Franzosen in Berlin 

Einleitung (Martin Fontius)

Franzosen in Berlin - Über Religion und Aufklärung in Preußen. Studien zum Nachlass des Akademiesekretärs Samuel Formey Einleitung (Martin Fontius)10.31267/978-3-7574-0031-6Martin Fontius, Jens HäselerEinleitung (Martin Fontius ) Der Intensität, mit der in den letzten Jahrzehnten auf dem Gebiet der französischen Aufklärung für neue Ausgaben der Briefwechsel großer Autoren wie Bayle, Montesquieu, Voltaire, Rousseau und Diderot bzw. für die Sammlung und Herstellung von Briefeditionen zu Gestalten wie D ’ Alembert, Helvétius, La Beaumelle, Madame de Graffigny oder auch weniger illustrer Geister gearbeitet wird, korrespondiert eine Fülle von entsprechenden Studien und Analysen, für die Christiane Mervaud 1985 mit dem Buch Voltaire et Frédéric II : une dramaturgie des Lumières (1736 - 1778 ) neue Maßstäbe gesetzt hat. Wenn nicht alles täuscht, vollzieht sich mit diesen Forschungen jedoch gleichzeitig ein einschneidender Wertewandel. Dass der Herausgeber der Briefe von Voltaire in der renommierten Pléiade-Edition, Frédéric Deloffre, diese zweifellos außergewöhnliche Korrespondenz im Jahre 2003 als »le véritable chef-d ’œ uvre de l ’ homme aux mille talents que fut son auteur« 1 bezeichnen kann, wäre zu Beginn des 20. Jahrhunderts undenkbar gewesen. Nicht mehr die Werke selbst, deren Entstehungs- und frühe Wirkungsgeschichte die Briefe ja ursprünglich besser erklären sollten, sondern die Person des Autors scheint immer stärker in den Mittelpunkt des Interesses zu treten. Galten Briefe vor 200 Jahren als »die einzelnen Belege der großen Lebensrechnung, wovon Taten und Schriften die vollen Hauptsummen darstellen«, wie Goethe 1804 in einer Anzeige von Winckelmann-Briefen schrieb, 2 1 Frédéric Deloffre im Artikel »Correspondance«, in : Raymond Trousson/ Jeroom Vercruysse (éd ), Dictionnaire général de Voltaire, Paris 2003, S. 251. 2 Johann Wolfgang Goethe, »Ungedruckte Winckelmannsche Briefe (1804 ). Vorankündigung des Werkes › Winckelmann und sein Jahrhundert ‹ «, in : ders., Kunsttheoretischeint unsere Zeit inzwischen, als müsse sie die Diagnosen vom »Tod des Autors« wörtlich nehmen, unmittelbare Lebenszeugnisse, wie sie Briefe von Autoren vergangener Zeiten sind, als Dokumente von unvergleichlicher Authentizität zu schätzen. Die folgenden Studien zum Nachlass Formeys, der als Ständiger Sekretär seit 1748 ein halbes Jahrhundert »mit dem glanzvollsten Abschnitt in der Geschichte« 3 der Preußischen Akademie verbunden war, gehören zu dieser breiten Forschungstendenz. Sie unterscheiden sich jedoch durch einige Besonderheiten, die zunächst damit zusammenhängen, dass diese Korrespondenz in der Hauptsache eine passive ist. Von den insgesamt 17.100 erfassten Briefen stammen 1.200 von Formey selbst. Dieses auffällige Verhältnis erscheint nur dann als bedenklich, wenn es mit den umgekehrten Proportionen bei großen Schriftstellern verglichen wird, was nicht legitim ist. Die angemessene Perspektive kann nur sein, dass bei einem Autor, der keine epochemachenden Werke schrieb, von den Zeitgenossen aber durchaus geschätzt war, das sorgfältige Sammeln und Aufbewahren aller an ihn gerichteten Briefe selbst eine Tat ist. Die Preußische Akademie, deren Korrespondenz er führte, hat nach seinem Tod von den Erben zwar die Aushändigung der dienstlichen Korrespondenz verlangt, die Sache dann aber aus den Augen verloren. 4 Ohne die Intervention Varnhagens in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts wäre der wertvolle, damals schon lückenhafte Nachlass, über dessen Bedeutung und Schicksale Jens Häselers Einleitung zum Inventaire alphabétique 5 informiert hat, wohl vollständig der Zeit zum Opfer gefallen. Was die statistische Aufschlüsselung der Briefe nach Expeditionsorten ans Licht brachte, war eine Überraschung. Formeys Korrespondenz, gerühmt sche Schriften und Übersetzungen. Schriften zur Literatur I, Berlin 1970, S. 357 (Berliner Ausgabe, Bd. 17 ). 3 Werner Krauss, »Ein Akademiesekretär vor 200 Jahren : Samuel Formey«, in : ders., Studien zur deutschen und französischen Aufklärung, Berlin 1963, S. 53. 4 Wolfgang Knobloch, »Der Sekretär der Akademie. Ein Blick auf die archivalische Quellenlage«, in : Jannis Götze/ Martin Maiske (Hgg.), Jean Henri Samuel Formey. Wissenschaftsmultiplikator der Berliner Aufklärung, Hannover 2016, S. 26 - 38. 5 »Introduction«, in : Jens Häseler (éd.), La Correspondance de Jean Henri Samuel Formey (1711 - 1797 ): Inventaire alphabétique. Avec la Bibliographie des écrits de Jean Henri Samuel Formey établie par Rolf Geißler, Paris 2003, S. 9 - 33. 10 Einleitung als »une source inégalée pour la connaissance d ’ une Europe des Lumières francophone hors de France«, 6 erwies sich vor allem als eine Quelle deutscher Geschichte. Zwei Drittel aller Sendungen wurden innerhalb der Grenzen des Alten Reiches aufgegeben, obwohl nur vier Prozent in deutscher Sprache verfasst sind. