sekundarschullehrmittel Bally als Fallbeispiel auf. 19 Ausgehend von den Bally-Schuhfabriken sind fünftens Dokumentationen entstanden, die die materiellen Hervorbringungen und baulichen Hinterlassenschaften im solothurnischen Niederamt thematisieren. Im Jahr 2000 wurde die Stiftung Ballyana ins Leben gerufen, um diese Aufarbeitung zu bündeln, auf Dauer zu stellen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. 20 Auf welchem Quellenfundus ruht das Kapitel «Marktmacht»? In Schönenwerd existiert ein Historisches Archiv der Bally-Schuhfabriken, das eine immense Fülle an Objekten, audiovisuellen Materialien und Schriftstücken beherbergt. Allein im Bereich der Unternehmensführung liegen 230 Laufmeter archivierungswürdiges, aber noch nicht professionell bewertetes, erschlossenes und verzeichnetes Material. Dieses Umstands wegen weisen die im Folgenden zitierten Quellen keine Signaturen auf. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass in Zukunft noch Dokumente auftauchen, die für die hier entwickelte Argumentation von Bedeutung wären. Ausdrücklich betonen möchte ich, dass das Historische Bally-Archiv in Schönenwerd die Schuhfabrik abbildet; die hier in erster Linie interessierenden Quellen zur Holdinggesellschaft, die im Untersuchungszeitraum nach Zürich und Lausanne verlegt wurden, sind darin leider nicht oder nur spärlich vertreten. Dessen ungeachtet erlauben es drei Quellenserien, Aussagen zu den Problematisierungen des Schuhmarkts zu machen. Die Konzerngründung von 1921 ist gut dokumentiert, was mit dem im Spätherbst seiner beruflichen Karriere getroffenen Entschluss von Eduard Bally zusammenhängt, persönliche Erfahrungen und Wissensbestände um das Familienunternehmen zu einem mehrere tausend Seiten umfassenden Werk zusammenzufügen. 21 Den ersten, chronologisch geordneten Band überschrieb er mit Geschichte C. F. Bally AG, 22 der zweite, spröde als Statistische Tabellen ausgewiesene Band bietet thematisch organisierte Zusammenstellungen. 23 Das Werk ist zwischen Familienchronik, Ego-Dokument und fragmentarischer Dokumentensammlung zu verorten. Da Eduard Bally beide Bände fortlaufend aktualisierte, ist eine zweifelsfreie Datierung nicht immer möglich — die letzten Eintragungen stammen jedenfalls aus dem Jahr 1925. 24 Wertvoll ist das zweibändige Werk insofern, als darin viele alltägliche Unternehmenspraktiken festgehalten und besonders die Jahre der Reorganisation gut dokumentiert sind. 105 3 Marktmacht Im Untersuchungszeitraum unterhielt der Schuhkonzern eine grosse Kommunikationsabteilung. Schuhwirtschaftliche Studien und Zeitschriften wurden der Betriebsbibliothek einverleibt. Daneben erweist sich weniger die Markt- oder Öffentlichkeits-, als vielmehr die Mitarbeiterkommunikation als eine inhaltlich ergiebige und in serieller Folge bearbeitbare Quellengattung. 25 In den Dienst der unternehmerischen Information und Unterhaltung stellte der Schönenwerder Konzern gleich zwei Mitarbeiterzeitschriften: Die Mitteilungen der Schuhfabrik datierten zurück bis zum Ersten Weltkrieg und legten in der Folge in qualitativer wie quantitativer Hinsicht stetig zu. 26 Die Information Hauszeitung wurde ab 1932 im Namen der Detailorganisation Arola-Schuh AG herausgegeben. 27 Waren die Mitarbeiterzeitschriften zeitgenössisch als Bindeglied zwischen der Bally-Leitung und den Ballyanern angedacht, versorgen sie HistorikerInnen mit wertvollen Informationen zu Betriebsabteilungen, Organisationsprozessen und Karrierepfaden. Nicht selten wurden Schönenwerder Interna nach aussen gekehrt. Die C. F. Bally AG war ein Konzern, der wissenschaftsförmiges Wissen beflissen rezipierte und seinerseits zu dessen Fundus beitrug. Bekanntlich war der starke Mann der Schuhfabriken, Iwan Bally (1876—1965), immer auch in den Entscheidungszentren von Politik und Wissenschaft anzutreffen. 28 Dem glühenden Promotor des Scientific Management 29 eiferten nicht wenige Bally-Manager nach und brachten sich in Erfahrungsaustauschgruppen ein, vertraten in Vortragsreihen den Standpunkt des Betriebspraktikers oder taten in einschlägigen Fachzeitschriften ihre Best practice kund. 30 Die weit gestreuten Voten und Interventionen bereichern die Schönenwerder Archiv-Bestände merklich. Das Kapitel «Marktmacht» weist drei Teile auf: Der erste Teil gibt einen kurzen Aufriss der Geschichte der Schuhfabrik bis und mit dem Ersten Weltkrieg, wobei der «Amerikanisierung» und der 1921 neu erlassenen Organisations- und Rechtsform besondere Aufmerksamkeit zukommt. Im zweiten Teil steht die vertikale Organisation im Zentrum, zudem werden die konzeptionellen, personellen und technisch-apparativen Grundlagen des Office Management behandelt. Und im dritten Teil rücken der zum Zweck der Marktausschöpfung aufgebaute Absatzkanal der Arola-Schuh AG und die dabei erprobten marktpsychologischen Instrumente in den Fokus. 106 Branchenprimus Bally «Das Alte stürzt, es ändern sich die Zeiten» Um 1850 entschloss sich Carl Franz Bally, das von seinem Grossvater gegründete und gemeinsam mit seinem Bruder Fritz geführte Elastikband- und Hosenträgergeschäft Bally & Co zu erweitern. 31 Die langjährige Belieferung französischer Schuhhersteller nährte seinen Glauben an das Wachstumspotenzial des inländischen ebenso wie das Ertragspotenzial des ausländischen Schuhmarkts. Was Carl Franz Bally zu bieten hatte, waren in erster Linie hausindustriell organisierte Arbeitskräfte — Schönenwerd liegt, unmittelbar an den Kanton Aargau angrenzend, im Kanton Solothurn, einer damals ländlichen Region mit bescheidenen Ressourcen. 32 Leicht liessen sich ArbeiterInnen finden, die ihr dürftiges, in der Landwirtschaft erzieltes Auskommen mit Heimarbeit aufbessern wollten. Aber der fertigungstechnische Schritt von der Bekleidung zur Beschuhung erwies sich als grösser denn erwartet. Für das Vermessen der Leisten und das Verfertigen der Fussbekleidung wurden Wissen und Fertigkeiten benötigt, die in Schönenwerd nicht vorhanden waren. Da die ersten industriell erzeugten Schuhe bei regionalen Händlern und KonsumentInnen auf Ablehnung stiessen, musste die bewährte Elastikband- und Hosenträgerfabrik die junge Schuhproduktion querfinanzieren. 33 Ersten Absatz fanden die «klobigen und wenig ansehnlichen Schuhe» ab 1857 in Argentinien und Uruguay. 34 Diese Einnahmen verwendete Carl Franz Bally, um beschlagene deutsche Schuster und versierte französische Näherinnen zu rekrutieren und Investitionen in das regional ausgreifende Verlagswesen zu tätigen. Diese vergleichsweise frühe und konsequente Ausrichtung auf die ausserhalb der Schweiz gelegenen Arbeits- und Absatzmärkte stellte die Initialzündung für das rasante Wachstum dar, das Bally zuerst zum protoindustriellen Vorzeige- und später zum schuhindustriellen Grossbetrieb von gesamtschweizerischer Ausstrahlung machen sollte. 35 Angesichts dieser neuartigen Konkurrenz erachteten einige im unmittelbaren Einzugsgebiet von Bally operierende Schuhmacher ihre Zukunftsaussichten als so düster, dass sie im Winter 1864 eine Drohung gegen Leib und Leben ausstiessen: «Seit Sie die Schuhfabrik gegründet haben, hat mancher Schuhmacher in Aarau und der Umgebung den Verdienst verloren. Es haben sich unser sechs verschworen, Euch zu töten, wenn Sie das Geschäft nicht aufgeben, oder 107 3 Marktmacht Euch alles zu verbrennen.» 36 Weder Carl Franz Bally, der das anonyme Schreiben kommentarlos in sein Tagebuch einklebte, noch seiner Familie wurde Gewalt angetan, auch wurden die «Verschworenen» niemals strafrechtlich belangt. Dem Vorhaben, das Niederamt mithilfe der Fabrikindustrie umzugestalten, tat die Todesdrohung erst recht keinen Abbruch. In der Folge gab Bally den Taktgeber der sozioökonomischen Modernisierung. Für die Festschrift zum 50-jährigen Bestehen im Jahr 1901 bediente sich die Firma bei Friedrich Schillers Drama Wilhelm Tell und kürte einen Ausspruch Werner von Attinghausens zum Firmenmotto: «Das Alte stürzt, es ändern sich die Zeiten». 37 Um seine beiden Söhne Arthur und Eduard Bally in das Familienunternehmen einbinden zu können, liess der Patron Ersterem eine technische und Letzterem eine kaufmännische Ausbildung zukommen. Auf einer Bildungsreise in England lernte Eduard 1869 den Amerikaner Alfred S. Wells kennen, der ihn ermutigte, sich näher mit den Werkzeugmaschinen und Organisationsmethoden made in USA auseinanderzusetzen. Ausgestattet mit diversen Empfehlungsschreiben und Kontaktadressen, unternahm Eduard Bally nicht weniger Abbildung 18 Carl Franz Bally ist der Stammvater des 1851 gegründeten Schuhimperiums. Gefeiert und gefürchtet war Bally als Taktgeber der fabrikindustriellen Moderne. Das Familienunternehmen krempelte den Produktionsprozess um, beseitigte altgediente Tätigkeitsfelder und schuf neue Arbeitsplätze. 108 als fünf Reisen nach Nordamerika, um den dortigen Schuhmarkt zu studieren und erste Geschäftsbeziehungen anzubahnen. 38 Die wichtigste — weil gegen innen und aussen am stärksten rezipierte — Tour war diejenige an die Weltausstellung von Philadelphia im Jahr 1876. In einer in drei Sprachen aufgelegten Broschüre berichtete Eduard über die industrielle Leistungsschau. Beeindruckt hatten ihn die arbeitssparenden Walk-, Näh-, Holznagel- und Stanzmaschinen. 39 Den in Europa verbliebenen Schuhindustriellen prophezeite er: «Wir sind gezwungen, diese Concurrenzfähigkeit nicht nur anzuerkennen, sondern deren Einfluss genau zu erwägen und diejenigen Mittel ausfindig zu machen, die uns für die Zukunft einigermassen beruhigen und unsere Industrie erhalten dürften. Schutzzölle helfen uns nicht, weil wir dadurch unsern eigenen Export beeinträchtigen; wir können nur eines thun, wenn wir nicht unsere ganze Industrie preisgeben wollen, und das ist, den Amerikaner zum Vorbild nehmen.» 40 Das amerikanische Vorbild sollte in Schönenwerd einen jahrzehntelangen Rezeptions-, Transfer- und Implementierungsprozess am Laufen halten. Wer in der Schuhfabrik Karriere machen wollte, musste mindestens einmal die amerikanische Best Practice persönlich in Augenschein genommen haben. 41 Bei Bally liegt ein Fall von «Amerikanisierung» im Sinn Abbildung 19 Ab den 1860er-Jahren kamen in Lederstuben und Fabriksälen immer mehr Maschinen zum Einsatz, die von mechanischer Energie angetrieben wurden. In Verbindung mit der Arbeitsteilung und der Spezialisierung gelang es Bally, den Schuhausstoss drastisch zu erhöhen. 109 3 Marktmacht Harm G. Schröters vor. 42 Vom idealtypischen Verlaufsmuster weicht das Schönenwerder Unternehmen insofern ab, als sich dessen Entscheidungsträger in den USA umzuschauen begannen, ehe ein halbes Jahrhundert später die erste europäische Imitationswelle einsetzte. 43 Wichtig zu sehen ist, dass die Übernahme von Werten, Konzepten, Praktiken und Maschinen einen komplexen Prozess darstellte. Neben Risikobereitschaft, Wissen und Kapital war hierfür auch ein institutionelles Setting vonnöten. Bekanntlich sah die Schweiz lange Zeit von einer Regelung der Patent- und Musterschutzfrage ab. Die US-amerikanischen Schuhmaschinenproduzenten schreckten vor der Belieferung der Schweiz zurück; falls sich doch einmal ein Hersteller zu einer Lieferung in die Schweiz bereit erklärte, pflegte er sich mit umfangreichen Lizenzverträgen und risikogewichteten Mietaufschlägen abzusichern. Um die Einführung eines international kompatiblen Patentgesetzes voranzutreiben, kandidierte Carl Franz Bally deshalb für den Nationalrat und setzte sich nach erfolgter Wahl in der Legislaturperiode 1875 bis 1878 für die Lösung der Patentfrage ein. Es sollte dann allerdings bis ins Jahr 1888 dauern, dass die Bundesverfassung um einen die Erfindungen unter Patentschutz stellenden Passus (Artikel 64) erweitert wurde. 44 Der in der Folge forcierte Maschinenimport war für die Bally-Schuhfabriken und die schweizerische Schuhwirtschaft gleichermassen folgenreich. Die Lederstuben und Werkräume wurden vollumfänglich von Transmissionswellen und riemengetriebenen Maschinen vereinnahmt. Eine an der Landesausstellung in Zürich eingesetzte Fachkommission für Schuhe vermeldete eine systematische Übernahme amerikanischen Knowhows: «Die andern schweizerischen Fabrikanten befolgten dieses Beispiel, so dass jetzt eine jede Schuhfabrik mehr oder minder vollkommene mechanische Einrichtungen besitzt.» 45 Nach der Jahrhundertwende war die Ausstattung mit Werkzeugmaschinen abgeschlossen. 46 Ermutigt vom Wachstum des heimischen Schuhmarkts wagten sich immer mehr Akteure in die Schuhfabrikation vor, darunter nicht wenige, die vormals bei Bally in leitender Stellung tätig gewesen waren. Markterfolge stellten sich in unterschiedlichem Ausmass ein; je nach konsultierter Liste vermochten sich auf der Achse Aarau—Olten bis zur Jahrhundertwende ein gutes Dutzend kleiner Schuhfabriken festzusetzen. 47 Der Solothurner Anteil der in der schweizerischen Schuhindustrie Beschäftigten 110 betrug 1888 21,9 Prozent und 1911 16,2 Prozent. 48 Während sich auch im Bodenseegebiet einige wenige Schuhfabriken etablierten, liessen sich in der romanischen Schweiz fast keine schuhwirtschaftlichen Betriebe nieder. Zu den «mechanischen Einrichtungen» drängt sich eine Präzisierung auf: Dass sich diese auf breiter Basis durchsetzen konnten, geht auf eine internationale Strukturverschiebung zurück. 1899 fusionierten die fünf führenden amerikanischen Schuhmaschinen-Fabrikanten zur United Shoe Machinery Company (USMC) mit Sitz in Boston, Massachusetts, und bildeten ein nationales Monopol, das zeitweise einen Marktanteil von bis zu 90 Prozent aufwies. 49 Bis 1947 vermochte sich die USMC allen juristischen Bestrebungen wider ihre marktbeherrschende Stellung (Sherman Antitrust Act) zu entziehen. 50 Ihre Maschinen vertrieb sie über Tochterfirmen in England, Frankreich, Deutschland, Italien und Österreich, in der Schweiz errichtete sie kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs ein Maschinendepot und einen Service-Stützpunkt. 51 Im Wissen um die unangefochtene Marktposition bot die USMC ihre patentgeschützten Maschinen mitsamt Beratungs-, Service- und Ersatzbeschaffungsdienstleistungen nicht zum Kauf, sondern zur Miete an. Wie für Deutschland nachgewiesen ist, galten die Verträge infolge von Verkettungs- und Verlängerungsklauseln zeitlich unbefristet. 52 Weiter verpflichtete die USMC ihre Kunden, in den Fabrikateliers keine Spezialmaschinen konkurrierender Schuhmaschinenhersteller zu betreiben. «Soweit hat das amerikanische Royalty-System die Weltindustrie unter Yankee-Tribut, -Kontrolle und -Abhängigkeit gebracht», ärgerte sich Eduard Bally über die globale Marktmacht. 53 Er tat dies wohl auch deshalb, weil Amerikafahrten und Kapitalkraft künftig keinen Wettbewerbsvorteil mehr bedeuteten. Mochte es sich nun um ein solventes Grossunternehmen oder einen unterfinanzierten Kleinbetrieb handeln, der Maschinenpark war derselbe. Die von der USMC orchestrierte Diffusion von Werkzeugmaschinen eliminierte auf dem schweizerischen Schuhmarkt die Technik als Wettbewerbsfaktor. Innovationen waren ab den 1920er-Jahren nur mehr auf dem Gebiet synthetischer Klebstoffe zu verzeichnen, die die Verbindung von Sohle und Schaft veränderten; statt der Näh-, Nagel- und Zwickkamen Klebverfahren und später auch Vulkanisierungsmethoden in Gebrauch. 54 Durch den Maschineneinsatz stieg die Qualität der Fabrikschuhe stetig an. Um die Jahrhundertwende anerkannten selbst die Schuhmacher, dass die fabrik- 111 3 Marktmacht gefertigten den handgefertigten Schuhen in nichts nachstanden. 55 Bally begann sein Schuhsortiment zu verfeinern und Halb- und Abendschuhe einkommensstarken Käuferschichten im Ausland zu unterbreiten. Neue Exportmärkte anzubahnen nahm meist Jahre in Anspruch und war mit kleineren, manchmal auch grösseren Rückschlägen verbunden. Im Zeitraum von 1884 bis 1906 und nach einer kurzen Unterbrechung wieder ab 1912 stand das Britische Königreich mit grossem Abstand an der Spitze der Schönenwerder Exporte. Zeitweilig soll sogar die Rede davon gewesen sein, dass die Damen der Londoner Gesellschaft sich genieren würden, ein anderes Produkt als das der Firma Bally zu tragen. 