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Inhalt und Frankophonie gibt dem Nachlass ein spezifisches Profil. Der Studienband sucht dem skizzierten Sachverhalt dadurch Rechnung zu tragen, dass er die Person des Adressaten, die Situation der Réfugiés- Nachkommen und die Ideengeschichte des Jahrhunderts als seine Schwerpunkte betrachtet. Die Person, der eine solche Masse von Nachrichten kommuniziert wurde, war mit ihren eigenen Schriften zu erfassen, und diese waren zu situieren. Und weil auch die gedruckten Arbeiten Formeys außerordentlich umfangreich und mannigfaltig sind und - denkt man an die Rezensionen - wohl nie vollständig erfasst werden können, begegnen sie in den folgenden Studien, nach den wichtigsten Genres unterschieden, je nach ihrer Quantität bald im Panoramablick, bald in Nahaufnahme, hier als Bestandteil der reformierten Predigttradition, dort als Beitrag von Enzyklopädien. Darüber hinaus versteht sich der Band als ein integrierender Bestandteil eines größeren Forschungsprogramms, das einige Jahre am Potsdamer Forschungszentrum Europäische Aufklärung der systematischen Erschließung des Nachlasses gewidmet war. Der erste Band, enthaltend das alphabetische Verzeichnis der Gesamtkorrespondenz sowie eine Bibliographie der Formey ’ schen Schriften, ist 2003 unter dem Titel La Correspondance de Jean Henri Samuel Formey (1711 - 1797 ): inventaire alphabétique in Paris erschienen. Da über 90 Prozent aller Briefe in französischer Sprache geschrieben sind, lag es nahe, auch das Repertorium auf Französisch vorzulegen. Als dritter Bestandteil des Programms befindet sich in Vorbereitung eine »Documentation chronologique générale«, eine chronologisch geordnete Briefauswahl, die knapp den zwanzigsten Teil der Korrespondenz präsentieren wird, allerdings weitgehend nur in Auszügen. Die hier in deutscher Sprache vorgelegten Studien sind somit als das analytische Pendant der beiden anderen 6 André Bandelier im Artikel »Formey«, in : Raymond Trousson/ Frédéric S. Eigeldinger (éd.), Dictionnaire de Jean-Jacques Rousseau, Paris 1996, S. 346. Einleitung 11 Teile zu verstehen, die sich auf eine ungedruckte Korrespondenz beziehen. Dies ungewöhnliche Verfahren der Erschließung, das in dieser Form wohl noch nicht versucht wurde - numerisch vollständige Erschließung aller Briefe in einem Inventarband, eine repräsentative Auswahl von Briefen als Textgrundlage für weitere Untersuchungen und ein begleitender Studienband als Kommentar zum Ganzen - , war zwangsläufig nicht nur mit beträchtlichem Zeitaufwand verbunden ; es ist auch nicht ohne Risiko und trägt in mancher Hinsicht Versuchscharakter. Die Autoren sind sich bewusst, dass ihnen mehr Irrtümer unterlaufen sein mögen, als das üblich ist, wenn man auf der Grundlage von gedruckten Korrespondenzen arbeiten kann, mit gesicherten Texten, erschlossen durch Register zu Personen und Sachen. Weil die Fertigstellung des Bandes sich viel länger hinauszögerte als zunächst angenommen, ist ein Überblick zu Formey als Journalist bereits an anderer Stelle erschienen. 7 Drei der früheren Mitarbeiter haben das Erscheinen des Bandes nicht mehr erlebt. Wir bedauern den schmerzlichen Verlust von Rolf Geißler ( † 2004 ), Christiane Berkvens-Stevelinck ( † 2017 ) und Renate Petermann ( † 2018 ). Inzwischen sind einige Teileditionen gedruckt, die bei der Erarbeitung der meisten Kapitel noch nicht zur Verfügung standen. In abgestimmter Kooperation haben Forscher aus den Niederlanden und der Schweiz, mit 739 bzw. 628 die beiden wichtigsten Herkunftsländer nach Frankreich mit 838 Sendungen, zur Erschließungsarbeit ganz wesentlich beigetragen. Geordnet nach dem Erscheinungsjahr seien alle gedruckten Editionen hier genannt : Correspondance passive de Formey. Antoine-Claude Briasson et Nicolas-Charles-Joseph Trublet. Lettres adressées à Jean Henri Samuel Formey (1739 - 1770 ). Textes éd. par Martin Fontius, Rolf Geißler et Jens Häseler, Paris- Genève 1996, 440 S.; Lettres d ’ Elie Luzac à Jean Henri Samuel Formey (1748 - 1770 ). Regards sur les coulisses de la librairie hollandaise au XVIIIe siècle, éd. par Hans Bots et Jan Schillings, Paris 2001, 414 S.; 8 Lettres de 7 Annett Volmer, »Journalismus und Aufklärung. Jean Henri Samuel Formey und die Entwicklung der Zeitschrift zum Medium der Kritik«, in : Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 9 ( 2007 ), S. 101 - 129. 8 Diese Edition und die hier folgenden Editionen bei Honoré Champion, Paris, in der von Antony McKenna herausgegebenen Reihe : Vie des Huguenots. 12 Einleitung l ’ Angleterre à Jean Henri Samuel Formey à Berlin, de Jean Des Champs, David Durand, Matthieu Maty et d ’ autres correspondants (1737 - 1788 ), éd. par Uta Janssens et Jan Schillings, Paris 2006, 369 S.; Lettres de Genève (1741 - 1793 ) à Jean Henri Formey. Edition critique établie par André Bandelier et Frédéric Eigeldinger, Paris 2010, XV, 928 S.; Emer de Vattel à Jean Henri Samuel Formey. Correspondances autour du Droit du gens. Edition critique établie par André Bandelier, Paris 2012, 251 S. 9 Die für die Textauswahl notwendige Durchsicht der Originalbriefe, die vielfach erst in eine chronologische Ordnung zu bringen waren, hat für den Berliner Nachlass Formey Renate Petermann in entsagungsvoller Arbeit unternommen. In diesem Zusammenhang hat sie bereits 1985 mit Briefen von Elie Bertrand eine erste Teiledition von Briefen aus dem Nachlass vorgelegt. 10 Die von ihr zum Berliner Nachlass Formey erstellten Briefregesten wurden in einem zweiten Schritt der inhaltlichen Briefauswahl zugrunde gelegt. Dabei sind Nachrichten über die Berliner Akademie und ihre Preisfragen, über Wörterbuchprojekte und die Mitarbeit Formeys an der Enzyklopädie, über Zeitschriften sowie alle für die Entwicklung von Wissenschaft und Geistesleben aufschlussreichen Angaben von Anfang an als privilegiert betrachtet worden. Aber auch der Gedankenaustausch der reformierten Pfarrer mit ihrem berühmt gewordenen »Bruder«, Angaben über das Leben der »Kolonie« und über die Schriften Formeys wie das Buchwesen überhaupt sollten angemessen dokumentiert werden, obwohl hier angesichts der Massen an Material die Auswahl sehr viel rigoroser zu handhaben war. Unerwartet reichhaltig flossen schließlich Quellen über die Geschicke von Hauslehrern und Erzieherinnen, ein Thema, für das eine repräsentative Auswahl angestrebt wurde. Relativ früh kristallisierten sich auf diese Weise inhaltliche Schwerpunkte heraus, die weitgehend den verschiedenen Funktionen im 9 Hinzu kommen die nicht monographisch erschienenen Editionen : Hans Bots/ Jan Schillings (éd.), »La Correspondance de Pierre Mortier (1704 - 1754 ) et Jean Schreuder ( + -1715 - 1778 ), échangée avec Jean Henri Samuel Formey (1748 - 1770 ), journaliste de la Nouvelle Bibliothèque germanique ( entre 1749 et 1754 )«, in : LIAS 27,2 ( 2000 ), S. 229 - 276, sowie Jan Schillings (éd.), »La correspondance entre Formey et Marchand (1736 - 1749 )«, in : LIAS 39 ( 2012 ), S. 231 - 320. 10 Renate Petermann, »Briefe eines Berners [Elie Bertrand, 1753 - 1766] an J.-H.-S. Formey«, in : Beiträge zur Romanischen Philologie 24 (1985 ), S. 43 - 64. Einleitung 13 Leben des Akademiesekretärs entsprachen, deren eingehendere Untersuchung sinnvoll schien. Und da das Leben stets unter bestimmten Bedingungen sich vollzieht, durften am Anfang und zum Schluss vorwiegend historische Darstellungskapitel nicht fehlen, in denen die Ausgangskonstellation für die zweite Generation und die veränderten Bedingungen der beiden folgenden Generationen zu skizzieren waren. Mit den inhaltlichen Schwerpunkten sollten zum ersten Male Hauptachsen durch den Urwald dieser riesigen Korrespondenz geschlagen werden, um eine bessere Orientierung zu ermöglichen. Im Ergebnis sind diese »Schneisen« freilich, bezieht man sie gedanklich auf die Masse der jeweils relevanten Dokumente, höchst unterschiedlich ausgefallen, und das bedarf einiger Erläuterungen. Ein Unterschied zeigt sich zunächst bei den benutzten Quellen : Die Kapitel eins bis vier sind überwiegend nach gedruckten Quellen erarbeitet, während die Kapitel fünf bis sieben aus gedruckten und ungedruckten Quellen schöpfen. Das erste Kapitel »Religion und Aufklärung in Preußen : der Beitrag der Hugenotten« betrachtet die Entstehung der Flüchtlingskolonie in Brandenburg-Preußen als Grundlage der in den Folgekapiteln dargestellten Entwicklung. Es orientiert mit der Frage, inwieweit die Einwanderung reformierter Franzosen als Indikator und Faktor für die Veränderung des Verhältnisses von Religion und Politik in Preußen anzusehen ist, auf den Zusammenhang historischer und ideengeschichtlicher Prozesse. Am Beginn des 18. Jahrhunderts führen die konfessionellen und konfessionspolitischen Auseinandersetzungen unmittelbar zur Diskussion des Verhältnisses von Religion und Aufklärung. Die damals in die Debatten der République des lettres eingebrachten Themen - exemplarisch dargestellt sind Arbeiten von Charles Ancillon, Jacques Lenfant und Isaac de Beausobre - erweisen sich als Nährboden für die spezifisch preußische Konstellation von Aufklärungsdenken in der Regierungszeit Friedrichs II. Sie erhellen einen Teil der geistigen »Herkunft« und wissenschaftlichen Überzeugungen der Generation Formeys und ermöglichen ein besseres Verständnis für die Wirkung seiner wissenschaftlichen, kommunikativen und publizistischen Tätigkeit. Die thematische Beschränkung auf »Prediger der Französischen Kirche in Berlin« im zweiten Kapitel war angesichts der 360 Geistlichen unter den Korrespondenten, darunter 233 protestantische Pastoren, dringend geboten, wenn über den Glaubensinhalt etwas Genaueres vermittelt werden sollte, für 14 Einleitung den die reformierten Hugenotten in die Emigration gegangen waren. Die Analyse von Predigttexten von Jacques Abbadie, Jacques Lenfant, Isaac de Beausobre und Formey selbst gibt von der Veränderung dieses Genres von der Vertreibung bis zur Jahrhundertmitte ein eindrucksvolles