56 Auf dem zweiten Platz folgte Ägypten, das 1903 von Frankreich abgelöst wurde; 1910 stiessen auch die Exporte nach Deutschland in diese Dimensionen vor. 57 Die nun reichlich fliessenden Verkaufserlöse investierte Bally in den Ausbau der Fabrikorganisation. Als Standort blieben Schönenwerd und Umgebung ungemindert attraktiv — die 1856 errichte Eisenbahnstrecke Olten—Aarau, der Wasserlauf der Aare, der das firmeneigene Kraftwerk spies sowie die bis 1896 ausbleibende kantonale Besteuerung waren Investitionen jedweder Art zuträglich. Um die Nachfrage nach Schuhen anzukurbeln, strebte Bally — betriebswirtschaftlich gesprochen — Skalen- und Verbunds-Effekte an; die Kosten der Durchschnittsproduktion sanken. Wenngleich die HeimarbeiterInnen, einem saisonalen Konjunkturpuffer nicht unähnlich, bis in die Zwischenkriegszeit mit Aufträgen bedacht wurden, konzentrierten die Verantwortlichen die betriebliche Wertschöpfungskette zusehends in der Fabrik. 58 Dort wurden zeit- und arbeitsintensive Verrichtungen auseinanderdividiert, arbeitsteilig ausgerichtet und dem direkten Zugriff der Vorgesetzten unterstellt. Wer früher als ganzheitlicher Schuster arbeitete, betätigte sich nun als spezialisierter Schnittmustermacher, Zuschneider, Stanzer, Näher, Fräser, Zwicker, Nagler, Polierer, Fertigmacher oder Ausrüster. In keiner von Bally herausgegebenen Festschrift blieb der Knopflochstiefel unerwähnt, der im ausgehenden 19. Jahrhundert durch sieben Hände lief, um die Jahrhundertwende bereits 256 Personen in Anspruch nahm und an dessen Herstellung in den 1940er-Jahren sage und schreibe 650 ArbeiterInnen und Angestellte beteiligt waren. 59 Aller arbeitsteiligen Raffinesse zum Trotz hatte der Bally-Schuh weiterhin die drei Hauptabteilungen Schaftherstellung (Zuschneiden des Leders und Nähen des Schafts), Stanzerei (Herstellung der Absätze und Sohlenbestandteile) und Schusterei (Zusammen- 112 setzung von Schaft und Sohle) zu durchlaufen. Dass sich die Arbeitsteilung positiv auf die Gestaltung und Qualität des Alltagsprodukts auswirkte, braucht kaum erwähnt zu werden. Die manuelle Arbeit komplettierten bis zu 500 Werkzeugmaschinen. Von der Mechanisierung unbehelligt blieb nur der Zuschneider, dessen Fertigkeiten, die zur Beherrschung des kostspieligen und ungleichmässig beschaffenen Leders notwendig waren, nicht an Maschinen übertragen werden konnte. 60 Die schuhindustrielle Wertschöpfungskette manifestierte sich auch in der Betriebsbodenfläche und Bausubstanz, die «alle paar Jahre erweitert» wurden. 61 Im Stichjahr 1920 gab es in Schönenwerd ein oberes Werkareal, das die Werkschule, Mustermacherei, Zuschneiderei, Stanzerei, Näherei, Absatzüberzieherei, ein Lagerhaus, Verwaltungs- und Ökonomiegebäude beherbergte, und ein unteres Werkareal, in dem die Verwaltung und Finanzabteilung, Spedition, mechanische Schusterei, das chemische Laboratorium, technische Betriebe und das Kosthaus untergebracht waren. 62 Als Arbeitsmarkt zapften Eduard Bally und seine Söhne das solothurnische Niederamt und Gebiete des benachbarten Kantons Aargau an. Eine Strategie der dezentralen Produktion befolgend, gründeten sie bis 1912 Fabrikfilialen in Aarau, Niedergösgen, Gränichen, Schöftland, Oberkulm, Reitnau, Klingnau, Kirchleerau, Dottikon und Frick. 63 Abbildung 20 Bally ragte weit über das organisch gewachsene Fabrikareal in Schönenwerd hinaus. Einer Politik der dezentralen Produktion verpflichtet, wurden Fabrikfilialen in Schöftland, Gränichen, Gösgen, Dottikon und weiteren Gemeinden unterhalten. 113 3 Marktmacht Handlungsleitend war die Furcht vor der «Vermassung» und «Kasernierung» der Arbeiterschaft in Schönenwerd sowie die Sorge um finanzielle Belastungen in Zeiten des konjunkturellen Abschwungs. Mehr als 5000 Einwohner wies keines dieser auf den sprichwörtlich grünen Wiesen hochgezogenen Fabrikdörfer auf. 1925 standen ArbeiterInnen und Angestellte aus über 100 Gemeinden in Lohn und Brot der Schuhfabriken. 64 Besonderen Wert legte Bally auf den Umstand, dass das Personal in firmeneigenen, mit Pflanzland ausgestatteten Siedlungen wohnhaft sei. 65 Nicht selten bekleideten Angestellte mit freisinnigdemokratischem Parteibuch politische Ämter und stellten dadurch sicher, dass die Interessen der Schuhfabrik mit denjenigen der Kommune deckungsgleich waren. 66 In unternehmenseigenen Lehrlingswerkstätten und Werkschulen konnten sich die Jugendlichen zu ArbeiterInnen ausbilden lassen. Der Frauenanteil schwankte bei Bally im Zeitraum von 1879 bis 1914 zwischen 48,1 und 57,8 Prozent. 67 In den 1930er-Jahren lag diese Quote dann konstant zwischen 44 und 46 Prozent, ehe sie im Zweiten Weltkrieg auf 34 Prozent absank. Der Tiefpunkt wurde im Geschäftsjahr 1944/ 45 erreicht. 68 Im Niederamt war Bally zu einem Machtfaktor geworden, an dem weder in wirtschaftlichen noch in politischen Belangen vorbeizukommen war. Die im Lauf der Zeit erzielten Produktivitätsgewinne wurden den Ballyanern nicht in Form aufgebesserter Löhne und Saläre, sondern als betriebliche Wohlfahrt zuteil. Die grosszügig dotierte Ersparniskasse, die betriebliche Kranken-, Alters-, Angehörigen- und Wohnungsfürsorge — die bauliche Massnahmen (Kost- und Klubhäuser) 69 und sogar eine Parkanlage umfasste — stellte Bally in den Dienst der Stammpersonalpflege. 70 Eine patriarchalische Grundierung lässt sich hierbei nicht in Abrede stellen. Die Kehrseite dieser als «Byzantinismus» 71 oder «Fürsorge- und Zulagenduselei» 72 verrufenen Einrichtungen war, dass das Personal bei Fragen der Beschäftigungs-, Wohlfahrts- oder Kommunalpolitik nur unzureichend angehört wurde. Im Gegenteil: «Jahrelang führten die sogenannten Dorfpäpste im Einzugsgebiet von Schönenwerd die Arbeiter zum Wahllokal, nachdem sie ihnen zuvor den freisinnigen Stimmzettel in die Hand gedrückt hatten.» 73 Gegen jede Form der gewerkschaftlichen Formierung ging Bally rigoros vor: Als sich die schlecht bezahlten Handschuster im Jahr 1894 mit drei entlassenen Kollegen solidarisierten oder 1907 zugunsten eines freigestellten Zwickers und Arbeitervertreters einen breit 114 abgestützten Abwehrstreik organisierten, 74 reagierte Bally mit Aussperrungen und sogenannten schwarzen Listen. 1907 wurde den Belegschaften von Aarau, Schönenwerd und Gösgen in toto gekündigt. 75 Neuausrichtung nach dem Krieg Allen Arbeitskonflikten zum Trotz trieben Eduard Bally und seine Söhne die Mechanisierung und Arbeitsteilung konsequent voran. Bally mauserte sich zum führenden Unternehmen der schweizerischen Schuhwirtschaft das allein 1913 3,8 Millionen Paar Schuhe herstellte. 76 Am Vorabend des Ersten Weltkriegs sinnierten die Verantwortlichen über die optimale Unternehmensgrösse und die Gewichtung von Binnen- und Weltmarkt: «Soll sich die Firma Bally noch vergrössern? Nach dem Grundsatze: Stillstand ist Rückgang! Ja, doch soll auf alle Fälle von einer solchen in der Schweiz abgesehen werden, da sich hier schon längst die engen Zollschranken hindernd fühlbar machen. Also auswärts! » 77 Weniger der für Bally ausserordentlich wichtige Umschlagplatz und Absatzmarkt London, als der Zollprotektionismus, der in Zentraleuropa seit den 1880er-Jahren zunahm, war der Treiber der Multinationalisierung. Es begann sich der «Grundgedanken» durchzusetzen, dass Schönenwerd auf der einen Seite den schweizerischen Schuhmarkt bedienen und auf der anderen Seite Exportaufträge abdecken wollte, die an Gestaltung und Fertigung höchste Ansprüche stellten. 78 Im Ausland hielt man nach möglichen Fabrikübernahmen oder -gründungen Ausschau, um dort Spezialserien herzustellen, die sich von der Schweiz aus Zoll- oder Preisgründen nicht exportieren liessen. 1913 nahmen die Verantwortlichen zu einer in Lyon domizilierten und nach seinem Eigentümer Camsat benannten Schuhfabrik Kontakt auf, im darauffolgenden Jahr fiel diese zum Schönenwerder Besitz. Dass im Historischen Archiv vergleichsweise viele Unterlagen zu den Auslandsmärkten vorhanden sind, lässt sich damit erklären, dass die Verantwortlichen das Exportgeschäft als Gradmesser für den unternehmerischen Erfolg betrachteten. 79 Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs durchkreuzte die Multinationalisierungs-Bestrebungen. Ohne auf die kriegswirtschaftlichen Vorkommnisse und die damit einhergehenden betrieblichen Anpassungen im Einzelnen eingehen zu können, 80 seien zwei konträre Trends festgehalten. Einerseits eröffnete der 115 3 Marktmacht Krieg auf den internationalen Märkten neue Wachstumschancen, da ausländische Schuhfabriken ihre Produktion von Zivilauf Militärschuhe umstellen mussten. Die «Konkurrenzferien» kamen dem neutralen Unternehmen sehr gelegen, eine veritable Kriegskonjunktur setzte ein. 81 Bis 1916 vermochte Bally die Produktionsziffern auf Vorkriegsniveau zu halten. Wenngleich die unternehmerische Planungssicherheit abhandenkam, verlief die Zusammenarbeit mit den Beamten der kriegswirtschaftlichen Überwachungsgesellschaften überraschend gut. Es ist zwar nicht möglich, Profite zu berechnen und kontextsensibel zu beurteilen, 82 die im Rahmen der Eidgenössischen Kriegsgewinnsteuer vorgenommene Selbstdeklaration und deren Berichtigung durch zwei Steuerkommissare lassen aber den Schluss zu, dass Bally beträchtliche Gewinne erwirtschaftete. 83 Andererseits setzte dem Schönenwerder Grossunternehmen das Geschehen am Binnenmarkt zu. 84 Die Schuhpreishausse, die sich ab Sommer 1917 manifestierte, machte die von materiellen Entbehrungen gebeutelte Bevölkerung argwöhnisch (siehe das Kapitel «Einblick», S. 9). Der Vorwurf des «Kriegswuchers» wurde laut, die rätselhaften Mechanismen des Schuhmarkts wurden weitherum diskutiert. In diesem Zusammenhang veröffentlichte Bally die 22 Seiten starke Broschüre Ursachen der Schuhteuerung, in der die Öffentlichkeit über kriegsbedingte Preisanstiege auf dem Rohledermarkt und Aufschläge in den Transportauslagen aufgeklärt wurde. Entsprechend dem Untertitel Leichtfassliche Darstellung wurden die marktrelevanten Zusammenhänge als grafische Schlachtvieh-Diagramme und Einfranken-Balken dargebracht. Nach Produzent, Grossist und Detailhändler aufgeschlüsselte Kostenstellen und Gewinnmargen und anderes mehr sind in dieser Broschüre versammelt. Wiedergegeben wird auf der folgenden Seite ein Auszug, der den marktgenerierten Schuhpreis in seinen einzelnen Bestandteilen zeigt. Zuallererst sticht ins Auge, dass sich das Preisniveau binnen vier Jahren nahezu verdoppelte. Als wesentliche Ursache hob Bally die stark angestiegenen Auslagen für «Material, Zutaten, Spesen» hervor. Die verlorenen ausländischen Beschaffungsmärkte machten dem Schönenwerder Unternehmen tatsächlich zu schaffen. Wann immer eine der seltenen Lederlieferungen in der Schweiz eintraf, liess die Firmenleitung die Eisenbahnwaggons auf einer Fotografie verewigen. 116 Abbildung 22 (unten) Infolge der kriegswirtschaftlichen Blockaden und Exportverbote geriet der Welthandel ins Stocken. Wenn, wie im Jahr 1915, eine Wagenladung deutsches Lackleder in Schönenwerd eintraf, war dies ein Erinnerungsfoto wert. Abbildung 21 (oben) 1917 rätselte die Schweizer Öffentlichkeit über die Ursachen der Schuhpreisteuerung. Um den Verdacht auszuräumen, dass Schuhfabriken von der Kriegskonjunktur profitierten, veröffentlichte Bally eine Broschüre, die Kostenstellen und Gewinnmargen offenlegte. 117 3 Marktmacht Weiter wurde in der Broschüre Wert auf den Umstand gelegt, dass das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage nach wie vor spiele — man beachte die gestrichelte Linie — und von den KonsumentInnen wie den Produzenten Abstriche verlange. Trotz dieser Beschwichtigungen in Wort und Bild erkannte der Bundesrat im Herbst 1917 Handlungsbedarf. Unter Leitung des Volkswirtschaftsdepartements wurde ein strapazierfähiger Volksschuh entwickelt, an dessen Herstellung sich alle massgeblichen Schuhfabriken paritätisch zu beteiligen hatten. 85 Wie eine amtliche Erhebung zutage förderte, wies Bally im Frühjahrsquartal 1917 eine durchschnittliche Tagesproduktion von 12 542 Schuhen auf, auf vierstellige Produktionsziffern kamen die Fabriken Walder-Appenzeller & Söhne (2197), Strub, Glutz & Co AG (2000), Schuhfabrik Frauenfeld (1100), Hug & Co (1035) sowie die Schuhfabrik Kreuzlingen AG ( 1000). 86 Drei Kontingente à 100 000 Volksschuhe aus Spalt- oder Kalbsleder wurden bei der Volksschuh- Zentrale AG, einer von den Schuhgrossisten gegründeten Vertriebsgesellschaft, bestellt. Im Februar 1918 wurden die ersten Exemplare ausgeliefert, blieben in den 900 Verkaufsstellen aber häufig liegen. Mit der operativen Führung der Volksschuh-Zentrale war das Schönenwerder Unternehmen alles andere als zufrieden. In seinen persönlichen Aufzeichnungen hielt Eduard Bally dazu fest: «Aus dem Umstand, dass sich die Volksschuhe nicht verkaufen, geht hervor, dass sich der Bund eben nicht zur Führung einer Industrie eignet, denn in diesem Falle haben ihm doch die Industriellen ihre Erfahrungen zur Verfügung gestellt und die Sache redlich unterstützt.» 87 Das Volksschuh-Fiasko hatte für Bally ein Nachspiel. Der Bundesrat war der Ansicht, dass der Branchenprimus seiner aus der Marktmacht erwachsenen Verantwortung zu wenig nachgekommen sei. Aus diesem Grund nahm Edmund Schulthess, Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartements, Schönenwerd in die Pflicht. Er forderte im Sommer 1919 eine Abgeltung der hohen Gewinne 88 und legte sein Veto gegen die Dividendenpolitik ein, die Bally seinen Aktionären in Aussicht gestellt hatte. 89 Einem Druckmittel gleich nutzte der Magistrat die Bewilligungspflicht des Zutritts zum Weltmarkt: «Was speziell die Ausfuhrsperre anbelange, so werde diese seinerzeit, d. h. sobald die Schuhindustrie den bestimmten Willen hinsichtlich des von ihr verlangten Entgegenkommens gezeigt hat, aufgehoben werden.» 90 Die politische Linke feierte das unorthodoxe Ein- 118 greifen des Bundesrats, noch Jahre später erinnerte die Rote Revue an die machtvoll in den Markt eingreifende öffentliche Hand: «Schulthess organisierte die Kriegswirtschaft, schränkte die Freiheit des Unternehmers auf ein Mindestmass ein und vereinigte schliesslich alle wirtschaftlichen Fäden in seiner Hand.» 91 Am Ende verständigten sich Bally und weitere Schuhfabriken mit dem Bund auf die Herstellung einer Serie von gleichermassen hochwertigen wie preiswerten Schuhen für «Herrn und Frau Schweizer». Von der 700 000 Paare umfassenden Serie stemmte Bally den Löwenanteil von 400 000 Stück. Ernüchternd verlief auch der Eintritt in die Friedenswirtschaft, brachte diese doch erst einmal eine schwere «Nachkriegskrise» hervor. Die Versorgung mit Rohstoffen blieb suboptimal, die Transport- und Versicherungsspesen verharrten auf hohem Niveau und in Europa wurden 2000 Kilometer neue Zollgrenzen errichtet. 92 Bis 1921 stand die Wiederaufnahme der Geschäftsbeziehungen mit Händlern aus dem In- und Ausland im Zeichen der Ungewissheit und des Zuwartens. Aufgrund der ausbleibenden Aufträge und der im Gefolge von Besteuerung, Sozialgesetzgebung und Achtstundentag gestiegenen Fixkosten schloss Bally die Aarauer Fabrikfiliale und baute — über drei Jahre kumuliert — 2660 ArbeiterInnen und Angestellte ab. 93 «Die Verhältnisse des Krieges zeigten», so resümierte Eduard Bally, «wie stark das Schwergewicht der Führung eines Grossbetriebes in den eigentlichen, commerziellen Problemen liegt. […] Nur eine grosszügige commerzielle Leitung kann es fertig bringen, dauernd der Schweiz. Industrie, speziell der Exportindustrie, den gebührenden Platz im Weltmarkt zu sichern.» 94 Der 1913 gefasste Entschluss zur Multinationalisierung der Schuhfabrik schien zwar noch immer alternativlos, zum Status quo ante konnten und wollten die Schönenwerder Verantwortungsträger gleichwohl nicht zurückkehren. Ein Portfolio lose verbundener, im In- und Ausland domizilierter Unternehmungen war kein belastbares Geschäftsmodell. Mitunter gingen aus kriegsgeschädigten Ländern Einladungen zur Errichtung von Fabrikations- und Verkaufsgesellschaften ein — die Generierung von Arbeitsplätzen sollten Bally mit einmaligen Vergünstigungen abgegolten werden. 