Bild, in dessen Zentrum »le grand Beausobre« steht, dessen Kanzelrhetorik auch den Kronprinzen Friedrich beeindruckte. Aufgeschlagen ist damit ein wichtiges Kapitel aus dem spirituellen Leben der französischen Kolonie, das geprägt wurde von einer Schicht, deren Mitglieder gleichzeitig geistliche Führer und geschichtliche Akteure waren, was in der Geschichte der Intellektuellen selten zusammen begegnet. Zugleich ist eine Forschungslücke geschlossen, da in Walter Wendlands »Studien zum kirchlichen Leben in Berlin um 1700« die Ausarbeitung des Schlusskapitels über die »Französische Kirche« über Vorarbeiten nicht hinausgediehen war. 11 ‒ In die Darstellung nicht mehr einbezogen ist die Zäsur des Jahres 1763, als die Pfarrer, wie zuvor schon in Holland und England, auch in Berlin dazu übergingen, ihre Predigten nicht mehr auswendig zu lernen, um sie dann lebendig vorzutragen, sondern nur noch abzulesen. Diese Wandlung hängt sicher auch mit der Nachwuchskrise in der Kolonie zusammen, über die in der Formey-Korrespondenz seit Ausgang der 1750er Jahre geklagt wird. 12 In erster Linie aber zogen die Kirchen damit die Konsequenz aus der verlorenen Konkurrenz mit dem Theater, gegen dessen erstes Auftauchen in Berlin 1690 Pietisten wie orthodoxe Lutheraner heftig protestiert hatten. Wie langsam, aber unaufhaltsam der Niedergang der Kolonie in der dritten Generation insgesamt sich vollzog, darauf wirft der Bericht des 1758 in Halberstadt geborenen Samuel Henri Catel ein Schlaglicht, als er 1781 die französische Gemeinde in der Stadt Brandenburg übernahm, in der 50 Jahre zuvor Formeys Laufbahn als Pfarrer begonnen hatte : Der Zustand der Gemeinde sei finanziell gesund, die gute Hälfte nehme am kirchlichen Leben teil, dazu gebe es viele deutsche Zuhö- 11 In der »Nachschrift« versieht er seine Aufgabenstellung, »die von Frankreich und Genf her beeinflußte Theologie der französischen Prediger darzustellen«, mit dem Zusatz : »Bisher ist man dieser Aufgabe nirgends, auch nicht in Murets Buch, näher getreten«. Walter Wendland, »Studien zum kirchlichen Leben in Berlin um 1700«, in : Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 21 (1926 ), S. 197. 12 Jean Deschamps an Formey, Londres, 16. 9. 1763 (CV), gedruckt in : Lettres de l ’ Angleterre, a. a. O., S. 87. Einleitung 15 rer : »Tout le beau monde«. 13 Die positiven Nachrichten können das entscheidende Problem jedoch nicht kompensieren : Den fortschreitenden Verlust der Jugend durch deren mangelnde Französischkenntnisse. Von dem im Januar 1781 verstorbenen Amtsvorgänger Durant sei noch der verzweifelte Ausruf im Umlauf, mit dem er die Kinder wegjagte : »Allez aux allemands, vous n ’ êtes que des bêtes ! « 14 Dieser Charles de Durant gehört zu jener Gruppe von Pfarrern bzw. Pfarrerdynastien, von denen jeweils an die 100 oder mehr Briefe an Formey überliefert sind. Wenigstens die Namen dieser › Säulen ‹ des geistigen Kolonielebens seien hier genannt, um eine Vorstellung von den Dimensionen der Korrespondenz der reformierten Geistlichen zu ermöglichen : Bocquet ( 98 ), Causse ( 79 ), Durant (137 ), Erman (131), George (156 ), Hugo ( 374 ), Pajon (105 ), Pelet (104 ), Theremin (177 ). Der intensive Gedankenaustausch mit diesen Pfarrern ist für die Haltung Formeys auch als Philosoph schwerlich zu überschätzen, zumal er den Wechsel von der Kanzel auf das philosophische Lehramt am Französischen Gymnasium 1739 nicht als eine Zäsur begriff, sondern als eine weitere »Berufung«, »où il s ’ agit de poser les fondemens sans lesquels la Religion elle-même coulerait! «, oder konkreter als Auftrag, die künftigen Prediger zu gewöhnen »[ … ] à allier les lumières de la Raison à celles de la Révélation.« 15 Mit Ausnahme von Jean Pierre Erman, der sich als Historiograph der Hugenotten einen Namen machte und 1786 Akademiemitglied wurde, sind diese Prediger alle vergessen. Man darf davon ausgehen, dass Formeys Korrespondenz mit diesen reformierten Pastoren ein ganz anderes Gesicht hat als der Austausch mit seinen akademischen Kollegen. Doch auch in den langen Sequenzen völlig unbekannter Briefeschreiber können sich die erstaunlichsten Dinge finden, wie bei dem erwähnten Durant, der die 50 Jahre seines aktiven Berufslebens seit 1731 als Pfarrer in Brandenburg verbracht hat, der nie mit einer eigenen Schrift hervorgetreten ist, uns ausschließlich in den 137 Briefen an Formey greifbar ist, wonach er dessen 13 Samuel Henri Catel an Formey, Brandebourg, 1. 11. 1781 (CV). 14 Ebenda. 15 Formey, Sermons sur divers textes de l ’ Ecriture Sainte, Berlin 1739, S. 149. Die letzte Predigt der Sammlung, zugleich die Abschiedspredigt von seiner Gemeinde. 16 Einleitung Zeitschriften gelegentlich mit Rezensionen unterstützte, wie 1761 mit einer scharfen Kritik an Klopstock. 