95 Die Geschäftsleitung dachte über einen neuen Marktauftritt nach. Diesen hiessen die Aktionäre dann am 17. Oktober 1921 gut und wandelten die C. F. Bally AG in einen Schuhkonzern mit gleichnamiger Holdinggesellschaft und die Schuhfabriken in ein Tochterunternehmen um. Im Wissen, dass die Reorganisation 119 3 Marktmacht langwierige Evaluationen, Verhandlungen und Beschlussfassungen erfordern würde, wurde sie auf mehrere Jahre verteilt. Von den in den frühen 1920er-Jahren gegründeten oder gerade in Planung begriffenen Tochterunternehmen 96 seien genannt: — die Gerbereien Curtiembres la Federal SA, Argentinien (1919) und SA Cortume Carioca, Brasilien (1925); — die Schuhfabriken Bally-Schuhfabriken AG, Schweiz (1921), Etablissement Bally-Camsat SA, Frankreich (1914), The C. F. Bally Shoe Factory (in Association with Cuthberts) Ltd., Südafrika (1921), Bally’s Shoe Factories (Norwich) Ltd., Grossbritannien (1923) und Bally Wiener Schuhfabrik AG, Österreich (1924); — die Verkaufsgesellschaften Bally-Schuhgesellschaft mbH, Deutschland (1906), Bally’s Aarau Shoe Co Ltd., Grossbritannien (1908), Société Commerciale des Chaussures Bally-Camsat SA, Frankreich (1917), Société Commerciale des Chaussures Bally SA, Belgien (1921), Bally (Company) Inc., USA (1923) und Bally-Schuh-Verkauf AG, Schweiz (1926); — sowie die Detailorganisationen London Shoe & Co., Grossbritannien (1892), Egyptian Shoe Co., Ägypten (1911), Société Commerciale des Chaussures Bally-Camsat, Frankreich (1917), Arola-Schuh AG, Schweiz (1926), Ballysko A/ S, Norwegen (1930) und die Bally-Schuhverkaufs-GmbH, Österreich (1933). Von den Tochterunternehmen, die administrativ-kommerzielle Dienstleistungen erbrachten, seien neben den Immobiliengesellschaften noch die Agor AG, Schweiz (1933) erwähnt, die das werbetechnische Erscheinungsbild des Bally- Konzerns verantwortete. Unter dem Dach der Holding war somit die gesamte schuhwirtschaftliche Wertschöpfungskette versammelt. 1924 wurde der Sitz der Holdinggesellschaft nach Zürich verlegt, wofür weniger die steuerlichen Begünstigungen als die Vorteile der Limmatstadt als bedeutsamer Handels-, Banken- und Hochschulplatz den Ausschlag gaben. 97 Da mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Angst vor einer deutschen Invasion wuchs und Erschwernisse in der Kommunikation mit den ausländischen, vorwiegend im Hoheitsgebiet der Alliierten gelegenen Tochtergesellschaften befürchtet wurden, wurde der Geschäftssitz im November 1939 nach Lausanne verlegt. 120 Indirekt lässt sich das Ausmass des Marktauftritts auch an der Entwicklung des Eigenkapitals ablesen. Die bei der Gründung der Aktiengesellschaft C. F. Bally 1907 einbezahlten 8 Millionen Schweizer Franken wurden im Zug des Ersten Weltkriegs sukzessive auf 12 (1914), 18 (1917) und 24 Millionen (1919) angehoben. Zuhanden der Konzerngründung wurde einer Erhöhung auf 40 Millionen zugestimmt. Die Umbaupläne genossen also Kredit, verursachten aber auch Kosten: In der Erfolgsrechnung 1921/ 22 wies Bally einen Verlust von gut 2,1 Millionen aus. 98 Unter dem Eindruck der Reorganisation blickte Eduard Bally, der sich als Ehrenpräsident und Delegierter des Verwaltungsrats in die zweite Reihe zurückgezogen hatte, mit einer gehörigen Portion Skepsis in die Zukunft: «Das Jahr 1922 ist wohl für die Ballyfirmen das bedeutungsvollste, denn das nötigte die Firma zu einer completen Neu-Organisation, um sie aus den von den vorangehenden Krisenjahren veranlassten Verlusten zu heben.» 99 Übersetzt in die Sprache der Betriebswirtschaftslehre liesse sich von «Pfadschöpfung» sprechen, das heisst einer Phase, in der betriebliche Pfadabhängigkeiten nicht routinehaft exekutiert, sondern planvoll aufgebrochen werden. Werner Plumpe ruft dazu auf, ebendiese Phase in den unternehmenshistorischen Blick zu nehmen, stellt sie doch einen individuellen und situativen Prozess dar, der in manchen Fällen gelingen, in vielen aber auch fehlschlagen kann. 100 Für ein Buch, das an angewandtem Marktwissen interessiert ist, liesse sich ergänzen, dass in diesen Umbruchsphasen Marktmodelle auf den Prüfstand gestellt und gegebenenfalls angepasst werden. Es stellt sich die Frage: Von welchen Konzepten und Visionen liessen sich die Schönenwerder Verantwortungsträger 1921/ 22 leiten? Und wer war die treibende Kraft hinter der Reorganisation des Schuhkonzerns? Vertikale Organisation Office Management Gemessen am Bruttoinlandprodukt stiegen die USA im Jahr 1916 zur führenden Wirtschaftsmacht der Welt auf. Die auf Hochtouren laufende Rüstungsgüterproduktion, die ab 1917 zur Unterstützung der europäischen Alliierten millionenfach entsandten Soldaten sowie der Aufstieg zum Hauptgläubiger der 121 3 Marktmacht Weltwirtschaft führten den Zeitgenossen das schier unerschöpfliche Wirtschaftspotenzial der Vereinigten Staaten von Amerika vor Augen. 101 Eine (Teil-) Erklärung für die organisatorischen Grundlagen des US-Siegeszuges reichten William H. Leffingwell, Lee Galloway und weitere Mitstreiter in den 1920er- Jahren nach. 102 Die unabhängig voneinander unter dem Oberbegriff Office Management publizierten und mehrfach aktualisierten Kompendien erschienen vordergründig als eine Weiterführung eines systematisierten Management- Ansatzes, namentlich der von Frederick W. Taylor propagierten Effizienzsteigerungsstrategien. 103 Lag der Fokus der vom Ingenieur und Arbeitswissenschaftler verfassten Studie The Principles of Scientific Management (1911) noch auf der Werkstatt («factory floor »), gingen Leffingwell und Galloway zu den Büroräumlichkeiten («office floor ») über. Anstelle des manuell tätigen beziehungsweise eine Maschine bedienenden Arbeiters («blue collar») rückte der Angestellte (white collar), der Schreibarbeit verrichtete und Budgets erstellte, ins Zentrum der Reformbemühungen. In der einschlägigen Literatur werden eine Vielzahl von Bürotätigkeiten herausgegriffen, durchleuchtet, zerlegt und nach Massgabe der Effizienz neu zusammengesetzt. Die Identifizierung und Normierung des idealen Arbeiters («first-class man») band viele Ressourcen. Der wissenschaftlich abgesicherte «one best way» sollte jenen Praktiken den Garaus machen, die sich in den Büroalltag eingeschlichen und unbedacht zur Routine verfestigt hatten. Auch versprach die Einführung mechanischer Rechen- und Schreibmaschinen viele repetitive Verrichtungen zu beschleunigen. Damit versuchten die Taylor-Schüler den an die Bürokratie gerichteten Vorwurf der unproduktiven Ressourcenverschwendung zu entkräften. Begeisterungsstürme vermochten vereinzelte Büro-Rationalisierungen allerdings keine zu entfachen. Das Faszinierende am affirmativ beschworenen Office Management lag in der Verknüpfung mit Normstrategien für das Middle Management und unternehmerischen Organisationstheorien. Die Rationalisierungs-Apologeten riefen ein vertikal integriertes und zentralistisch strukturiertes Grossunternehmen aus, das als eine Maschine zu denken sei: «If we picture modern business as a huge machine, designed to transform raw materials into finished products or use values, through a series of processes, we see that there is a cycle, or a number of cycles in which one operation follows another, and that their revolution is a continuous process.» 104 Das Office wurde zur 122 Kommandobrücke dieser Maschine aufgewertet, darin sollten die Operationen geplant und alle Ausführungen überwacht werden. Vom strukturellen Standpunkt aus betrachtet, seien vor allem kurze Informations- und Entscheidungswege einem maschinengleichen Grossunternehmen zuträglich. Vom personalpolitischen Standpunkt aus gelte es, eine Handvoll ingenieurwissenschaftlich gebildeter Manager heranzuziehen, die — dank überlegener Planungs-, Koordinations- und Kontrollkompetenzen — den Wirkungsgrad der unternehmensintern zirkulierenden Material-, Personal- und Finanzströme erhöhen könnten. Gemeinhin war von der produktivitätserhöhenden «clerical function» der Manager die Rede. 105 Anders ausgedrückt machte das Office Management glaubhaft, dass Grossunternehmen Marktmacht erlangen, mehr noch: den Markt als effiziente Institution der Ressourcenallokation und -distribution zu überflügeln vermögen. Wenngleich der Markt bei Galloway nicht explizit angesprochen wurde, bildete die erratische und ineffiziente Umwelt die Kontrastfolie, vor der sich das Grossunternehmen positiv abhob. Auf den Markt kam Leffingwell nur zu sprechen, als er auf die evolutionäre Entwicklung des Office einging und einen Übergang vom «seller’s market» zum «competitive market» festmachte. 106 Für die Lehrbücher des Office Management ist zudem charakteristisch, dass ein linearer Zusammenhang zwischen Unternehmensgrösse und -effizienz behauptet wurde. Dem strategische Planung und Kontrolle verantwortenden Office sollten alle Beschaffungs-, Produktions- und Distributionseinheiten unterstellt werden. Je grösser die Unternehmung, desto zeitnaher könnten Aufträge erledigt, desto billiger Waren hergestellt, desto geringer die administrativen und buchhalterischen Fehler gehalten werden. «We may call this the economy of mass control», schlug Galloway vor. 107 Dem von Ingrid Jeacle und Lee Parker gemachten Befund, dass «the office is revealed as historically being both the location and facilitator of corporate strategy. […] Indeed, the office has arguably served as a stage for the playing out of the strategic drama», ist vollends zuzustimmen. 108 So weit die Theorie. Wie stand es um deren Übertragung in die Betriebspraxis respektive Überführung in die Schweiz? 109 Einen nicht unwesentlichen Anteil an diesem doppelten Transfer hatte die 1920 gebildete Swiss Mission, 110 die semantisch an die diplomatischen Bittstellungen um dringlich benötigte Lebensmitteleinfuhren während des Ersten Weltkriegs erinnerte. 225 Teilneh- 123 3 Marktmacht merInnen begaben sich auf eine mehrmonatige, von einem privaten Initiativkomitee in Bern orchestrierte Expeditionsreise. Der «wirtschaftliche Riese» Amerika sollte erneut Hilfe für die diffizile ökonomische Gegenwart bieten und als Blaupause für künftige Planungen herhalten. 111 Gruppenweise wurden von New York bis Minneapolis quer über das Land verteilte Institutionen, Fabriken und Städte besucht. Welcher individuellen Mission die Amerika-Fahrer konkret verpflichtet waren, lag oftmals im Verborgenen; der Teilnehmer Siegfried Pfyffer aus Altishofen bekannte: «Wenn nicht viel vom Erfolg ans Tageslicht kam, so liegt dies in der Natur der Sache, denn jeder Kaufmann behält das Ergebnis seiner Bemühungen und Beobachtungen für sich und hängt es nicht an die grosse Glocke.» 112 Was Oscar Bally und andere Bally-Mitarbeiter der mittleren Kaderstufe auf diesen Missionen gesehen und gelernt haben, ist leider nicht bekannt. 113 Umso bemerkenswerter ist die grosse Resonanz, die die Betriebsbesichtigungen hervorriefen — vorab von den modernen Offices waren die Teilnehmer angetan. Stellvertretend sei Karl Sender (1882—1941) genannt, der seine Beobachtungen der Broschüre Amerikanische Bureau-Organisation: Reisebericht I. Swiss Mission anvertraute und diese in der Schweiz in Umlauf bringen wollte. 114 Der Jurist stellte auf praktischem wie theoretischem Gebiet Handlungsbedarf fest. Ausgiebig zitierte Sender aus Galloways und Leffingwells Schriften. 115 In Übereinstimmung mit den Promotoren des Office Management redete er einem breiten Verständnis von «Bureau-Organisation» das Wort: «Nicht die Möbel oder die Maschinen sind die Organisation. Die Organisation sind die geistige Handhabung und Einteilung der Arbeit und der Arbeitenden.» 116 Weiter versuchte Sender die Maschinenanalogie produktiv zu machen, der zufolge «der gesamte Bürokomplex ein bis in alle Details ausgearbeiteter lebender Plan ist, der wie eine Maschine funktioniert». 117 Die Utopie von der autonomen und über Marktmacht gebietenden Unternehmung setzte also zum Sprung über den Atlantik an. Die ersten Rückmeldungen waren wohlwollend. Über Organisationsfragen soll in der Schweiz zu Beginn der 1920er-Jahre landauf, landab debattiert worden sein. Zunehmend dämmerte Sender und seinen Mitstreitern, dass der Transfer nicht nur Chancen, sondern auch Gefahren beinhaltete und der Begleitung und Deutung bedurfte. Über «die amerikanische Organisation aufzuklären und vor dem gefährlichen Nachäffen zu warnen», dies konnte nur 124 der Zusammenschluss von ausgewiesenen Experten sicherstellen. 118 Dieser Aufgabe nahm sich die 1920 gegründete Gesellschaft der Schweizerfreunde der USA, kurz S.F.U.S.A., an. Zu den Gründungs- und langjährigen Vorstandsmitgliedern zählten Karl Sender und Iwan Bally. Breitenwirkung erlangte die S.F.U.S.A. durch die Publikation des Bulletins Swiss-American Review und die Ausrichtung von Vortragsreihen. Das Office Management blieb unter den S.F.U.S.A.-Mitgliedern in den 1920er-Jahren ein zentrales Thema, exemplarisch seien der von Sender im Anschluss an die Monatsversammlung vom 14. Mai 1924 gehaltene Vortrag «Die Möglichkeit der Vermittlung amerikanischer Organisations-Ideen durch die S.F.U.S.A.» 119 oder der im Folgejahr angebotene Vortragszyklus über moderne Organisation 120 erwähnt. Im Lauf der Zeit setzte ein Prozess der Professionalisierung ein, die S.F.U.S.A. wurde in der Popularisierung der betrieblichen Management- und Organisationslehre durch halbstaatliche Vereine, Agenturen und Institute unterstützt. Entscheidend war vor allem das 1929 gegründete Betriebswissenschaftliche Institut (BWI), das durch die Anbindung an die ETH als eigenständig und ernstzunehmend anerkannt wurde und die Hälfte der Kosten auf den Staat überwälzen konnte. 121 Das Wissen über organisatorische Praktiken wuchs in der Zwischenkriegszeit und wurde facettenreicher. Im deutschsprachigen Blätterwald begannen Fachzeitschriften wie Das System: Zeitschrift für Organisation und moderne Betriebsführung, Organisation — Betrieb — Büro oder Organisation, Büro + Verkauf: Fachmagazin für kaufmännische Führungskräfte die neuesten Modelle und Normstrategien einer kritischen Diskussion zu unterziehen. Es würde über die in diesem Buch gestellte Frage hinausführen, das Eigen- und Nachleben der Office Management-Lehre von Galloway und Leffingwell darzulegen. Genügen muss der Nachweis, dass der doppelte Transfer erfolgte und deren Denkfiguren in die unternehmerische Praxis eindrangen, ja als Selbstverständlichkeit angesehen wurden. 122 In diesem Zusammenhang ist der Aufsatz «Aufgaben eines Organisationsbüros» bemerkenswert, der 1945 in der vom BWI herausgegebenen Hauszeitschrift Industrielle Organisation erschien. Um einen Grossbetrieb am Laufen halten zu können, empfehle sich der Unterhalt von Abteilungen, die sich ausschliesslich der betrieblichen Koordinationsaufgabe widmen. Die «Bearbeitung der meist komplizierten Probleme der Markt- und Wirtschaftspolitik» wurde als eine entscheidende, vom Büro wahrzunehmende Aufgabe 125 3 Marktmacht gelistet. 123 Demnach war das Büro in schweizerischen Grossunternehmen tatsächlich zum abstrakten Planungssystem wie zur konkreten Bühne marktbezogener Planungspraktiken avanciert. Mit guten Gründen warnt die historiografische Literatur zur Amerikanisierung vor der Annahme, dass Transfers — einerlei, ob es sich nun um Werte, Verhaltensweisen, Institutionen, Technologien, Organisationsmuster oder Symbole gehandelt haben mochte — allumfassend und ungebrochen erfolgt seien. 124 Vielmehr gilt es, den empirischen Nachweis zu erbringen, in welcher Weise diese eigensinnigen Aneignungen vonstattengingen. Ziel der nachfolgenden Ausführungen ist es, bei der C. F. Bally AG die Eigenheiten und Bedingtheiten des Office Management herauszuarbeiten. Hierfür muss man ins Jahr 1913 zurückgehen, als in Schönenwerd eine vierköpfige Delegation gebildet und in die USA entsandt wurde. Diese sollte sich von Frederick W. Taylor und Hugo Münsterberg persönlich in die Prinzipien des Scientific Management einführen lassen. 125 In lakonischer Kürze rapportierte der Delegationsleiter Iwan Bally die gesammelten Erkenntnisse; im Protokoll der Direktionssitzung vom 21. November 1913 steht geschrieben: «Herr Iwan referiert über seine Reise nach den Staaten, die er zwecks Studium der Wissenschaftlichen Betriebsleitung unternommen hat (Taylor System). Auf techn. Gebiete glaubt er, können wir von den Yankees nicht mehr viel lernen, wohl aber auf dem Gebiete der Organisation & der Leitung.» 126 Aus ebendiesem kurzen Protokollauszug leiteten schon Rudolf Jaun die Einzelarbeitsplatz-Rationalisierungen in der Näherei und Schusterei und Ruedi Rüegsegger die Suterschen Versuchsreihen zur Psychorationalisierung her. 127 Auch wird eine Verbindung zu der am 30. August 1915 gegründeten und für ein knappes Jahr als tayloristischen Musterbetrieb betriebenen Kriegsuniformenfabrik hergestellt. 