16 Es verrät etwas von dem Grade der Vertrautheit mit dem deutschen Geistesleben, wenn dieser Freund Formeys auf die Nachricht, die philosophische Klasse habe sich für die Preisfrage »Über die Evidenz in den metaphysischen Wissenschaften« entschieden, im Dezember 1761 mit der Antwort reagiert : »Je me suis mis dans la tête que le juif Moses remportera le prix de l ’ Académie«. Als Gründe für diese erstaunliche Prognose führt er an : Il écrit bien, parle métaphysique assez nettement et comme la possédant, il censure selon mon goût les livres dont il fait l ’ extrait, au moins si ce que j ’ ai lu est de lui, comme on m ’ en assure. Il a fait une apologie critique des lettres à Keith et à Maupertuis où il y a de la politesse et de la finesse. De plus Klopstock n ’ est pas son homme. 17 Mendelssohn ist 1763 in der Tat der Preisträger geworden. Er war seit November 1760 der Hauptverfasser der »Literaturbriefe«, wo er im 99. und 100. Stück die anstößigsten Gedichte des preußischen Königs souverän rezensiert hat; nur die Klopstock-Kritik geht auf das Konto Lessings. Dass ein obskurer Pastor der französischen Gemeinde in Brandenburg regelmäßig die seit Januar 1759 wöchentlich in Berlin erscheinenden »Literaturbriefe« las, um sich über Neuerscheinungen zu informieren, dass er sich bei anderen Lesern der Stadt nach dem Verfasser erkundigt hatte, weil ihm in dieser ersten Literaturzeitschrift in deutscher Sprache von Rang die weniger polemisch gehaltenen Rezensionen Mendelssohns offenbar aus der Seele gesprochen waren und er deshalb auf »den Juden Moses« als nächsten Preisträger wettet, das lässt sich auch so paraphrasieren: Die französische Sprache ist für diese Predigergeneration noch das selbstverständliche Kommunikationsmedium, und mit kritischer Aufmerksamkeit verfolgen sie die französischen Neuerscheinungen. Hatte bisher schon die in Deutschland hochgehaltene Metaphysik jene Ebene gebildet, auf der sich eine Abgrenzung zu den in Frankreich dominant werdenden religionsfeindlichen »Lumières« und damit ein Identitätswandel der Koloniegeistlichkeit anbahnen musste, rückte das Unternehmen der »Literaturbriefe« mit 16 Charles de Durant an Formey, Brandebourg, 7. 9. 1761 (FF ). 17 Charles de Durant an Formey, Brandebourg, 6. 12. 1761 (FF ). Einleitung 17 seiner bewussten Vermittlung zwischen Gelehrsamkeit und Poesie das aufblühende deutsche Geistesleben in den Blick und ermöglichte nun nach der philosophischen auch die ästhetisch-gefühlsmäßige Assimilation. Der Satz »[E]r kritisiert nach meinem Geschmack« bringt genau das zum Ausdruck. Vielleicht kann man noch einen Schritt weiter gehen und diesem Mendelssohn-Kenner die Anzeige von dessen 1755 anonym erschienenen Philosophischen Gesprächen in Formeys Nouvelle Bibliothèque germanique zuschreiben, während Formeys Rezension der Briefe über die Empfindungen zur gleichen Zeit in der Bibliothèque impartiale erschien. Durants Text, von der Mendelssohn-Forschung bisher übersehen, 18 würdigt das Erscheinen des Werkes als Beginn eines Gesinnungswandels gegenüber der verachteten jüdischen Nation. Bisher ganz dem Handel hingegeben und »in einer Art von Sklaverei« lebend, ist das Auftreten eines »génie élevée«, das einmal das Ansehen Spinozas erwerben werde, ein Phänomen der Verheißung. Mit der These, die mit dem Namen von Leibniz verbundene philosophische Hypothese der prästabilierten Harmonie finde sich schon in Spinozas Ethik, sowie der Diagnose, die Verachtung der Metaphysik in Deutschland sei Resultat der Nachahmung der Franzosen, gibt Durant eine genaue Positionsbestimmung des jüdisch-deutschen Philosophen. 19 Auch das dritte Kapitel ist das Ergebnis einer außerordentlichen Engführung. 20 Vorgesehen war zunächst das Thema »Zwischen Aufklärung und Lumières«, um einmal die spezifische Stellung der Réfugiés-Nachkommen im Spannungsverhältnis zwischen deutscher und französischer Aufklärungsbewegung herauszuarbeiten und zum anderen von der Fülle bisher unbekannter Zeugnisse, die in der Korrespondenz über eine Vielzahl deutscher wie 18 Vgl. Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 22 : Dokumente I. Entlegene zeitgenössische Texte zu Moses Mendelssohns Leben und Wirken, bearb. von Michael Albrecht, Stuttgart 1995, S. 18. 19 Nouvelle Bibliothèque germanique 17 (1755 ) ( octobre - décembre ), S. 419 - 430, und Bibliothèque impartiale 12,3 (1755 ) ( octobre - décembre ), S. 437. 20 Eine erste Positionsbeschreibung findet sich in : »Zwischen › libertas philosophandi ‹ und › siècle de la philosophie ‹ . Zum geistesgeschichtlichen Standort Formeys und der zweiten Generation des Refuge«, in : Michel Delon/ Jean Mondot (éd.), L ’ Allemagne et la France des Lumières. Deutsche und französische Aufklärung. Mélanges offerts à Jochen Schlobach, Paris 2003, S. 45 - 68. 18 Einleitung französischer Aufklärer enthalten sind, eine Vorstellung zu vermitteln. Davon ist nur der erste Teil eingelöst, konzentriert auf die intellektuelle Biographie des Akademiesekretärs, der wohl als Erster überhaupt den Literaturcharakter der französischen Aufklärung kritisch beobachtet und aus der Sicht der deutschen Philosophie mit begrifflicher Differenzierung darauf reagiert hat. Gleichzeitig hat Formey mit seinen theologischen und moralphilosophischen Arbeiten einen Beitrag zur Entwicklung der deutschen Neologie geleistet, d. h. zur Aufklärung in der protestantischen Theologie, was nicht nur Zeitgenossen wie Jerusalem und Spalding, sondern auch Lessing und Mendelssohn zu würdigen wussten. Er ist damit Vertreter einer besonderen Spezies von Aufklärern, bei der es nicht genügt, bloß die eine Seite ( den Kritiker der französischen »philosophes«) zu beleuchten, die andere Seite aber, den Alliierten der deutschen Aufklärer, im Dunkel zu lassen, weil gerade hier der geistige Wurzelboden der Kritik zu suchen ist. Dieser Positionsbestimmung vorangestellt sind drei später geschriebene Abschnitte des Kapitels. Zunächst zur langjährigen, doch von beiden Seiten distanziert-ambivalenten Beziehung zwischen König und Akademiesekretär. Nach zeitgenössischen Quellen folgt dann ein Bild des Akademiepräsidenten Maupertuis, vor dem das von Voltaire der Öffentlichkeit suggerierte und seit langem als historische Wahrheit tradierte sich als haltlos erweist. Nachdem Voltaires Briefe aus Preußen an seine Nichte schon im vorigen Jahrhundert als Falsifikate nachgewiesen wurden, erhält die Stimme Formeys ein ganz neues Gewicht und ist zusammen mit den aus Berlin stammenden Berichten an Haller als historische Hauptquelle anzusehen. Im vierten Kapitel »Französische Bücher und Buchhändler in Berlin« sind zwei Bücher Formeys ausgewertet, die Conseils pour former une bibliothèque peu nombreuse mais choisie von 1746 und der Catalogue raisonné de la librairie d ’ Etienne de Bourdeaux von 1754/ 55. Beides sind Auftragswerke, das eine gibt aristokratischen Sammlern in Preußen bzw. Deutschland aktuelle Empfehlungen über 430 Werke, das andere ist ein alphabetisch geordneter Katalog über 2.233 Titel der seit 1749 in Berlin bestehenden Buchhandlung Bourdeaux. Das Buch ist durch knappe Kommentare oder charakteristische Zitate geeignet zum Nachschlagen wie zu fortlaufender Lektüre, wobei der anonym bleibende Formey aus seinen Präferenzen und Aversionen kein Hehl zu machen braucht. Es kennzeichnet die privilegierte Stellung Hollands im Geschäft mit dem französischen Buch, dass 1746 wie Einleitung 19 1754/ 55 die Hälfte aller Titel von dort stammt, genauso viele wie aus Frankreich selbst. Auch zum Thema »Bücher und Verleger« enthält der Nachlass weitere Quellen. So beauftragten viele Prediger in der Provinz bei Bibliotheksversteigerungen in Berlin ihre früheren Kollegen mit ihren Wünschen, so dass sich Elemente zur Rekonstruktion ihrer Handbibliotheken zusammentragen ließen. Aus dem von preußischen Truppen besetzten Sachsen kam am 19. Juli 1760 die Nachricht von Gottsched, trotz des Krieges und des allgemeinen Elends erlebe der Buchhandel in Leipzig einen Aufschwung. 21 Da Gottsched im Hause Breitkopf wohnte, ist diese erstaunliche Mitteilung wohl ernst zu nehmen. Aber auch zur Lage des Verlagswesens in Frankreich gibt es aufschlussreiche Hinweise. So hat der Berliner Verleger Pitra 1767 die gesamte in Paris gedruckte, aber verbotene Auflage der Histoire philosophique de l ’ homme übernommen und wollte sie als Titelauflage mit einer Widmung an den polnischen König herausbringen. Das Buch bilanziert die große zeitgenössische Diskussion zur Sprachtheorie und Anthropologie. Formey berät Pitra und schreibt die erbetene Widmung. Das Werk erscheint im gleichen Jahr mit der Widmung an den Fürsten Czartoryski. 22 Unter dem weit gefassten Stichwort »Enzyklopädismus« sind im fünften Kapitel die verschiedenen Wörterbuchunternehmen untersucht, an denen Formey als Mitarbeiter beteiligt war oder die er als Autor selbst verantwortet hat. Der weit gespannte Bogen reicht dabei von der Pariser Enzyklopädie, dem Hauptwerk der französischen Aufklärung, bis zu einem für ältere Schüler und Jugendliche bestimmten mehrbändigen Abrégé de toutes les sciences. Für eine angemessene Wertung der Formey ’ schen Beiträge zur großen Enzyklopädie erweist sich als unumgänglich, ihre geistesgeschichtliche Herkunft aus dem Projekt seines »Dictionnaire philosophique« zu würdigen, dem Versuch einer Synthese zwischen der kritischen Wörterbuchtradition im Sinne Bayles und einem philosophischem Denken in Wolff ’ schen Bahnen, ein Vorhaben, das seine inneren Schwierigkeiten besessen haben muss und abgebrochen wurde, sobald das Projekt einer Enzyklopädie in Frankreich am Horizont auftauchte. Formeys Differenz zu den »Lumières« in Frankreich kommt deutlich in dem positiven Verhältnis zu den »livres classiques« zum Aus- 21 Gottsched an Formey, Leipzig, 19. 7. 1760 (CV) 22 Samuel Jean Pitra an Formey, Berlin, 14. 2. 1767 und 17. 2. 1767 (CV). 20 Einleitung druck : Für die Pariser Enzyklopädisten wäre ein solcher Schritt ganz praktischer »Aufklärung« auf diesem Sektor undenkbar gewesen, obwohl sie sich des tiefgreifenden Reformbedarfs der »Collèges« natürlich bewusst waren. In ein weites Feld führt das sechste Kapitel über Erziehungsprobleme in den Jahren vor und während der Herausbildung der Pädagogik als eigener Disziplin. 