128 Mögen diese Bezüge auch sachlich korrekt sein, erschöpfend sind sie nicht. Weitere Transfers scheinen mir diskussionswürdig, lautete Iwan Ballys Leitsatz doch «Prüfe alles und behalte das Beste.» 129 Im Ersten Weltkrieg sahen sich die Schönenwerder Verantwortlichen mit fundamentalen Neuerungen hinsichtlich der staatlichen Ein- und Ausfuhrüberwachungen konfrontiert. Indem die Beschaffungs- und Absatzmärkte in Unordnung gerieten, verschob sich der Akzent zusehends von der Organisation auf die Leitung. In den Worten Max Ballys nimmt sich das wie folgt aus: «Der 126 Einfluss der Kriegsjahre übte vielleicht auf die Leitung der Firma die grösste Wirkung aus. Ausserordentliche Zeiten bringen ausserordentliche Massnahmen! » 130 Die Details der «ausserordentlichen Massnahmen» beleuchtete der nachmalige Holdingpräsident nicht. Auch ein Strategiepapier sucht man in den Beständen des Historischen Archivs in Schönenwerd vergebens. Einen Eindruck von den intensiv diskutierten Grundlagen, Denkfiguren und Planspielen erhält man erstmals im Juni 1921. Sieben Punkte liessen eine Umwandlung in eine Holdingstruktur als vorteilhaft erscheinen. Neben den klassischen und in der wirtschaftshistorischen Literatur hinlänglich dokumentierten Gründen — zu nennen sind die Erleichterung von Unternehmensbeteiligungen, die Verstärkung der internationalen Präsenz, die Finanzierung des internationalen Wachstums, die Konzentration von Stimmrechten, die Vereinfachung der Besitzstrukturen oder die Optimierung der Steuer- und Dividendenpolitik — berührt vor allem ein Punkt das Kernanliegen des Office Management: Eine Holdingstruktur bringe «Vorteile für die allgemeine Oberleitung und Kontrolle eines solch weitverzweigten Konzerns mit stark internationalem Charakter». 131 Apropos Holding: In den 1920er-Jahren erfreute sich die Gesellschaftsform grosser Beliebtheit und begann «das Bild der ganzen schweizerischen Volkswirtschaft [zu] bestimmen». 132 Wies das Handelsregister bis 1920 insgesamt 49 Gesellschaften aus, kamen in der folgenden Dekade 79 neue Holdinggesellschaften hinzu. 133 Der grosse Aktualitätsbezug gehört denn auch zu den Vorzügen von Jakob Toggweilers 1926 publizierter Dissertation zum Wesen und Wirken der Holding Company in der Schweiz. Nach Überzeugung des Autors waren die schweizerischen Holdinggesellschaften die gesetzeskonforme Ausgestaltung der «vertikalen Organisation», 134 wie sie in den USA ersonnen und mit einigem Erfolg betrieben worden waren: «Eine Holding Company, die alle kommerziellen Interessen einer Industrieorganisation zusammenfasst, ist gleichsam der Kern, von dem aus einheitliche Richtlinien erlassen werden können. Sie ist das Organ, das Richtung und Umfang der industriellen Expansion festsetzt.» 135 Weiter erleichtere sie die Angliederung von Verkaufsgesellschaften im In- und Ausland, erforsche die Marktverhältnisse, verfüge über die Sortimentspolitik und bestimme die Höhe der Produktionsmenge. In dieser Lesart war die Holdinggesellschaft die Aufwertung des Office zur eigenständigen Unternehmung. Während in den rohstoffreichen USA eher produktionstechni- 127 3 Marktmacht sche Gründe den Ausschlag gaben, seien Holding-Gründungen in der Schweiz primär um der Absatzschaffung und -sicherung willen vorgenommen worden. 136 Im Verlauf der vergleichend angelegten Abhandlung ging Toggweiler sodann auf spezifische Holdinggesellschaften ein. Der C. F. Bally AG attestierte er, «durchaus zentralistisch» zu sein: «Jede bedeutendere Verfügung wird von den Organen der Muttergesellschaft getroffen.» 137 Als Motiv der Reorganisation benannte Toggweiler nicht zuletzt eine «Vereinfachung des Geschäftsverkehrs», so zum Beispiel die Gewinnung eines konzentrierten Überblicks über den Markt. 138 Die Akteure des Office Management sind in den bisherigen Ausführungen zu den theoretisch-konzeptionellen und organisatorisch-rechtlichen Aspekten zu kurz gekommen. Um die handlungsleitenden Modelle und routinehaften Tätigkeiten der Manager einfangen zu können, sollen sie im Folgenden genauer betrachtet werden. Eines vorneweg: Dass bis dato vorwiegend von Carl Franz, Eduard, Iwan und Max Bally die Rede war, heisst nicht, dass bei Bally die Gründerdynastie die Kommandobrücke des Unternehmens vollumfänglich vereinnahmt hätte. 139 Zwei Relativierungen sind zu nennen: Einerseits wurden die zentralen Positionen und Tätigkeitsfelder nach meritokratischen Gesichtspunkten vergeben. Persönliche Befähigung, formale Qualifikation und langjährige Bewährung in untergeordneten Funktionen waren erforderlich, um in der Hierarchie der Schuhfabriken aufzusteigen. Unter den Zurückgewiesenen befand sich auch Eduard Jr., der Sohn von Eduard Bally, der «trotz grösster Mühe, Fleiss & Anstrengungen die nötigen Qualifikationen nicht erreichen konnte» und hierunter zeitlebens litt. 140 Andererseits hatte das Unternehmenswachstum, das an der Jahrhundertwende seinen Anfang genommen hatte, das Reservoir an männlichen Nachkommen erschöpft. Speziell in der vierten Generation fehlte es an Söhnen, und auch die Töchter übernahmen keinen aktiven Part. Aus diesem Grund musste auf familienfremde Manager zurückgegriffen werden. 141 Seit der Gründung der Aktienkapitalgesellschaft im Jahr 1907 war es zudem Usus, einen Viertel der Aktien für «Geschäftsfreunde», sprich langjährige Lieferanten, Manager und Abnehmer zu reservieren. Mit der Aktienbeteiligung sollten diese symbolisch an das Grossunternehmen gebunden und wirtschaftlich am (Miss-)Erfolg beteiligt werden. 142 Im Ergebnis bildete sich bei Bally also eine «cohabitation» von Familienmitgliedern und Externen heraus. 143 128 Die «clerical function» übten in der Holdinggesellschaft allesamt familienfremde Manager — mit Namen Pierre Müller, Hermann R. Stirlin und Paul Real, in den 1940er-Jahren ersatzweise auch Marc Obussier und ergänzungsweise Hermann Saemann aus. 144 Die Manager verband — durchaus typisch für die privatwirtschaftliche Funktionselite der Schweiz 145 —, dass sie ein polytechnisches Hochschulstudium absolviert hatten. Die «hochschulgebildeten Herren» wurden unter Berücksichtigung von Eignung und Bedarf zu Büro- oder Betriebstechnikern ausgebildet. Nach Beendigung einer «Aspirantenzeit» wurden sie von einem «Paten» in die unternehmensspezifischen Gepflogenheiten und Praktiken eingeführt. 146 Wichtig zu sehen ist, dass sich in der Holdinggesellschaft eine ingenieurwissenschaftlich-technokratische Grundorientierung breitmachte. In Schönenwerd herrschte der Glaube an die Gestaltbarkeit des Grossunternehmens und des ihn umgebenden Markts. Mit Blick auf die schweizerische Volkswirtschaft wünschte sich Paul Real etwa einen «Oberingenieur, der das gesamte Wirtschaftsgeschehen übersieht und durch seine Tätigkeit zu einem harmoni- Abbildung 23 Das Gruppenbild der C. F. Bally AG Holdinggesellschaft entstand 1951 anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Firma. Vizepräsident Hermann R. Stirlin (hintere Reihe, 1. v. l.) mischte sich unter das Büropersonal. 129 3 Marktmacht schen Ganzen ausrundet». 147 Mit Alfred D. Chandler Jr. liesse sich von einer «new subspecies of economic man» sprechen, 148 bevorzugt man die Diktion von Gabriele Metzler und Dirk van Laak, handelte es sich um einem «neuen Typus von ‹system builders›», 149 der an die Schaltstellen des Schönenwerder Unternehmens gelangte. Zur zentralen Figur innerhalb der Holdingdirektion und personifizierten «visible hand» des gesamten Bally-Konzerns schwang sich Hermann R. Stirlin (1879—1963) auf. 150 Nach einem Maschinenbau-Studium an der ETH Zürich und ersten Berufsjahren in England und Südafrika entschied er 1908, seine Arbeitskraft in den Dienst des schweizerischen Branchenprimus zu stellen — nicht unwesentlich dürfte die Freundschaft mit Max Bally hierzu beigetragen haben. In den ersten Jahren fand Stirlin in der Schuhfabrik Dottikon sein Aufgabenfeld vor, 1913 gehörte er der vierköpfigen Delegation in die Vereinigten Staaten von Amerika an. Bei der Rückkehr stellte Iwan Bally der Direktion in Aussicht, dass angesichts der «durchgehenden Reorganisation», der sich die Bally-Unternehmungen in den kommenden Jahren unterziehen müssten, «die beiden Herren Angestellten, die die Aufgabe lösen sollen, dadurch in erster Linie heraufrücken werden». 151 Die Sprossen der Karriereleiter nahm Stirlin besonders flink und erreichte 1914 als erster familienfremder Manager den Rang eines Direktors mit beratender Stimme. Vom Militärdienst befreit, verantwortete er in den Kriegsjahren gemeinsam mit Karl Brüderlin, Adolf Flunser und Werner Ott das operative Tagesgeschäft. Als die Fero, eine im Rahmen der Kriegswirtschaft gegründete Zentralstelle für auswärtige Transporte, den Versuch unternahm, Stirlin abzuwerben, legte die Bally-Leitung ihr Veto ein. Hans Sulzer, dem Gesandten in Washington und bevollmächtigten Minister zur Sicherung von Lebensmittel- und Rohstoffzufuhren, 152 beschied sie, dass Schönenwerd «den besten Mann, denn dies ist der betreffende wirklich», nicht freiwillig hergeben werde. 153 In den folgenden Monaten machte sich Stirlin daran, Bally in einen zentralistischen Schuhkonzern zu verwandeln. Wenn er vor die Wahl zwischen Eigenfertigung und Marktbezug gestellt war, tendierte er im Zweifelsfall zur ersten Option. Er war die treibende Kraft hinter dem «gemeinsame[n] Marschieren von Fabrik und Detail». 154 Die Optimierung des konzerninternen Wertschöpfungsprozesses konnte nur gelingen, wenn ein eigener Absatzkanal 130 vorhanden war. «Es ist das Verdienst von Herrn Stirlin», so wurde seine Organisationsarbeit gelobt, «mit dieser Gründung die nötige Klarheit gefunden zu haben in der Abgrenzung der einzelnen Gesellschaften.» 155 Im Zug der Reorganisation stieg Stirlin zum Vorsitzenden der Delegation des Verwaltungsrats der Holdinggesellschaft auf. Mit der rechtlich-organisatorischen Neuausrichtung endete Stirlins Arbeit nicht, sie lief erst richtig an. In Übereinstimmung mit dem Office Management hatten er und seine handverlesenen Mitstreiter die Marktfähigkeit und die Marktsicherung des Bally-Konzerns zu gewährleisten. Die Herausforderung lag in der dualen Struktur, dem Eingebundensein in nationale wie internationale Beschaffungs- und Absatzmärkte: «Weitverzweigte Organisationen wie die unsrige können nur durch Persönlichkeiten geleitet werden, die wirklich Weltmarktluft atmeten. Bei ihnen laufen die wirtschaftlichen Fäden aus aller Welt zusammen und ermöglichen, die Geschehnisse des Weltmarktes zu beurteilen.» 156 Im Protokoll der Direktionssitzung vom 27. Januar 1939 ist exemplarisch zu lesen: «Herr Stirlin möchte ein Bild geben über das, was man bei längerem Aufenthalt drüben sehen kann durch Fühlung mit dem Markte, wie auch im allgemeinen.» 157 Mit dem «drüben» waren die USA gemeint, wo sich die Bally- Führung ein weiteres Mal Inspirationen organisatorischer beziehungsweise schuhspezifischer Art erhoffte. Gefragt war Stirlins Marktgespür vor allem bei Entscheidungen strategischen Ausmasses und in Fällen von konzerninternem Dissens. Er begab sich auf unzählige Reisen, um den weisungsgebundenen Bally-Managern die «Firmameinung», 158 oder anders ausgedrückt: den «Konzerngedanken» 159 einzuimpfen und das hiervon abweichende Marktverhalten zu korrigieren. 160 Festzuhalten ist, dass Stirlins Marktwissen personengebunden und intuitiv beschaffen war. Wie weit die Zentralisierung der Entscheidungsfindung bei Bally gediehen war, das registrierten auch Aussenstehende. In der Beobachtung akkurat, in der Tonalität rabiat, fiel die 1944 veröffentlichte Schrift Trusts in der Schweiz? Die schweizerische Politik im Schlepptau der Hochfinanz aus. Als Autor fungierte ein gewisser Pollux. Hinter dem Pseudonym, das erst 1953 gelüftet werden konnte, verbarg sich der Ingenieur und Kommunist Georges Bähler. 161 Dem Klappentext zufolge schrieb er gegen die Machtkonzentration 162 und deren gemeingefährliche Folgen für die Wirtschaft an: «Die Beherrschung der wichtigs- 131 3 Marktmacht ten Kommandoposten durch eine Gruppe finanzgewaltiger Familien verwandelt das sogenannte ‹freie Spiel der Kräfte› in eine Gaukelei.» 163 Damit stand die Schrift in der Tradition der Marionettennarrative, Dunkle-Mächte-Imaginationen und Verschwörungstheorien. 164 Ein besorgniserregendes Beispiel für Marktmacht erkannte Bähler in der C. F. Bally AG. Klarsichtig stellte er in seiner Argumentation rund um das Familienunternehmen auf Hermann R. Stirlin als den operativ tätigen Konzernlenker ab und zitierte aus dessen Rede von der Generalversammlung anno 1943. Beunruhigt zeigte sich Bähler vor allem über die Wortwahl zur Architektur des Schuhkonzerns: «‹Es sind alles Unternehmungen, die von ein bis zwei Personen übersehen und geleitet werden können.›» Diese Aussage setzte Bähler mit einem «übersteigerten Selbstgefühl» in eins, wie es in der «versunkene[n] Zeit der ‹gnädigen Herren und Obern›» gang und gäbe gewesen sei. 165 Zur Illustration des wahren Ausmasses der in den Händen einzelner Manager konzentrierten Marktmacht gab Bähler der Schrift eine Grafik mit der Überschrift «Zwei Grossmächte Solothurns: L. von Roll und Bally» bei. Während die Konzern-, Beteiligungs- und Tochtergesellschaften in Form von Kästchen visualisiert sind, nehmen die Familien, Manager und Politiker die Gestalt von Kreisen an. Die mannigfaltigen Verflechtungen macht Bähler mit gezogenen beziehungsweise gestrichelten Verbindungslinien sichtbar. Bezeichnenderweise wird «Stirlin-Oboussier» als eigenständiger Machtfaktor mit direkter Verknüpfung zur Bally-Holding kenntlich gemacht. Bei seiner Grafik liess sich Bähler vermutlich von Walter Schmids Schaubild 166 zur rechtlichen Struktur Ballys und der Darstellungskonvention der Corporate Organization Chart inspirieren. Wie im Aufsatz «Imagining the Market: A Visual History» erläutert wird, wurde diese Visualisierung 1850 im Umfeld der Erie Railroad Company zur Versinnbildlichung rationaler Effizienz ersonnen. In der grossen US-amerikanischen Fusions- und Übernahmebewegung der 1890er-Jahre erfuhr die Corporate Organizational Chart allerdings eine Umwertung und verkam zum Sinnbild für Korruption, Verschwörung und Marktmacht. 167 An der visuellen Evidenzproduktion störten sich denn auch die bürgerlichen Kritiker von Bähler: «Mit Hilfe der unsinnigsten Konstruktionen und ‹kunstvoller› zeichnerischer Darstellungen ‹beweist› Pollux alles was er will.» 168 Den ökonomischen Illustrationen wurde eine gefährliche Suggestivkraft beigemessen. 132 Es soll nicht verschwiegen werden, dass Hermann R. Stirlin die Prämissen des Office Management im Lauf der Zeit in Zweifel zog. Die Depression der 1930er-Jahre hatte dem zentralistisch geleiteten und auf Massenproduktion und Massenkonsum getrimmten Schuhkonzern arg zugesetzt — die Bally- Maschine war buchstäblich ins Stocken geraten. Durch die Einführung von teilautonomen Betriebseinheiten, die im Stile von Profit-Center organisiert waren, 169 wurden die Informationsauswertung und Entscheidungsfindung versuchsweise an mehrere Manager delegiert. 170 Besonders augenfällig ist Stirlins Neubewertung in der Abwägung von Vor- und Nachteilen schierer Unternehmensgrösse. Von den Beiträgen, die er in den Fachzeitschriften Industrielle Organisation 171 und Revue économique et sociale 172 veröffentlichte, sei ein einzi- Abbildung 24 Die visuelle Konfusion war beabsichtigt. Der Wirtschaftspublizist Pollux versuchte 1944 den Beweis zu erbringen, dass das «freie Spiel der Kräfte» nicht existiere. Stattdessen würden «Grossmächte» wie die C. F. Bally die wirtschaftlichen Fäden ziehen. 133 3 Marktmacht ges, in seiner Konsequenz aber umso weitreichenderes Votum herausgegriffen: «Ob dieselben [Unternehmen] grösser oder kleiner sein werden, wird von den besonderen Verhältnissen und von den Möglichkeiten des Marktes abhängen sowie vom fabrizierten Produkt, je nachdem die zweckmässige Fabrikation desselben eine grössere oder kleinere Anlage bedingt. In gewissem Sinne dürfte das kleinere Unternehmen im Gegensatz zur Vergangenheit wieder grössere Vorteile haben, und zwar deshalb, weil ein kleineres Unternehmen sich leichter an die rasch wechselnden Verhältnisse anpassen kann.» 173 Die Kleinräumigkeit und Kontingenz des schweizerischen Binnenmarkts mahnten zur Vorsicht. Die anonymen Allokations- und Distributionsfunktionen des Schuhmarkts in den Konzern zu internalisieren und dadurch gleichsam zu sozialisieren, hatte sich in Zeiten von Konflikten, Krisen und Kriegen als illusorisch erwiesen. «Informationshunger» Wenige familienfremde Manager steuerten also den Schuhkonzern. Sie koordinierten die Gerbereien, Hilfsbetriebe, Schuhfabriken, Grossisten, Detail- und Werbefirmen. Weiter befanden sie über den Zu- oder Verkauf von Unternehmenseinheiten und den Ein- oder Austritt in Beschaffungs- und Absatzmärkte. Zu betonen ist, dass solche Entscheidungen entgegen der oben beschriebenen persönlichen Gebundenheit und Intuition nicht willkürlich getroffen wurden. «Um einen modernen Betrieb richtig und gut führen zu können», strich Paul Real, einer der Direktoren der Bally-Holdinggesellschaft, anlässlich eines Referats zu den Problemen der industriellen Betriebswirtschaft heraus, «muss man 1. ziemlich viel wissen, 2. rasch wissen, und 3. zuverlässig wissen.» 174 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, auf welche Informationsverarbeitungssysteme die Bally-Manager zurückgreifen konnten. Wissen bedeutet hier ein Ensemble von sinn- und handlungsrelevanten Informationen. Diese rührten aus einem Fundus von markt- und betriebsspezifischen Daten, die flächendeckend erhoben, stichprobenweise geprüft und systematisch in Form gebracht wurden. Um der Komplexitätsreduktion und Vergleichbarkeit willen waren diese Daten sehr häufig in quantitativer Form gehalten. Ein Blick in das Historische Bally-Archiv zeigt, dass die meisten mit der Datensammlung und Informationsgewinnung in Zusammenhang stehen- 134 den Aspekte unreflektiert mit «Statistik» überschrieben wurden. Im weiteren Verlauf des oben zitierten Referats äusserte sich Paul Real zur Wissensproduktion. Bewährt habe sich in Schönenwerd ein Apparat, der strukturelle Gemeinsamkeiten mit einer Pyramide aufweise: «Für den obersten Leiter muss sie [die Statistik] sich auf wenige, wichtige Punkte konzentrieren. Nach unten muss sie sich dann immer in feinere Details verlaufen. Durch Zusammenziehen der Details aus den Aufzeichnungen, mit denen die unteren Instanzen arbeiten müssen, entsteht dann die Statistik für die nächstobere Instanz, bis so endlich alles in den paar wenigen Angaben verdichtet wird, die der oberste Chef haben muss.» 175 Die hierarchische Ausgestaltung beruhte auf zwei Überlegungen: Zum einen bedeutete die richtige Zusammenstellung, Interpretation und In-Bezug-Setzung der Daten eine hochkomplexe Aufgabe, ja eine «grosse Kunst», die eine «Ausbildung als Ingenieur zur Bedingung macht». 176 Wer den Schuhkonzern nicht in Relation zum Schuhmarkt zu denken vermöge, der könne von der Statistik in die Irre geführt oder belogen werden. 177 Zum anderen würde «das ‹Verdauen› der Statistik» viel Zeit und Geld in Anspruch nehmen. 178 Um die konzerninternen Arbeitsabläufe und Entscheidungsprozesse nicht zu verlangsamen, blieben viele Informationen unter Verschluss. Es konnte schon einmal vorkommen, dass selbst der Betriebsleiter der Gelterkinder Fabrik — notabene einer Betriebseinheit mit knapp 400 MitarbeiterInnen und einer maximalen Jahresproduktion von 468 000 Schuhpaaren — nicht im Bilde war, zu welchen Preisen die unter seiner Ägide gefertigten Schuhe verkauft wurden. 179 In die hierarchische Statistikproduktion waren spezialisierte Büroangestellte eingebunden. Nicht nur die Zahl der Manager, sondern auch diejenige der Angestellten war bei Bally im Steigen begriffen: Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs betrug sie — relativ zu den vom Schuhkonzern beschäftigten Heim- und FabrikarbeiterInnen — 9,8 Prozent, schnellte 1916 auf 13,5 respektive 19,4 Prozent im Jahr 1919 hoch, um 1921 auf 23,8 Prozent zu verharren. 180 Den Zuwachs der Angestellten verfolgten die Bally-Aktionäre mit Argusaugen und quittierten ihn bisweilen mit dem Vorwurf der «Über-Organisation des Konzerns». 181 Die richtige Mischung zwischen ArbeiterInnen und Angestellten, zu denen Sekretärinnen, Schreibkräfte, Buchhalter und Statistiker zählten, stellte eine delikate Angelegenheit dar. 182 Wie Untersuchungen zu US-amerikanischen Unternehmen zeigen, dürfte in den Büroräumlichkeiten ein geschäftiges Trei- 135 3 Marktmacht ben und ein konstanter Geräuschpegel vorgeherrscht haben, denn ohne technisch-apparative Hilfsmittel wäre das massenhafte Buchen, Zählen, Kontrollieren, Analysieren, Vervielfältigen, Ablegen und Archivieren der Daten weder denknoch durchführbar gewesen. 183 1915 waren in den Schönenwerder Büroräumlichkeiten 86 Schreib-, 64 Rechnungs- und fünf Kopiermaschinen sowie zehn Rechnungswalzen und eine stattliche Zahl Hilfsmaschinen im Gebrauch. 184 Wenngleich die Geschichte der technischen Medien der Kaufleute noch nicht geschrieben worden ist, lohnt es sich, nach den technischen Systemen innewohnenden «Störquellen» und den daraus hervorgehenden «Momente[n] der Irritation» zu fragen. 185 Diese Perspektive scheint mir besonders wertvoll, da Chandlers Meistererzählung von der «visible hand» der Manager nicht ohne technikidealisierende und technikdeterministische Versatzstücke auskommt. Eine aufschlussreiche Episode aus dem Bally-Konzern ist die Inbetriebnahme der Hollerith-Maschine. Dabei handelte es sich um einen vom amerikanischen Ingenieur Herman Hollerith entwickelten mechanischen Komplex, bestehend aus Loch-, Sortier- und Tabelliermaschinen. 186 Nach dem Medienwissenschaftler Markus Krajewski lassen sich die prozessierten Lochkarten als «flottierende Medien der Datenverarbeitung» begreifen, die «jede für sich eine kleine Tabelle» darstellt. 187 1890 wurde die Hollerith-Maschine von der amerikanischen Zensus-Behörde erstmals einem Grosseinsatz unterzogen. Da für die Auszählung der Daten markant weniger Zeit benötigt wurde, begann sich die Privatwirtschaft für die mechanische Datenauswertung zu interessieren. Das Versprechen stand im Raum, betriebsspezifische und marktrelevante Daten schneller klassifizieren und in Informationsordnungen überführen zu können; die Klärung des Markträtsels schien in apparative Griffweite zu rücken. Zu den ersten schweizerischen Interessenten zählte Bally. In den Statistischen Tabellen verewigte Eduard Bally die «Erwartungen und Hoffnungen auf diesen s. Zt. so epochemachenden Apparat». 188 Im Historischen Archiv auffindbare Vertragsunterlagen lassen darauf schliessen, dass das Management bei der Deutschen Hollerith-Maschinen Gesellschaft mbH Berlin im März 1915 elf Maschinen anmietete und diese in einem eigens dafür eingerichteten «Hollerith- Büro» unterbrachte. 189 Gemäss einer 1919 an der Handelshochschule St. Gallen verfassten Studie über das privatwirtschaftliche Anwendungspotenzial soll 136 Bally dabei in mustergültiger Manier vorgegangen sein. Die Studienautorin Martha Scherrer machte folgende Beobachtung: «Die Verwendung des Hollerith-Systems ist in diesem Betriebe ungemein weitgehend und feindurchdacht, daher auch ziemlich kompliziert. Die Ausnützung sowohl der Karten wie der Maschinen geschieht in fast vollkommener Weise.» 190 Auf den maximal 40 Datenreihen umfassenden Lochkarten wurden die hergestellten Schuhe — verbindlich war ein Schema mit den Variablen Geschlecht des Trägers, verarbeitetes Material, Form und Farbe — und ihrer KäuferInnen verzeichnet. Zeitnah, sprich innerhalb von 10 bis 30 Tagen, sollten die Angestellten des Hollerith-Büros statistische Regelmässigkeiten aus der Datenflut herauslesen und daraus einen entscheidungsrelevanten Wissensvorsprung generieren können. So zuversichtlich der externe Befund lautete, so vernichtend fiel 1918 die interne Evaluation aus: Das Hollerith-System wurde als unnütz, unzuverlässig und unzumutbar eingestuft. Von den 23 ursprünglich angestrebten Aufstellungen warfen nur deren neun einen «wirklichen und für den Betrieb wertvollen Inhalt» ab. 191 Zudem erwies sich die Lochung der Karten als fehleranfällig, einmal begangene Fehler vervielfachten sich im Zug des Tabellierungsvorgangs und trieben die Korrekturkosten in nicht hinnehmbare Höhen. Darüber hinaus stellte der Seniorchef Eduard Bally unerfreuliche soziale Begleiterscheinungen fest: Die Angestellten missbilligten ihre Arbeit, ja rebellierten gegen die «mühsame und geisttötende Arbeit» der Nachkontrolle gelochter Karten. 192 Die historiografische Forschung hat ein Aufbegehren gegen diese monotone und an der Konzentration zehrende Routinearbeit länder- und branchenübergreifend nachgewiesen. 193 Noch im gleichen Jahr wurde der Hollerith-Mietvertrag aufgelöst. Eduard Bally konnte sich in seiner Entscheidung bestätigt fühlen, als sich die auf anderweitige Positionen versetzten Angestellten wieder mit der gebotenen Aufmerksamkeit und Zufriedenheit an die Arbeit machten. 194 Auch im vorliegenden Fall entpuppt sich die Geschichte der Medien der Kaufleute nicht als lineare Erfolgsgeschichte. Weder war die Bürotechnik ausgereift, noch lag die soziale Akzeptanz von Seiten der Büroangestellten vor. Mehrere Jahre lang besass der Schuhkonzern keine apparativ-technische Informationsverarbeitungsgrundlage. In der Zwischenzeit wurde das Hollerith- System von seinen Kinderkrankheiten befreit und sukzessive verbessert, ausserdem traten neue Anbieter in den Markt für Büromaschinen ein. Nach 137 3 Marktmacht Schätzung von zeitgenössischen Experten mussten Betriebe noch in den 1940er-Jahren mit einer «Einführungs- und Konsolidationszeit» von fünf Jahren rechnen, gleichgültig, ob es sich um ein Hollerith-, Bull- oder Powers- System handelte. 195 Spätestens im Jahr 1945 scheint ein solches auch bei Bally wieder in Gebrauch gewesen zu sein. In einem Beitrag in der Mitarbeiterzeitschrift über die Arola-Schuh AG wird eine Statistikabteilung erwähnt, «die mit modernsten amerikanischen Lochmaschinen ausgestattet ist». 196 Dass den Lochkarten nach den anfänglichen Ernüchterungen aufs Neue Vertrauen entgegengebracht wurde, hängt auch mit den informativen Anforderungen des schweizerischen Schuhmarkts zusammen. Es erschien dem Bally-Management alternativlos, ein leistungsfähiges Informationsverarbeitungssystem zu unterhalten, 197 da man sich «im Zeitalter der Mode und kurzlebigen Artikel, namentlich aber der Fluctuationen im Markte» wähnte. Dabei konnten quantitative Informationen ein Stück weit «Übersicht und beruhigende Sicherheit» geben. 198 Forderungen nach einem dreibis viermal im Jahr tagenden und alle Marktteilnehmer umfassenden Gremium zur Domestizierung der Schuhmode wurden auch in der Schweiz erhoben. Schuhgewerbliche Interessenkreise stellten 1936 eine «fortlaufend kontrollierte Mode» 199 nach dem Vorbild internationaler Modekommissionen in Aussicht, 200 waren mit diesem Vorschlag jedoch nicht mehrheitsfähig. Von einem engen Konnex von Markt und Mode gingen auch zeitgenössische ökonomische Studien aus. «Marktimperfektion» war der Terminus technicus für den bedrohlichen Dauerzustand, dem ein Schuhkonzern ausgesetzt war. The Economic Journal hielt zum englischen Schuhmarkt der Zwischenkriegszeit fest: «Market imperfection is most conspicuous in the ladies’ branch of manufacture, in which emphasis on style and design of shoes has increased to such an extent in post-war years as to make the shoe industry the foremost fashion trade in the country.» 201 Für Bally war es also von geradezu existenzieller Bedeutung, marktspezifische Daten — von der modisch bevorzugten Farbe über die gegenwärtige Akzeptanz einer spitz zulaufenden Schuhform bis hin zur Beschaffenheit der Ziernaht — sammeln, verarbeiten und so zeitnah wie möglich an entscheidungsbefugte Stellen weiterleiten zu können. Die Permanenz des Modewandels schürte den unternehmerischen Informationshunger zusätzlich. Die flexible Ausrichtung am und Anpassung an den Markt war eminent wichtig und nur mithilfe einer appa- 138 rativ gestützten Wissensproduktion zu bewerkstelligen. Mit dem Ökonomen Dwight E. Robinson liesse sich die entscheidende Aufgabe eines Bally-Managers nicht in der kosteneffizienten Produktion, sondern in der «shrewd anticipation of the changing preferences of his numerically restricted clientele — his own small niche in ‹the great neighborhood of women›» charakterisieren. 202 In welcher Form wurden die Daten dargestellt? Das im Schuhkonzern am weitesten verbreitete Datenformat war die Tabelle. Wie eingangs erwähnt, betitelte Eduard Bally den zweiten Band seiner monumentalen Geschichte der C. F. Bally AG mit Statistische Tabellen. Angelegt waren sie als ein «Nachschlag- System» mit betriebsspezifischen und schuhmarktrelevanten Angaben. 203 Tabellen haben den Vorteil, dass sie neben der einfachen Relation aus Zeichen und Objekt eine diagrammatische Relation aus Zeilen und Spalten beinhalten. 204 Der tabellarischen Aufbereitung vermochte sich, nebenbei bemerkt, kaum ein Aspekt zu entziehen. «Da übersichtliche Tabellen (sei es über hygienische Fussbekleidung, Alkoholismus, Arbeitslosigkeit oder Stockbewegung) heutzutage Mode sind, […] haben wir eine Modetabelle aufgestellt. Sie ist nur als Leitfaden, als Richtlinie zu betrachten — als eine Übersicht», wurde den MitarbeiterInnen der Arola-Schuh AG 1923 eröffnet. 205 Eine weitere wichtige Form der Datendarstellung war der sogenannte Partiezettel. Unter dem Dach des Bally-Konzerns war die gesamte Wertschöpfungskette des Schuhs untergebracht. Da für die Allokation und Redistribution der Werkstoffe und Zwischenprodukte keine Preise zur Verfügung standen, mussten die Manager in Mengen rechnen. Bezogen auf das Alltagsding Schuh wurden diese Daten auf dem Partiezettel verzeichnet. Im weitesten Sinn war er der «Führer durch die Fabrikation», auf ihm waren alle schuhtechnischen Daten in numerischer oder codierter Form festgehalten. 206 Etwa, welche der 900 Lederrespektive 200 Stoffpositionen im Schuh verarbeitet waren, welcher der über 450 zur Auswahl stehenden Leisten dem Schuh seine Form gab oder welcher der 365 Absätze verschraubt war. 207 Eine ähnliche Bedeutung wie die Tabelle und der Partiezettel wies das Budget auf. In den Schönenwerder Direktionssitzungen, die von den Chefs der Einkaufs-, Fabrikations-, Verkaufs- und Finanzdepartements besucht wurden, drehten sich nicht wenige Aushandlungsprozesse um das Budget. Durch die Gegenüberstellung von historischen, gegenwärtigen und zukünftigen Daten 139 3 Marktmacht stiftete das Budget Orientierung. 208 Um einmal mehr Paul Real zur Erläuterung des Schönenwerder Betriebsalltags heranzuziehen: «Budgetieren ist, vergangene und gegenwärtige Verhältnisse genau analysieren und dann auf den daraus erworbenen Kenntnissen einen logischen Plan aufstellen, nach dem es möglich sein sollte, sich ein Ziel zu setzen und dieses Ziel zu erreichen.» 209 Im Monatsrhythmus wurden Budgets aufgestellt und revidiert. 210 Es bleibt an dieser Stelle festzuhalten, dass die breite Daten- und Informationsgrundlage die Voraussetzung für die zentralisierten, von einer Handvoll Manager gefällten Entscheidungen bildete. Im Umkehrschluss lässt sich aber auch vermuten, dass die blosse Verfügbarkeit technisch aufbereiteter Daten die Planungs- und Kontrolltätigkeiten der Bally-Manager befeuerte. Eindringen in den Handel Verkaufskontrolle Im Abschnitt zum Office Management wurde beiläufig erwähnt, dass Bally der Errichtung eines konzerneigenen Absatzkanals grosses strategisches Gewicht beimass. Wie die Bally-Manager diese Aufgabe umsetzten, ist analytisch insofern spannend, als dadurch spannungsreiche Beziehungen zu anderen Akteuren des schweizerischen Schuhmarkts entstanden. Vor allem den Schuhhändlern trat Bally auf die Füsse. In den ersten Jahren ihres Bestehens bekundeten die meisten Schuhfabriken Mühe, am Heimmarkt zu bestehen. Das Misstrauen der KonsumentInnen gegenüber Schuhen, die auf Vorrat produziert wurden und deren Formen noch nicht aus systematischen Vermessungen hervorgingen, war beträchtlich. Aus der Not begann Bally seine Schuhe nach Übersee abzusetzen und liess von jenem Moment an, als die ausländischen Bestellungen in immer kürzeren Abständen und grösseren Mengen in Schönenwerd eingingen, den Binnenmarkt links liegen. Bis auf zwei nicht näher spezifizierbare Verkaufslokale in Zürich (1853) und Winterthur (1903) übertrug Bally den firmeneigenen Handelsreisenden und firmenfremden Agenten die Feinverteilung der Fussbekleidung, 211 später auch den Grosshändlern. 