23 Formey hat nicht, wie viele seiner Zeitgenossen, die Funktion eines Hauslehrers bei mehr oder weniger Vermögenden ausgeübt. Er hat aber am Anfang seiner beruflichen Laufbahn die zusätzlichen Einnahmen, die Pensionäre im eigenen Hause einbrachten, in Anspruch genommen und war insofern das, was bei den Zeitgenossen ein »praktischer Erzieher« hieß. Sein genuines Interesse an Erziehungsfragen hat Formey vom Beginn seiner Laufbahn an in verschiedenen Essays zum Ausdruck gebracht. Die Entwicklung privater Erziehungsanstalten mit ihrer stimulierenden Wirkung auf die pädagogische Reflexion wird als das faszinierendste Phänomen herausgestellt. Die moderne Pädagogikforschung hat sich allerdings den Blick dafür verstellt, solange sie an dem schon am Ausgang des 18. Jahrhunderts obsolet gewordenen Phantombegriff »Hofmeister« festhält. Zu Formeys vieldiskutierter Auseinandersetzung mit Rousseau gibt es also eine Vorgeschichte, und sie ist auch nicht nur im Anti-Emile geführt worden. Er hat sie 1763 durch die Überarbeitung eines Lehrbuchs auf dem Schulsektor fortgeführt, was einen Einblick in seine innersten Überzeugungen ermöglicht. Ein Problem, über das innerhalb der Forschungsgruppe verschiedentlich diskutiert wurde, ohne eine einheitliche Auffassung zu erreichen, war die Frage nach dem Selbstverständnis der »Kolonisten« in dieser Periode. Wie lange haben sich die Nachkommen der Glaubensflüchtlinge, weil Französisch ihre Muttersprache und die französische Kultur selbstverständlich die ihre war, noch als »Franzosen« gefühlt ? Hatten sie sich in der zweiten Generation dem neuen »Vaterland« bereits viel stärker integriert, das ihnen nicht nur Sicherheit vor Verfolgung, sondern auch erstaunliche Aufstiegschancen bot, wie die in der Kolonie gefeierte Berufung des Juristen de Jariges, der zwischen 1733 und 1748 Akademiesekretär gewesen war und 1755 zum »Grand 23 Eine erste Skizze dieses Themas ist erschienen unter dem Titel : »Erziehungsprobleme vor der Erfindung der Pädagogik«, in : Wolfgang Klein/ Ernst Müller (Hgg.), Genuss und Egoismus. Zur Kritik ihrer geschichtlichen Verknüpfung, Berlin 2002, S. 86 - 202. Einleitung 21 Chancelier«, d. h. Justizminister in Preußen, berufen wurde ? 24 Als heuristischer Ansporn, genauer hinzusehen, besitzt die Frage nach dem Wandel von Identitätszuschreibungen ihren Wert. Im siebten Kapitel wird der Prozess der Integration der Elite der Kolonie in den letzten Dekaden ihrer Existenz aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Neben dem frühen Interesse für Kant und dem frühen Umgang mit Henriette Herz, beides noch unter der Regierung Friedrichs II., war die Akkumulation von Ämtern innerhalb und außerhalb der Kolonie der Weg, der einen gleitenden Übergang, eine Integration ohne Ambivalenzen ermöglicht hat. Trotz eines beachtlichen Willens der Kolonie zur Selbstbehauptung, der 1770 zur Gründung des theologischen Seminars führte, konnte Schleiermacher 1803 nur noch »mikroskopische Miniaturgemeinden« wahrnehmen. Der Vergleich mit dem Werk dieses bedeutenden reformierten Theologen, das die Hugenottenforschung unbegreiflicherweise unbeachtet ließ, lässt die Grenzen sichtbar werden, die dem Denken der Kolonieelite gezogen waren. Schließlich gehören an diese Stelle noch einige Bemerkungen zur Rezeption Formeys in der deutschen und französischen Wissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert, die sich in ihren Grundaussagen unvereinbar gegenüberstehen. Der Eindruck, dass der Akademiesekretär in den einzelnen Kapiteln nicht nur einen zentralen, sondern insgesamt einen überragenden Platz innehat, ist nicht nur richtig, sondern in gewisser Weise auch gewollt, da die Forschung in beiden Ländern einen Berg von Fehlurteilen abzutragen hat. In Deutschland ist Harnacks Darstellung der Akademiegeschichte - beeindruckend durch die souveräne »Verbindung von Verfassungs-, Wissenschafts- und Gelehrtengeschichte« - jene Quelle, aus der vor allem in der 24 So teilte der Frankfurter Theologieprofessor Causse am 1. 11. 1755 mit, zusammen mit dem Theologen Stosch, Mercier und Marconnay habe er die Ernennung von Jariges gefeiert, während der hypochondrische Samuel de Gualtieri seinen Bericht über das literarische Genf als »bon Prussien« im Juni so abschloss : »J ’ ai relu 4 ou 5 fois l ’ article de la Gazette qui annonce cette nouvelle, tant elle m ’ a fait plaisir. Tous ceux qui aiment la vertu et la religion doivent se réjouir sincèrement de cet événement. Car c ’ en est un, dans le monde où nous sommes, de voir le mérite récompensé«. Zit. nach dem Beitrag »Voltaire vu par cinq correspondants de Formey«, in : Christiane Mervaud/ Sylvain Menant (éd.), Le Siècle de Voltaire. Hommage à René Pomeau, t. 1, Oxford 1987, S. 498. Vgl. auch Jérôme Delas an Formey, Halle, 21. 4. 1755. 