212 Zunehmend verfestigte sich in den Köpfen und Schriftstücken der Schönenwerder Entscheidungsträger das Sprichwort vom Propheten, der in seinem Vaterland 140 nichts gilt. 213 Die ungenügende Verbindung mit dem Detailhandel wurde gar als Beleg für die überlegene Qualität der Schuhwaren herangezogen. Anlässlich einer 1910 in der Direktion ausgetragenen Grundsatzdiskussion über das Für und Wider des Aufbaus von eigenen Absatzkanälen, der sogenannten Selbstdetaillierung, fiel das folgende Votum: «Für eine Firma unserer Grösse spricht es als ehrendes Zeugnis für qualitative Leistung, dass sie sich bis heute dieser modernen Bewegung verschliessen konnte.» 214 Zur gleichen Zeit hielt der in St. Gallen lehrende Wirtschaftsgeograf Peter H. Schmidt erstaunt fest, dass es dem international ausgerichteten Schuhunternehmen nicht gelungen sei, «den inneren Markt zu beherrschen». 215 Bally nahm Abstand von einem Eindringen in den Handel, das in der Unternehmensgeschichtsschreibung in Bezug auf andere Fabrikanten bereits für das 19. Jahrhundert nachgewiesen ist. 216 Warum das? Auf der einen Seite stufte die Unternehmensleitung das Risiko dieses Geschäftsfeldes als hoch ein, auf der anderen Seite war sie nicht willens, sich bei Finanzinstituten für die Miete oder den Kauf von Liegenschaften zu verschulden. In der Sitzung vom September 1910 konnten sich die beratenden Herren nicht dazu durchringen, eine «spez. Gesellschaft in Verbindung mit einer Bank» aus der Taufe zu heben. 217 Zwei Vorkommnisse führten schliesslich zu einem Umdenken. Die aus Deutschland importierten Lederschuhquantitäten begannen ein besorgniserregendes Ausmass anzunehmen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs vereinnahmten sie bereits zwei Drittel des Gesamtimports. 218 Dass die Haueisen & Cie Schuhfabrik (Stuttgart) ihre preiswerte Mercedes-Linie und die Firma J. Sigle & Cie (Kornwestheim) ihre unter der Dachmarke Salamander geführten Produkte an der Zürcher Bahnhofstrasse über eigene Geschäfte vertrieben, beunruhigte den Branchenprimus nachhaltig. 219 Zudem war beim Übergang in die Friedenswirtschaft Handlungsbedarf angezeigt, da sich viele Schuhhandlungen in finanzieller Schieflage befanden. In der Hoffnung auf eine Sanierung sprachen deren Inhaber in Schönenwerd vor. Um die grosszügig bemessenen und infolge langjähriger Verbundenheit teilweise auch ungesicherten Warenkredite nicht abschreiben zu müssen, materialisierte Bally die ausstehenden Beträge und wandelte sie in Firmenbeteiligungen um. 220 Zu den ersten Firmen, die auf diese Weise übernommen wurden, nach aussen aber weiterhin unter ihrem altem Namen und Logo geführt wurden, zählten das Schuhhaus zum Pflug in Basel, 141 3 Marktmacht der Charles-Doelker-Schuhladen an der Zürcher Bahnhofstrasse, die Schuhmagazine Chaussures La Rationnelle in Genf und Lausanne sowie die Detailhandelskette Modern-Schuh AG, die Filialen in Basel, Luzern, Thun, Unterseen, Martigny, Montreux, Morges, Fribourg, Bulle und Genf betrieb. 221 Hinsichtlich der Zielgerichtetheit dieser frühen Beteiligungen oder Übernahmen darf man sich keine Illusionen machen: «Es herrschten anfangs so viele Meinungen wie es Köpfe waren.» 222 Die Bally-Verantwortlichen sollten noch Jahre benötigen, um das zufallsgenerierte Portfolio an Schuhgeschäften zu konsolidieren und in den Dienst des Schuhkonzerns zu stellen. Die klandestine Schaffung eines eigenen Absatzkanals wurde von Bally weiter vorangetrieben. 1921 betrug die Zahl der auf Rechnung Schönenwerds arbeitenden Handelsgeschäfte 68, wobei das Spektrum vom Ein-Mann-Betrieb bis zum 60 MitarbeiterInnen umfassenden Grossgeschäft reichte. 223 68 Geschäfte waren es noch immer, als Hermann R. Stirlin 1926 die Anweisung gab, alle auf Schweizer Boden befindlichen Detailgeschäfte unter eine zentrale Leitung zu stellen. Als Geschäftsname wurde die lateinische Bezeichnung des Aare-Flusses in das Handelsregister eingetragen: Arola. Gleichzeitig wurden auch sechs der neun (teil-)selbständigen Schuhgrossisten fusioniert und der neu gegründeten Tochtergesellschaft Bally-Schuhverkauf AG (Basvag) unterstellt; begründet wurde dieser Schritt mit der Rationalisierung der Distributionsfunktion. Im Zürcher Hauptsitz der Arola wurde das Schuhsortiment disponiert, das Zentrallager bewirtschaftet, die Lager- und Verkaufsstatistiken erstellt und administrative Aufgaben erledigt. 224 Seit 1933 stand Max W. Wittstock der Arola vor, einer jener von Klaus Fred, einem nachmaligen Bally-Manager, maliziös als «Schwiegersohn» abqualifizierten Manager. 225 Wie noch näher beschrieben werden wird, trieb Wittstock die finanzielle Sanierung und organisatorische Konsolidierung der Filialen energisch voran. 226 Wenngleich die Arola- Schuh AG rechtlich und wirtschaftlich unselbständig war und sich den Weisungen der Holdinggesellschaft fügen musste, genoss sie eine statuarisch verbürgte Autonomie. Diese bezog sich etwa auf die Einkaufspolitik, bei der «sie kein Paar kaufen müsse, für das sie nicht den Verkauf sähe und das sie daher nicht verantworten könne». 227 Das Schuhsortiment bezog die Arola im Untersuchungszeitraum zu etwa 80 Prozent von den Bally-Schuhfabriken, ergänzte dieses gelegentlich aber auch durch Bestellungen bei der Konkurrenz. 142 In den ersten Jahren strebte die Arola weniger die quantitative Vergrösserung als die qualitative Verbesserung eines jeden einzelnen Geschäfts an. Auch die geografische Verdichtung des Filialnetzes hatte grosse Bedeutung. Übernahmen, Neugründungen und Schliessungen hielten sich die Waage. 228 Die Arola-Geschäfte wurden mit grossen Schaufenstern ausgerüstet, die den Blick auf das neueste Sortiment freigaben. 229 Kleinplakate, Preis- und Textkärtchen wurden gleich «Flüsterstimmen im Schaufenster» placiert, auf dass die kunstvoll kuratierten Auslagen ihre volle Wirkung entfalteten. 230 In den Läden boten Verkäuferinnen und Werbefiguren — während «Madame de Bonton» auf die Modeschuhe aufmerksam machte, trat «Dr. Füssli» im Kontext anatomisch richtig geformter Schuhe in Erscheinung 231 — Orientierung in der Fülle von Fussbekleidungen. Für die «prächtig scharfe Durchleuchtung von Fuss und Schuh» 232 der Kundin wurde mit Röntgengeräten gearbeitet. 233 Der in den USA als Fluoroskop, in Europa als Pedoskop bekannte, bildgebende Apparat war bei der Arola-Schuh AG zwischen 1927 und 1963 in Gebrauch. 234 Seine volle Wirkung entfaltete er bei der Vermessung von Kinderfüssen, da es dem Nachwuchs schwerfiel, die richtige Passung der Schuhe abzuschätzen. Den Müttern wurde die apparativ abgesicherte Schuhberatung als moderner, ja quasimedizinischer Service angepriesen. 235 Mit diesen kostspieligen Investitionen suchte die Arola nicht allein die Salamander- und Mercedes-Geschäfte einzuholen, sondern auch die schweizerischen Mitkonkurrenten auf Distanz zu halten. Mehrere Schuhfabriken hatten in der Zwischenzeit mit der Selbstdetaillierung begonnen. In den frühen 1930er-Jahren umfassten die Filialsysteme von Löw 50, Hug 31 und Bata 23 Geschäfte (die genannten Angaben beziehen sich auf den zahlenmässigen Höhe- Abbildung 25 Der erste Eindruck zählt. Im Schuhladen fielen vor allem die Schaufenster mit ihren kunstvoll kuratierten Auslagen ins Auge. Die Modelle der Frühjahrssaison 1938 bettete das Bally-Capitol-Geschäft in eine Frühlingslandschaft ein. 143 3 Marktmacht punkt); zur Schuhfabrik Walder liegen keine Zahlen vor, sie dürften den einstelligen Bereich allerdings nicht überschritten haben. 236 Bei der Arola fungierte der Quotient Paarumsatz pro Einwohner und Jahr als strategische Richtgrösse. Wie ein Blick in die internen Aufstellungen zeigt, schwangen Filialgeschäfte, die in Städten mit mindestens 20 000 EinwohnerInnen lagen, obenaus. An der Spitze stand Lausanne mit einem Quotienten von 1,2 (4 Filialen), knapp gefolgt von Genf mit einem Wert von 1,1 (6 Filialen). Mit deutlichem Abstand reihten sich die Deutschschweizer Städte Zürich (0,8, 10 Filialen), Luzern (0,7, 3 Filialen) und Basel (0,5, 5 Filialen) ein. 237 Angesichts der zunehmenden Konkurrenz blieb bei vielen Bally-Managern der Eindruck einer unzureichenden Marktausschöpfung bestehen: «Im Inland haben wir unseren Absatz zu lange vernachlässigt und uns zu viel auf den Export konzentriert», wurde im November 1931 festgehalten. 238 Dieser Eindruck liess sich auf mittlere Frist nicht mehr korrigieren, weil am 5. September 1933 das Verbot der Eröffnung und Erweiterung von Warenhäusern, Kaufhäusern und Einheitspreisgeschäften in Kraft trat (vgl. den Abschnitt « Schuhwirtschaftliche Bewilligungspflicht», S. 281 ). Den selbstdetaillierenden Fabriken blieb bis 1946 untersagt, Umbauten oder Neueröffnungen vorzunehmen. Die Erzielung von Marktmacht qua Absatzkanal war von Gesetzes wegen nicht zu erreichen. Aus diesem Korsett befreit, vergrösserte sich die Arola-Schuh AG im Jahr 1946 sogleich auf 75 und 1951 auf 83 Filial- Geschäfte. Hinsichtlich des Marktgeschehens gilt es hervorzuheben, dass die Fabrikselbstdetaillierung ein grosses Konfliktpotenzial in sich barg. In- und ausländische Beobachter werteten Ballys Vorgehen als Versuch zur angebotsseitigen Umwälzung des schweizerischen Schuhmarkts. Als die Gewerkschaftliche Rundschau 1923 über das Ausmass der helvetischen Kapitalkonzentration berichtete, diente Schönenwerd als schlagender Beweis: «Eine Preisfrage: Wie vielen selbständigen Schuhmachermeistern hat Bally das Lebenslicht ausgeblasen? Die Beantwortung dieser Frage würde eine glänzende Rechtfertigung der Marxschen Gesellschaftslehre sein.» 239 Auch Paul Beuttner und seinen mittelstandspolitisch gesinnten Schuhhändlern war das Geschäftsgebaren der Arola ein Dorn im Auge; in einem in der Fachzeitschrift Der Schuhhandel abgedruckten Kommentar von 1928 ist zu lesen: «Wenn die Rationalisierung nur diesen Zweck hat, so ist sie lediglich das Mittel zu dem unmoralischen Ziel, den 144 Markt über die Leichen der Kleinen oder Nicht-Kapitalisten absolut an sich zu reissen.» 240 Mit den Bally-Managern sollte der verbandswirtschaftlich organisierte Schuhhandel noch viele Male die Klingen kreuzen. Allgemein wurde der Umstand kritisch beäugt, dass die Bally-Holding ihre Besitzverhältnisse und Schuhhandelsbeteiligungen nicht offenlegte, sondern mit rechtlichen Konstruktionen zu verschleiern suchte. Über dieses «verhüllte Filialsystem» 241 suchten die Bally-Konkurrenten «Herrn und Frau Schweizer» sogar aufzuklären. 242 In Schuhhändlerkreisen machten Mutmassungen über Anzahl, Namen und Motive vermeintlicher Bally-Strohmänner die Runde. Nach Meinung deutscher Sachverständiger war die Hälfte der 3000 in der Schweiz registrierten Schuhgeschäfte von Bally «mehr oder weniger abhängig». 243 Das defensive, als «Beruhigung» angedachte Auftreten auf dem Binnenmarkt bewirkte genau das Gegenteil. 244 Die Vorwärtsintegration von Bally wurde von vielen Seiten bekämpft. 245 Wie im Abschnitt «Wirkmächtige Diskurse» (S. 262) noch zu zeigen sein wird, stellten diese Auseinandersetzungen mit den mittelstandspolitischen Vertretern in den 1930er-Jahren eine grosse Hürde auf dem Weg zur Regulierung des schweizerischen Schuhmarkts dar. Neben den kurzfristig-situativen Motiven gab es stets auch langfristig-strategische Überlegungen, die Bally zum Eindringen in den Schuhhandel bewogen. Überlegungen, wohlgemerkt, die diese Irritationen teilweise wieder vergessen machten. Als Vorbild fungierten einmal mehr die Office-Management-Prinzipien: «Die leitenden Herren der Firma Bally, speziell die Herren Max Bally und H. R. Stirlin, sahen auf Auslandsreisen immer wieder, was für eine wertvolle Stütze ein eigener Detail-Apparat für die Produktion war.» 246 In den Befragungen durch die Experten der PBK bekannten dieselben Manager, dass die amerikanischen Organisationsstrukturen und Vertriebspraktiken auf sie «fast wie eine Revolution» gewirkt hätten. 247 Zum besseren Verständnis ist es unerlässlich, die Schuhindustrie kurz und knapp als eine Saison- und Modeindustrie zu charakterisieren. In diesem Zusammenhang trug die Holdinggesellschaft der Arola-Schuh AG drei Funktionen auf: den Marktausgleich, die Marktforschung sowie die Marktsondierung. Lange Jahre kannten die Schuhproduzenten und -händler vier Saisons, die dem Gang der Jahreszeiten entlehnt waren. Nimmt man die 1930er-Jahre zum Massstab (100 = 12-Monats-Mittel der Jahre 1933—1939), stachen die Mo- 145 3 Marktmacht nate April (101), Mai (105), Oktober (112) und November (101) mit überdurchschnittlichen Schuhbestellungen beziehungsweise -verkäufen heraus. Infolge des starken Weihnachtsgeschäfts lag das Maximum jeweils im Dezember (158). 248 Niederschlag während der Oster- und Pfingsttage und andere Wetterkapriolen vermochten das saisonale Muster hin und wieder zu durchbrechen. 249 Um das Risiko unverkäuflicher Waren zu reduzieren, hielten die kleingewerblichen Schuhhändler mit ihren Bestellungen bis zum letzten Augenblick zurück. Die Arola-Schuh AG sollte deshalb dazu beitragen, den erratischen Auf- und Abschwüngen in der Bestellpraxis entgegenzuwirken. Dieser Forderung der Konzernleitung kam die Arola nach, indem sie mit einer Vorlaufzeit von bis zu einem Jahr bei den Bally-Schuhfabriken bestellte und die bezogenen Schuhe fortlaufend an die KonsumentInnen verkaufte. Dergestalt sollte sie Schönenwerd in die Lage versetzen, «beschäftigungsflaue Zeiten» zu überbrücken und den Produktionsapparat kontinuierlich auszulasten. 250 Die wenigen Indizien lassen den Schluss zu, dass das zeitliche Auf und Ab im Lauf der Zeit tatsächlich abflachte und die Arola-Schuh AG beinahe so viele «Verkaufsmomente» kreierte, wie es Monate gab. 251 Von noch grösserer Tragweite als der Marktausgleich erwies sich die Prüfung der Marktfähigkeit, oder anders ausgedrückt: der «Moderichtigkeit» der Bally-Schuhe. Ob Schuhe von den tonangebenden Haute Couturiers, Modistinnen und JournalistInnen mit Aufmerksamkeit bedacht wurden, hing von der vestimentären Silhouette ab. Im Nachgang des Ersten Weltkriegs ereignete sich eine einschneidende Neuerung — die «femme garçonne» kam auf. Schuhmode beinhaltete ein diffiziles Zusammenspiel von Gestaltung, Material und Farbe. Waren alle Details stimmig, konnten die Schuhproduzenten wie auch Schuhhändler auf eine erhöhte Zahlungsbereitschaft von Seiten der KonsumentInnen zählen. War aber auch nur ein einziges Merkmal falsch antizipiert, blieb die Fussbekleidung im Lager liegen und musste abgeschrieben werden. Aus diesem Grund wurde der Arola-Schuh AG die Ermittlung der Moderichtigkeit aufgetragen: «Für den Fabrikanten sind wir durch die ständige direkte Fühlungnahme mit einem grossen und vielseitigen Kundenkreis und dessen unzähligen Wünschen gewissermassen die Marktforscher und bewahren die Industrie damit vor kostspieligen Fehldispositionen.» 252 Minuziös erfasste und deutete die Arola die Reaktionen der KonsumentInnen und leitete diese nach 146 Schönenwerd weiter. Begann sich die fehlende Moderichtigkeit eines Schuhs abzuzeichnen, mussten Anpassungen am Produktionsplan vorgenommen werden. Der Vorteil der Filialkette lag wohl nicht zuletzt darin, dass ihre Verkäuferinnen den «Puls» des Binnenmarkts früher und unvermittelter in Erfahrung bringen konnten, als dies die Disponenten der Bally-Schuhfabriken zu tun vermochten. 253 Unter dem Gesichtspunkt des Informationsflusses bedeutete die Selbstdetaillierung der Fabriken eine wertvolle Ergänzung zu den Modeberichten, die von Korrespondenten, Fachzeitschriften oder Musterabonnement-Firmen grosszügig offeriert wurden, in ihrer Korrektheit und Genauigkeit indes nur schwer verifizierbar waren. Als dritte und letzte Funktion ist die Marktsondierung zu nennen. Das Arola-Filialnetz filterte nicht nur Informationen aus dem Schuhmarkt heraus, es speiste auch modische Ideen in diesen ein. Die Bally-Manager verstanden die Arola-Schuh AG als Marktsonde, die «ausprobieren und dann die Mode oder bestimmte Moderichtungen in die Schuhwelt tragen sollte». 254 Klar ist, dass die in der Créationsabteilung unter Laborbedingungen angedachten und in der Musterabteilung in kleinen Serien hergestellten Schuhmodelle in den Filialen einem ersten Verkaufstest unterzogen wurden. Wie oft dies geschah, welche Schuhtypen dieses Prozedere durchliefen und wie hoch die (Miss-)Erfolgsquote ausfiel, lässt sich nicht bestimmen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Modeschuhe einen komplexen Ausscheidungsprozess durchliefen. Dass die konzerneigene Marktsonde tatsächlich Anhaltspunkte über die Marktfähigkeit von Schuhen hervorbringen konnte, legen Verlautbarungen von direkten Marktkonkurrenten nahe. 1930 war in Deutschland ein Ausschuss zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft für die Belange der Schuhindustrie einberufen worden. In den Diskussionen über die Ursachen des Strukturwandels kam auch die Mode zur Sprache. Freimütig gab der Direktor der J. Sigle & Co Schuhfabriken AG (Kornwestheim) Einblick in seine Dispositionspraxis: «Wenn ich von den Gerbereien erfahren habe, welche Farben und Qualitäten Bally kauft, habe ich einen gewissen Anhaltspunkt für die Entwicklung der Mode.» 255 Einzelne Konkurrenten suchten den Schuhmarkt also nicht auf Produkttrends ab, sondern vertrauten auf das, was Bally für moderichtig befunden hatte. Damit konstruierte Bally den Markt aktiv mit, gleichgültig, ob der Schuhkonzern mit seiner Einschätzung richtig lag oder nicht. 147 3 Marktmacht Marktpsychologie Fragt man nach den Marktkonzeptionen beziehungsweise -praktiken von Unternehmen, sind nicht nur Phasen der betrieblichen Pfadschöpfung, sondern auch Wirtschaftskrisen aufschlussreich. Margrit Müller und Laurent Tissot haben jüngst einen Sammelband herausgegeben, in dem ausgewählte Grossunternehmen während der 1930erbeziehungsweise 1970er-Jahre-Krise auf ihre betrieblichen Lernprozesse hin analysiert werden. Die HerausgeberInnen vertreten den Standpunkt, dass in Krisenmomenten «eine relativ grosse Offenheit hinsichtlich der Wahl besteht, welche Pfade in den folgenden Jahrzehnten eingeschlagen werden sollen». 256 Zuvor machte bereits Hansjörg Siegenthaler am Beispiel der schweizerischen Elektro- und Maschinenindustrie einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Depression und erfinderischer Aktivität fest. 257 Bezogen auf den Schuhkonzern wären also die strukturellen Brüche, die durch Weltwirtschaftskrise, Wirtschaftsnationalismus und Zerfall in zwei Handels- und Währungsblöcke hervorgerufen wurden, ein vielversprechender Startpunkt. Tatsächlich bekamen die Bally-Schuhfabriken AG die Verwerfungen der 1930er-Jahre vollumfänglich zu spüren. Durch die Abwertung des englischen Pfundes im September 1931 verteuerten sich die Bally-Erzeugnisse um circa 25 bis 30 Prozent, quasi über Nacht brach die für Grossbritannien bestimmte, tägliche Exportmenge von 3000 Schuhpaaren weg. 258 Hierauf antwortete die Direktion mit der Drosselung der Produktion und dem Abbau der Gestehungskosten. War der Aktionsplan hinsichtlich Material und Spesen eindeutig, hielt sich das Management mit Massnahmen, welche die Löhne und Gehälter tangierten, zurück. 259 In welcher Relation die kurzfristigen Vorteile und mittelfristigen Nachteile von Arbeitszeitverkürzungen, Lohnreduktionen und Personalfreisetzungen standen, darüber herrschte Dissens. Entlassungen im grossen Stil sprach das Bally-Management dann in den Geschäftsjahren 1929/ 30 (Abbau von 7369 auf 6603 ArbeiterInnen), 1931/ 32 (von 6794 auf 5760) und 1932/ 33 (von 5760 auf 4496) aus. Allein im ersten Halbjahr 1932 wurden die Fabrikfilialen Kirchleerau, Reitnau, Frick und Gränichen geschlossen. 260 Es ist davon auszugehen, dass ein kleiner Teil der hochqualifizierten FacharbeiterInnen eine Anstellung in den zwischen Olten und Aarau 148 domizilierten Schuhfabriken fand. In der Schilderung von Iwan Bally entbrannte nämlich ein «Kampf um die neuen Weideplätze, in welchen auch die der Exportindustrie nicht angehörenden Betriebe, die Expansionsdrang fühlten, eingriffen. […] Die erstgenannten hatten Gelegenheit, aus der Krise der Exportindustrie in Schönenwerd Nutzen zu ziehen, indem sie fertig angelernte Arbeiter aufnehmen konnten, die dort zu Tausenden abgebaut werden mussten». 261 Im Kontext von Marktsättigung, Kapazitätsreduktion und Personalabbau nahm der konzerninterne Druck auf die Arola-Schuh AG zu; sie sollte die nicht mehr länger ins Ausland exportierbare Fussbekleidung auf dem schweizerischen Binnenmarkt unterbringen. Der Arola-Belegschaft fiel die anspruchsvolle Aufgabe zu, für Schuhe aus allen Preisklassen und Sparten — vom Militär-, Sport-, Berufs-, Gesundheitsüber den Kinder-, Haus- und Halbbis hin zum Abend- und Modeschuh — eine passende Käuferschaft zu finden. Gleichzeitig galt es in Zeiten akuten Preiszerfalls, der 1932/ 33 nicht nur alle Reserven der Arola aufgezehrt, sondern auch Verluste angehäuft hatte, die «Überstockung» des Lagers zu verhindern. 262 Eine geradezu herkulische Aufgabe, bedenkt man, dass die Grosse Depression auch viele weitere exportorientierte Wirtschaftszweige ergriff und die Bereitschaft zum Schuhkauf merklich sank. Grafik 1 zeigt, dass der Anteil der von Bally in der Schweiz produzierten und daselbst abgesetzten Schuhe im Zeitraum von 1929 bis 1933 von knapp 35 auf etwa 66 Prozent anstieg; einen vergleichbaren Sprung brachte nur mehr der Zweite Weltkrieg mit sich, als der ohnehin hohe Binnenmarktanteil von 56 Prozent (1938) auf 88 Prozent (1941) hinaufkletterte. Ein zusätzlicher Effort schien notwendig, um auf dem Binnenmarkt bestehen oder gar noch zulegen zu können. Im November 1931 bekräftigte die Geschäftsleitung die bisherigen Bemühungen um das Scientific bzw. Office Management: «Auch mit der Rationalisierung dürfen wir nicht haltmachen, trotzdem ihr ein Teil der Schuld an der Krise zugeschoben wird.» 263 Bei der Arola-Schuh AG standen Ansätze aus der angewandten Psychologie hoch im Kurs. Gemeint sind damit nicht Zeitstudien, wie sie Frederick W. Taylor und seine Schüler perfektioniert und auf zahllose Felder übertragen haben. In der Zeitschrift Industrielle Psychotechnik wurde 1927 der Aufsatz «Zeitstudien beim Schuhverkauf» abgedruckt, der das Ideal des «stetigen Leistungsflusses» 149 3 Marktmacht propagierte. 265 Bei Arola-Filialen jüngeren Datums waren kurze Laufwege und geräumige Warenlager längst verwirklicht und die von Verkäuferinnen tagtäglich verrichteten Schritt- und Griffzahlen der Tendenz nach rückläufig. Im Folgenden geht es auch nicht um Eignungsprüfungen, die die Rekrutierung und Zuteilung neuer MitarbeiterInnen begleitete. Die ersten entsprechenden Versuche, die Jules Suter 1915 in Schönenwerd unternahm, riefen bei den Bally-Verantwortungsträgern Skepsis hervor. 266 Die finalisierten Gutachten wanderten in die Schubladen und kamen erst wieder zum Vorschein, als die Schuhwirtschaft nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs Anzeichen der Besserung zeigte. 267 Nachfolgend geht es um Versuche der sogenannten Marktpsychologie. 268 Einleitend sei hier angemerkt, dass das wirtschaftende Individuum in den 1920er- und 1930er-Jahren eher am Rand der psychologischen Forschungslandschaft angesiedelt war. 269 Wer sich damit beschäftigte, nannte sein Forschungsgebiet wahlweise Technopsychologie, Psychotechnik, Motivforschung oder 1913 1915 1917 1919 1921 1923 1925 1927 1929 1931 1933 1935 1937 1939 1941 1943 1945 1947 100 % 90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0 % Binnenmarkt Weltmarkt Grafik 1 Marktorientierung der Bally-Schuhfabriken AG, Schönenwerd, 1913—1948 264 150 Wirtschaftspsychologie. Während einzelne Exponenten die Einheit Maschine/ Mensch untersuchten, trachteten andere, stärker von der Idee des «human engineering» geleitete Forscher danach, die ArbeiterInnen in den komplexen Betriebsalltag einzupassen. 270 Wieder andere Sozialwissenschaftler begannen die unbekannten Bewertungs- und Entscheidungsroutinen im Kaufprozess zu durchleuchten sowie die Wahrnehmungen von und Vorstellungen über Waren einer Analyse zu unterziehen. Die dabei gewonnenen experimentellen Daten vereinfachten sie zu Faustregeln und machten sie in Handbüchern publik, die kapitelweise mit «The Nature of the Consumer» oder «The Adjustment of Advertising and Selling Methods to the Consumer» überschrieben waren. 271 Im wissenschaftshistorischen Rückblick werden diese ersten Sondierungen allesamt der Marktpsychologie zugerechnet. 272 Seit Anbeginn seien ihre Vertreter dem Ziel verpflichtet gewesen, «Markttransparenz für den Hersteller zu schaffen und ihm jene Informationen über den Verbraucher und sein Verhalten zur Verfügung zu stellen, die ihm risikofreie Planungen und Entscheidungen gestatten». 273 Die Marktpsychologie versprach anwendungsorientiertes Wissen für die Annäherung an den Markt. Den entscheidenden marktpsychologischen Impuls erhielt Bally nicht aus den USA, sondern aus Österreich. Dahin hatte sich das Management bei der Suche nach einem geeigneten Standort für die osteuropäischen Märkte begeben. Fündig wurde es in Wien bei der Schuhfabrik Hugo Gänsler AG. 274 Die Holdinggesellschaft übernahm 1924 60 Prozent des Aktienkapitals und taufte die Produktionsstätte Bally Wiener Schuhfabrik AG. Umgehend nahm die österreichische Arbeiterpresse diesen «Mammuttrust, für den Landesgrenzen und Entfernungen über Land und Meer unbekannte Begriffe sind», in Augenschein. 275 Die Holdingstruktur versuchte sie ihren LeserInnen mithilfe einer abstrakten Corporate Organizational Chart begreiflich zu machen. Spöttisch merkte der Journalist an: «Vollendeter kann man sich die kapitalistische Konzentration nicht denken. Demgegenüber sind unsere Schuhfabriken Kleingeschäfte von geringer Bedeutung. Eigentümlich ist es, dass die kleine Schweiz solche internationalen Finanzgrössen beherbergt.» 276 In der Folge investierte Bally kräftig in die an der Donau gelegenen Produktions- und Vertriebsstrukturen. Nach der Fertigstellung einer neuen Fabrikationsstätte gelang es, die mit 120 Mitarbeitern erzielte Tagesproduktion von 400 (1925) auf 2500 Paare pro Tag 151 3 Marktmacht (1936) anzuheben, für die 900 Mitarbeiter verantwortlich waren. Über acht Filialen der 1933 gegründeten Bally-Schuhverkaufs-GmbH wurden die Schuhe in Österreich abgesetzt. Bis zum Frühling 1938, als Österreich von den Nationalsozialisten annektiert wurde, besorgte der vormalige jüdische Fabrikeigentümer Hugo Gänsler das Tagesgeschäft. 277 Gänsler hatte in England eine Ausbildung zum Schuhindustriellen absolviert, in Wien dürfte er Iwan Bally, dem Präsidenten der Wiener Bally-Tochter, die eine oder andere verschlossene Türe aufgestossen haben. Als richtungsweisend sollte sich der Umstand erweisen, dass Gänsler, neben Ludwig Mises, Oskar Morgenstern und weiteren illustren Persönlichkeiten, dem Trägerverein der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle (WPF) angehörte. An die grosse sozialwissenschaftliche Tradition Wiens anknüpfend, wurde die WPF im Oktober 1931 gegründet; sie pflegte mit dem Psychologischen Institut Wien, dem Österreichischen Kuratorium für Wirtschaftlichkeit, dem Österreichischen Institut für Konjunkturforschung und dem Psychotechnischen Institut der Industriellen Bezirkskommission Wien enge Beziehungen. Die WPF schrieb sich die Erforschung der im Wirtschaftsleben dominierenden Motive auf die Fahnen. Wie anhand eines undatierten Werbeprospekts ersichtlich wird, umgarnte sie die Wissenschaft und Wirtschaft als Interessenten für ihre Sozialtechnik; 278 privatwirtschaftlichen Unternehmern stellte sie die «Ergänzung des ‹Fingerspitzengefühls› durch die systematische Untersuchung» in Aussicht. 279 Dass die Wissenschaftsgeschichte von der kurzlebigen, im Januar 1935 bereits wieder aufgelösten Forschungsstelle Notiz genommen hat, hängt mit Paul F. Lazarsfeld (1901—1976), dem Initiator und Leiter der WPF, zusammen. 280 Lazarsfeld war ein akademischer Grenzgänger, der die Forschung mit methodischen Anregungen voranbrachte und posthum in den Status eines Gründervaters der empirischen Sozialforschung gehievt wurde. 281 Die WPF entfaltete eine rege Forschungs- und Publikationstätigkeit und betrat in konzeptioneller (Themenspektrum, Fragestellungen) wie methodischer Hinsicht (Methodenkombination, Tiefeninterviews, teilnehmende Beobachtung) wissenschaftliches Neuland. Im Kontext der Weltwirtschaftskrise machte sich die arbeitsteilig organisierte und bis zu 20 Personen starke Forschungsstelle daran, die handlungsleitenden Motive von ArbeiterInnen und KonsumentInnen aus- 152 zukundschaften. Als bekannteste Untersuchung ist die 1933 publizierte Studie Die Arbeitslosen von Marienthal zu nennen, die nach den psychologischen Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit fragte und Resignation und Entpolitisierung zutage förderte. Neben den gesellschaftspolitischen führte die WPF immer auch kommerzielle Untersuchungen durch, die Grundlagenforschung wollte schliesslich refinanziert sein. 282 Ausserdem hatte sie den aus der Privatwirtschaft stammenden Mitgliedern des Kuratoriums zugesichert, dass die Wirtschaftspsychologie anwendungsorientiert und wirtschaftlich nutzbringend sei. 283 Wie der Kontakt zum schweizerischen Schuhkonzern genau zustande kam, lässt sich nicht mehr rekonstruieren — zu lückenhaft sind die in Schönenwerd greifbaren Quellenbestände. Die Arola-Schuh AG erteilte der WPF 1933 jedenfalls den Auftrag, die Schuhkaufmuster in den für Bally relevanten Städten Wien, Berlin und Zürich zu analysieren. Zürich sollte die Rolle der «Pionierstudie» zur Elastizität der Nachfrage nach Schuhen zukommen. Dem namentlich nicht ausgewiesenen Forschungsteam ging es darum, «die Verwendbarkeit der Methode an den Fragen des Züricher Schuhmarktes zu demonstrieren». 284 Ihr innovativer Charakter lag in der Verbindung von Recherchen mit der Befragung von 500 jungen Frauen und Männern. Die Durchführung der Tiefeninterviews wurde «Rechercheuren», das heisst PsychologiestudentInnen der Universität Wien, überantwortet. 285 Der vom Forschungsteam ausgearbeitete Fragenkatalog weist folgende Eckpunkte auf: «I. Bally und seine Konkurrenz»; «II. Der richtige Verkäufer»; «III. Probleme der Auslage»; «IV. Die Reklame» und «V. Qualität». Wiedergegeben wurden die Daten und Antworten in qualitativer (originaler Wortlaut) wie quantitativer (Verteilungen, Korrelationen, Indexierungen) Form. Die Auswertung und Aufbereitung zu wirtschaftspsychologischen Befunden nahm die Forschungsstelle im Mai 1933 vor. Die Marktuntersuchung «Schuhkauf in Zürich» bot einen veritablen Überschuss an Informationen. Die Arola-Verantwortlichen hatten sie einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen, da sich die WPF nicht am Wissenstransfer in den Betriebsalltag beteiligte. 286 Die wichtigsten beiden Erkenntnisse zum schweizerischen Schuhmarkt sind die folgenden: Als entscheidende Variable eines jeden Kaufs postulierte das Wiener Forschungsteam die soziale Struktur. Mit der Schichtung, Altersstufe und dem Geschlecht der KonsumentInnen hatten 153 3 Marktmacht die von der Arola angebotenen Waren und Verkaufslokalitäten zu korrespondieren. 287 «Dort also, wo das Geschlecht und soziale Stellung auf den Qualitätsschuh hindrängen, ist die Rolle von Bally am allergrössten.» 288 Zufriedenstellende Ergebnisse erzielte die Arola vor allem bei Käuferinnen unter 25 Jahren. Ausserdem wurde der vermeintlich routinehaften Alltagshandlung Schuhkauf eine Absage erteilt. Vielmehr beschrieben die Wiener Forscher den Kaufakt als einen komplexen und sich über die Zeit entfaltenden Interaktionsprozess, bei dem Aspekte wie der persönliche Charakter oder die Eigenschaft der Waren eine gewichtige Rolle spielen. 289 Angesprochen auf ihre Erwartungen an ein zukünftiges Verkaufsgespräch ist folgender Antwortschnipsel einer Hausfrau überliefert: «Die Verkäuferin soll mir raten können, was zu mir passt. Eine Fremde weiss das manchmal besser als man selbst.» 290 Während Lazarsfeld die Prämissen der Pionierstudie in mehreren Publikationen erläuterte und die spätere Marketinggeschichtsschreibung die Zürcher Befragung als konzeptionell innovativen Beitrag würdigte, 291 geriet sie im Schönenwerder Unternehmensgedächtnis alsbald in Vergessenheit. Der 1953 in den Schuhkonzern eingetretene Günter H. Bally (1928—2015) erklärte anlässlich eines Interviews zu seinem Berufsleben: «Es gab keine systematischen Abklärungen über Kundenbedürfnisse. […] Ich begann dann, mit dem Marktforschungsunternehmen Demoscope zusammenzuarbeiten, um festzustellen, an wen denn eigentlich unsere Schuhe verkauft wurden. Erstaunlich war, dass man erst sehr spät auf diese Idee kam. Aber man hielt bei Bally grundsätzlich nicht sehr viel von wissenschaftlichem Vorgehen und studierten Leuten.» 292 Ob diese Geschichtsvergessenheit mit der Selbststilisierung zum dynamischen Erneuerer, der Unkenntnis der Unternehmensgeschichte oder gar der Tabuisierung der «arisierten» Wiener Ableger zusammenhängt, lässt sich aufgrund der zur Verfügung stehenden Quellen nicht entscheiden. Geht man in die 1930er-Jahre zurück, sind zwei direkt aus der WPF-Studie hervorgehende Neuerungen auszumachen — das Wiener Skript entfaltete eine performative Wirkung. Als erste ist die vorgenommene Klassifizierung und Reorganisation des Arola-Filialnetzes zu nennen. Die Verkaufsgeschäfte wurden in drei Gruppen unterteilt, die eine frappierende Ähnlichkeit mit der von der WPF vermessenen und in sozialstatistische Kategorien kodierten Bally-Käuferschaft aufweisen: 154 Kodierung Kundschaft Sozialstruktur Verteilung der Stammkunden A1 / A2 ArbeiterInnen 66 % B1 / B2 Angestellte und kleiner Mittelstand C1 / C2 Freie Berufe und höherer Mittelstand 24 % D Oberschicht 10 % Tabelle 5 Sozialstatistische Kategorien der Bally-Käuferschaft durch die WPF, 1933 293 Kodierung Geschäfte Sozialstruktur Verteilung der Kunden D3 ArbeiterInnen 30 % D2 Angestellte und Mittelstand 60 % D1 Oberschicht 10 % Tabelle 6 Klassifizierung von Kundschaft und Geschäften der Arola-Schuh AG, ohne Datum 294 Die anspruchsvollsten und kaufkräftigsten KundInnen sollten in «Luxe- Geschäften» umsorgt werden. D1 war die betriebsinterne Kodierung für die gediegenen, an repräsentativen Adressen wie der Rue du Rhône in Genf, Freiestrasse in Basel oder Bahnhofstrasse in Zürich befindlichen Liegenschaften. «Die D2-Kollektion (Mittelgenre) ist für den Handel wie für die Industrie das eigentliche Brot. In dieser Kategorie werden die meisten Umsätze und noch gute Preise erzielt. Der Aufbau dieser Kollektion verlangt gründliches Studium der Marktlage.» 295 Das D2-Segment sollte 60 Prozent der Verkäufe umfassen. Mit D3 wurde in Arola-Dokumenten «kurante und demodierte» Fussbekleidung bezeichnet, die ArbeiterInnen in eher ländlichen Gebieten vorgesetzt wurde. Nicht übersehen werden darf der Nebeneffekt, dass die wirtschaftspsychologische Klassifizierung zu einer Optimierung der Lagerdrehung beitragen konnte. Das gleichzeitige Führen vom billigsten Arbeitsbis zum teuersten Abendschuh war vom betriebswirtschaftlichen Standpunkt aus problematisch und drohte Filialen in den defizitären Bereich zu stürzen. Vergegenwärtigen muss man sich auch, dass der Arola-Verkaufskatalog in der Frühlingssaison 1935 1175 Schuhartikel umfasste — ganz zu schweigen von dem Erfordernis, jeden Artikel in den gängigsten drei oder vier Schuhnummern anbieten zu 155 3 Marktmacht müssen. 296 Welche Schuhartikel die Arola in welchen Kategorien verkaufte, ist der Tabelle zu entnehmen: Verkaufskategorie Berichtsjahr 1936/ 37 Berichtsjahr 1937/ 38 Paare (absolut) Anteil (Prozent) Paare (absolut) Anteil (Prozent) Kinder 102 569 18,8 106 030 20,7 Frauen D1 44 443 8,1 43 540 8,5 Frauen D2 190 265 34,7 166 274 32,3 Express 10 948 2,0 12 470 2,4 Manns D1 11 832 2,2 12 637 2,5 Manns D2 124 298 22,7 114 397 22,2 Sport 24 313 4,4 25 547 5,0 Hygiene 38 728 7,1 32 809 6,4 Total 547 396 100,0 513 704 100,0 Tabelle 7 Arola-Verkaufsanalyse von «Lederartikeln», 1936—1938 297 Die zweite Neuerung, die mit der WPF-Studie in Zusammenhang gebracht werden kann, ist die psychologische Akzentuierung des Schuhsortiments. Hierfür wurde die für die Werbung und Marktkommunikation zuständige Bally-Tochter Agor AG beigezogen. Gemeinsam versuchte man auf die Wahrnehmung und Bewertung des Alltagsdings Schuh einzuwirken. Rhetorik und Spektakel sollten den Bally-Schuh unterscheidbar machen. 298 Was die Passform, Machart und Dauerhaftigkeit anbelangte, wussten nämlich auch die von Hug, Löw, Walder und Fretz vertriebenen Produkte viele KonsumentInnen zu überzeugen. Mit der vielbeschworenen «Qualitätsarbeit» und «Langlebigkeit» allein war es schwierig, auf dem von einem Überangebot gekennzeichneten Binnenmarkt Zugewinne zu erzielen, zumal der Schönenwerder Schuhkonzern im Vergleich mit der Konkurrenz hohe Fixkosten aufwies. Ein «Mehrwert» musste also her. 299 Diese Kommunikationsaufgabe fiel der Werbung zu, sie sollte ein «Spiel von Bedeutungen und Referenzen» entfachen. 300 Exemplarisch ist auf das Schuhhaus zum Pflug zu verweisen, das in seinen Prospekten und Plakaten verkündete: «Und vergessen Sie nicht, BALLY bietet mehr». Dieser Ausspruch mauserte sich Mitte der 1930er-Jahre zum offiziellen Leitspruch und war im Aussenauftritt der Arola-Schuh AG fast allgegenwärtig. 301 156 Nach 1936 lässt sich in der Bally-Marktkommunikation ein psychologisierender Duktus um Vertrautheit, Persönlichkeit und Werthaltigkeit nachweisen. Es war dies das Jahr, in dem die Arola-Geschäftsleitung begann, flächendeckende Personalschulungen und Verkaufskurse abzuhalten und in der Mitarbeiterzeitschrift Verhaltensrichtlinien für den Verkauf abzudrucken. In Anbetracht der regelmässig erscheinenden Zehn-Punkte-Listen und Leitfäden darf von einer grundlegenden Neuausrichtung der Sortiments- und Verkaufspolitik ausgegangen werden, die durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs allerdings jäh unterbrochen wurde. 302 Diese Chronologie deckt sich mit den Trends in der Ratgeberliteratur für Verkaufsgesprächsschulungen. In den 1930er-Jahren erfuhren die Psyche des Käufers, seine Eigenschaften, Charakterzüge und Be- Abbildung 26 «Bally bietet mehr» — der Leitspruch war Mitte der 1930er-Jahre allgegenwärtig. Im Wettbewerb mit den verbliebenen Schuhunternehmen schien ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis nicht mehr auszureichen, um Fussbekleidungen an die Frau beziehungsweise den Mann zu bringen. 157 3 Marktmacht weggründe viel mehr Aufmerksamkeit als in den Jahrzehnten zuvor; in den Anleitungen für den Einzelhandel wie auch den Handreichungen für Handelsreisende vereinnahmten psychologisierende Argumentationsmuster immer mehr Raum. 303 Der Arola-Direktive lag die Annahme zugrunde, dass es keine für alle Käuferklassen gleichermassen verbindlichen Qualitätskriterien gebe. Demzufolge wurden die Verkäuferinnen dazu ermutigt, Bally-Schuhe nicht zu verkaufen, sondern zu verschreiben. 304 Wichtig zu sehen ist, dass der Markt — imaginiert als Zusammenspiel anonymer Akteure und Waren — als negative Kontrastfolie herangezogen wurde. In einem Verkaufsratgeber von 1937 steht geschrieben: «Bally ist gekommen und hat den persönlichen und hygienischen Schuh geschaffen, den Schuh, der keine anonyme Jahrmarktsware ist, sondern der eine eigene Note hat und zur Persönlichkeit des Käufers spricht.» 305 An anderer Stelle wurde diese Persönlichkeit weiter aufgefächert: «Beim Verkauf eines Bally-Schuhes haben wir es jedoch mit drei Persönlichkeiten zu tun: der vorerst noch unbekannten Persönlichkeit der Käuferin oder des Käufers, derjenigen der Verkäuferin und auch mit derjenigen des Schuhes, hinter der in Modell und Aufmachung doch stets ein schöpferischer Gedanke lebt, so dass wir ihr die persönliche Note nicht absprechen dürfen. Aufgabe der Verkäuferin ist es nun, die belebte und die unbelebte Persönlichkeit aufeinander abzustimmen. Sie soll nicht etwa nur der Anwalt des stummen Modells, sondern zugleich auch Helferin und Beraterin der wählenden Persönlichkeit sein, ohne jedoch sich selbst mit der Verantwortlichkeit für die Wahl [zu] belasten.» 306 Mehr denn je wurde die Kaufstimulierung dem Verkaufspersonal überantwortet. Nicht so sehr die «harten», objektivierbaren Kriterien wie Funktionalität, Qualität oder Preis als vielmehr die «weichen» Kriterien, die sich an subjektiven Empfindungen, Vorstellungen und Wünschen orientierten, sollten zum Schuhkauf animieren. Anders ausgedrückt wurde eine der zentralen Thesen der Marktpsychologie vorweggenommen, die besagt, dass für KäuferInnen der semantische Raum und die Erlebnisdimension der Ware von entscheidender Bedeutung seien. 307 Die Arola-Schuh AG ging noch einen Schritt weiter: Sie versuchte die Persönlichkeit dem Alltagsding Schuh regelrecht einzuschreiben. Bei diesem Prozess brachte sie Werbung, Schaufenster, Ausstellungen, Filme und andere Medien mehr in Anschlag. 308 Für eine mediale Inszenierung eignete sich der 158 Schuh dank seiner reichen und im kollektiven Gedächtnis bestens verankerten Symbolik. Am Beispiel der Sandale, die in den 1930er-Jahren zur sportlichen Betätigung wie auch für festliche Abendveranstaltungen in Mode kam, soll dieser Sachverhalt näher ergründet werden. 309 Im Berichtsjahr 1936/ 37 beliefen sich die Bally-Verkäufe auf 17 322 Paare, in der Periode 1937/ 38 auf 16 689 Paare. 310 Um deren Verkauf weiter anzukurbeln, wurde eine Kampagne lanciert, aus der die Broschüre Sandalgeschichten von Bally aus dem Jahr 1935 genauer betrachtet werden soll. Im Stil historisierender Wandgemälde zeigt sie vier Huldigungs- und Kampfszenerien, in denen ägyptische, griechische, römische und helvetische Heroen Sandalen tragen. Dem sind vier Arbeits- und Freizeitabbildungen gegenübergestellt, in denen «einfache Leute» geschlossenes Schuhwerk tragen. 311 Mit dem Tragen von San- Abbildung 27 In Bally-Werbekampagnen fungierten Sandalen als Inbegriff von Freiheit, Freizeit und Fröhlichkeit. In der Zwischenkriegszeit wurden sie zu sportlichen ebenso wie zu festlichen Anlässen getragen. 159 3 Marktmacht dalen konnte man, so die Botschaft, den grauen Alltag hinter sich lassen und in die ruhmreiche Vergangenheit abtauchen. Nicht minder eindringlich als das bildliche fiel das narrative Register aus. Der potenziellen Kundin wurde das ehrwürdige Alter der Sandale vor Augen geführt, wozu eine narrative Verbindung bis zu den biblischen Gestalten König David oder Salomon gezogen wurde. Wegen ihrer im Lauf der Jahrhunderte unverändert gebliebenen Gestalt gehe von ihr ein hoher Wiedererkennungswert aus. Die Sandale sei, so wurde in der Broschüre pathetisch ausgeführt, «Symbol der Freiheit und Naturverbundenheit». Und weiter: «Die Sandale ist die grosse Vorkämpferin für die hemmungslose Bewegungsmöglichkeit der Zehen.» 312 Wer sich für den Kauf eines Schuhs entscheide, eigne sich zugleich auch seine Persönlichkeit an — im Fall der Sandale eine «lobenswürdige Gemütseigenschaft […], sie ist bescheiden, sie will nur Sandale sein. Sie ist grundehrlich und zurückgezogen und vielleicht gerade deshalb so glücklich. Aber im Grunde genommen ist sie immer voll Humor und grinsender Lustigkeit und lebt daher in bester Kameradschaft mit der zappelnd-übermütigen Zehenfamilie». 313 Unschwer zu erkennen ist, dass die narrative Konstruktion der Marktware keine originäre Schöpfung der Schönenwerder Werbeabteilung war, sondern dem literarischen Fundus von beseelten und bisweilen auch sprechenden Dingen entnommen wurde. In Grossbritannien gab es im 18. Jahrhundert ein Literaturgenre, in dem körpernahe Waren wie Kleidung, Schmuckstücke, Möbel, Transportmittel oder Geld als Ich-Erzähler agieren und die LeserInnen mittels abenteuerlicher Begebenheiten und Besitzerwechseln unterhalten. Aus dem Blickwinkel der Alltagsdinge konnte der Leser geschlechter- und sozialspezifische Räume durchmessen. 314 Zusammenfassung Die 1851 in kleingewerblichen Verhältnissen gegründete C. F. Bally AG stieg noch vor der Jahrhundertwende zum Branchenprimus der schweizerischen Schuhwirtschaft auf. Paradoxerweise verdankte Bally sein Wachstum auf dem Binnenmarkt gerade der Hinwendung zum Weltmarkt. Anfänglich durch das Misstrauen der KundInnen und die Abwehrhaltung des Schuhgewerbes zu diesem Schritt genötigt, lernte die Geschäftsleitung ab 1870 die angel- 160 sächsischen Schuhkenntnisse und -fertigkeiten bald zu schätzen. In regelmässigen Abständen wurden Studienreisen unternommen und die dabei gemachten Entdeckungen in die Schweiz transferiert. Namentlich das von Frederick W. Taylor entwickelte Scientific Management und weitere daraus abgeleitete, Effizienzsteigerungen verheissende Spielarten der Rationalisierung übten grosse Anziehungskraft aus. Bally begann sich zu «amerikanisieren» und avancierte zur Vorreiterin einer von Werkzeugmaschinen unterstützten und auf Grossserien ausgerichteten Schuhproduktion. Zugleich wurde Bally zur Taktgeberin des institutionellen Wandels des schweizerischen Schuhmarkts. Hervorzuheben ist, dass das Schönenwerder Unternehmen zu keinem Zeitpunkt eine monopolähnliche Stellung besass. Zum einen stand die Kleinräumigkeit der Schweiz einer Ausschöpfung der Produktivkräfte im Weg. Zum anderen wurde Bally von mittelgrossen, zwischen Aarau und Olten angesiedelten Schuhfabriken bedrängt. Von der räumlichen und sozialen Nähe profitierend, brachten sie die in Schönenwerd erprobten Produkt- und Verfahrensinnovationen in Erfahrung und begannen sie ihrerseits auszuschöpfen. Einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil vermochte auf dem schweizerischen Schuhmarkt nur zu erzielen, wer die gesamte Wertschöpfungskette kontrollierte. Auch hatten die Beschaffung des Rohmaterials, die Herstellung und Verteilung der Schuhe und die administrative Überwachung optimal ineinanderzugreifen. Vor diesem Hintergrund wandelte Bally 1921 seine Hilfsbetriebe und Schuhfabriken in einen vertikal integrierten, hierarchisch strukturierten und transnational ausgreifenden Schuhkonzern um. Mit der Reorganisation ging gleichzeitig eine neue Personalpolitik einher. Den im Tagesgeschäft aktiven Familienmitgliedern Iwan und Max Bally wurden polytechnisch gebildete Manager wie Hermann R. Stirlin zur Seite gestellt. In der Holdinggesellschaft verantworteten sie, getreu den Office-Management-Prinzipien, die Leitung des Bally-Konzerns. Statt sich den Kräften des Schuhmarkts zu fügen, gedachte das Führungsgremium das Marktgeschehen eigenhändig zu gestalten und näherte sich einem Unternehmenstypus im Sinn Alfred D. Chandlers Jr. an. Die Utopie währte allerdings nur kurz, im Betriebsalltag machten sich bald einmal Komplikationen bemerkbar. «Der Gegendruck heisst Mode, nicht nur die Mode in Damenhüten, Kleidern und Schuhen, die Mode greift viel weiter in alle häuslichen und menschlichen Bedarfsartikel hinein, und selbst in unsere Werkstätte 161 3 Marktmacht und Arbeitsräume schafft sie sich Zutritt. Sie ist eine Feindin alles Bleibenden, eine Feindin der Standardisation und sie erschwert in nicht geringem Mass die Rationalisierung», bemerkte Iwan Bally 1928 in resignativem Ton. 315 Modebedingte Marktwandlungen konnten einem Grossunternehmen jederzeit ernsthafte Probleme bereiten. Erschwerend kam in den 1930er-Jahren die wirtschaftliche Depression hinzu. Um die wegen der weggebrochenen Exportaufträge überzählig gewordenen Schuhe in den Binnenmarkt einzuspeisen, ging Bally neue Wege. Analog zu den polytechnischen «system builders» der Holdinggesellschaft wurden psychologisch geschulte «human engineers» beigezogen und beauftragt, die Effektivität des konzerneigenen Detailhandelsgeschäfts, der Arola-Schuh AG, zu erhöhen. Die Ansicht setzte sich durch, dass über den Kauf oder Nichtkauf eines Schuhs nicht nur objektive Gründe wie Preis oder Qualität, sondern auch subjektive, in der Symbolik ruhende Produkteigenschaften entschieden. Jede Käuferschicht sollte ein sozial adäquates Schuhgeschäft beziehungsweise Schuhsortiment vorfinden. Im historischen Rückblick können diese Anpassungen als eine Frühform der Marktpsychologie gedeutet werden. Fernab von Schönenwerd wurde das Wachstumsstreben kritisch gesehen, ab und an formierte sich Widerstand gegen Ballys Marktmacht. Zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg wurde Marktmacht weniger als wissenschaftliche Kategorie zur Messung und Beschreibung von Konzentrationsphänomenen aufgefasst, sondern vielmehr als politisches Schlagwort, das vermeintliche oder tatsächliche sozioökonomische Begleiterscheinungen adressierte. Der Kritikerreigen reichte vom Bundesrat Schulthess über den mittelstandspolitischen Aktivisten Beuttner bis zum marxistischen Wirtschaftspublizisten Pollux: Ersterer beanstandete die mit Marktmacht einhergehende konsumpolitische Verantwortung, die Bally während des Ersten Weltkriegs sträflich vernachlässigt habe; der Zweite beklagte das Los des rechtschaffenen, kleingewerblichen Schuhhändlers, der von Schönenwerd zum Austritt aus dem Schuhmarkt gedrängt werde; und Letzterer problematisierte die verschleierte Aushebelung des freien Spiels der Kräfte.