22 Einleitung Philosophie- und der Theologiegeschichtsschreibung der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die Zerrbilder über Formey stammen. Während Formey im ganzen 19. Jahrhundert als »verdienstvoller Gelehrter« anerkannt worden war, 25 legte sich seit dem Erscheinen der Akademiegeschichte 1900 eine dunkle Wolke über ihn. Das enorme Prestige Harnacks, der zu gleicher Zeit Generaldirektor der größten Forschungsbibliothek und Präsident der bedeutendsten Forschungsorganisation des Landes wurde, was in Deutschland eine singuläre Konstellation geblieben ist, 26 hat lange Zeit über zwei entscheidende Schwächen des Werkes hinwegsehen lassen. Aus der außerordentlichen Kürze der für die Erarbeitung verfügbaren Zeit - im April 1896 erteilte die Akademie den Auftrag, im Oktober 1897 war die Darstellung des ersten Teils bis 1786 bereits abgeschlossen, und pünktlich zum Jubiläum lagen alle Bände vor - resultierte einerseits zwangsläufig eine Fülle von Irrtümern und Fehlurteilen. Aus der Arbeit des Kirchenhistorikers stammte andererseits eine fragwürdige Grundkonzeption. Das Verfahren, nach dem Harnack die Geschichte der christlichen Dogmen untersucht hatte, indem er zwischen jenen Elementen der antiken Kultur unterschied, welche sich die Religion, in der Regel unter schweren Opfern, lediglich assimiliert hatte, und jenem zentralen Element, »was [ … ] aus ihrem eigenen, ursprünglichen Geiste geflossen«, 27 färbte auch die Akademiegeschichte : An die Stelle des Evangeliums rückte der Akademiegründer Leibniz, während den »Franzosen« im Allgemeinen und Formey im Besonderen die Rolle der »Produkte« problematischer »Assimilationen« vorbehalten blieb. Dass dieser als »der erste officielle Geschichtsschreiber« der Akademie bereits »das dunkelste Blatt«, nämlich den Entzug des Präsidentengehalts in 25 Samuel Bauer, Allgemeines Historisches Handwörterbuch aller merkwürdigen Personen, die in dem letzten Jahrzehend des achtzehnten Jahrhunderts gestorben sind, Ulm 1803, Sp. 330 - 343 ; Heinrich Dörings Artikel »Formey« in : Johann Samuel Ersch/ Johann Gottfried Gruber (Hgg.), Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften und Künste. Erste Section, Th. 46, Leipzig 1847, S. 310 - 311 ; A. Richters Artikel über Formey in : Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 7, Leipzig 1878, S. 156 f. 26 Vgl. Bernhard Fabians Vorwort zu : Adolf von Harnack, Wissenschaftspolitische Reden und Aufsätze, Hildesheim, New York 2001, S. XI. 27 Harnack, »Antrittsrede in der Preussischen Akademie der Wissenschaften (1890 )«, in : ders., Wissenschaftspolitische Reden und Aufsätze, a. a. O., S. 166. Einleitung 23 den letzten Jahren durch den Berliner Hof, aufgeschlagen und dabei in Übereinstimmung mit der modernen Forschung die Schuld bei Leibniz gesehen hatte, war für Harnack unverzeihlich und der Fall damit entschieden : Formey gilt als »Leibniz überhaupt feindlich gesinnt«, 28 das Urteil über Formeys Histoire de l ’ Académie Royale de Berlin (1750 ) lautet dementsprechend : »[ … ] eine durch einen werthlosen Text verbundene Sammlung parteiisch ausgewählter Actenstücke«. 29 DuBois-Reymond, der Mitbegründer der Physiologie als eigener Disziplin, eine Koryphäe der Akademie und berühmt durch seine Reden, hatte sie wenige Jahre zuvor noch »ein für uns höchst wertvolles Quellenwerk« 30 genannt. Ebenso unverzeihlich aber war, dass der Sekretär in seinen Erinnerungen von 1789/ 90 gegenüber der anderen für Harnack überragenden Gestalt der Akademiegeschichte im 18. Jahrhundert, Friedrich II., kein Blatt vor den Mund genommen hatte. »Giftiger Undank« gegenüber dem 1786 verstorbenen König, befand Harnack und scheute sich nicht, Formeys 1748 erfolgte Ernennung zum »Secretarius perpetuus« mit dem unglaublichen Kommentar zu versehen : »Die Akademie ist diesen unsäglich eiteln und, wie seine › Souvenirs ‹ bewiesen haben, kleinlichen und boshaften Mann nie wieder losgeworden«. 31 28 Harnack, Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 3 Bde, Berlin, 1900, Bd. 1,1, S. 137, Anm. 1, und S. 197. - Den Standpunkt der modernen Forschung formuliert Hans-Stephan Brather : »Die Abkopplung der Sozietät von ihrem Präses vollzog sich in jenen Jahren, in denen Leibniz den Höhepunkt seiner gesellschaftlichen Stellung erreicht hatte«. Ders., Leibniz und seine Akademie, Berlin 1993, S. XXXVII. 29 Harnack, Geschichte, a. a. O., Bd. 1,1, S. 197, und Harnack, »Bericht über die Abfassung der › Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin ‹ «, in : ders., Wissenschaftspolitische Reden und Aufsätze, a. a. O., S. 170 f. Als Formey in seiner ersten Zeitschrift 1738 Ludovicis Ausführlichen Entwurf einer vollständigen Historie der Leibnizschen Philosophie vorstellt, nennt er Leibniz »Héros littéraire« und urteilt : »il avait un génie qu ’ on pourrait presqu ’ appeler divin. Toutes les sciences étaient de son ressort : il n ’ était étranger dans aucune des connaissances dont l ’ esprit humain est capable.« Formey, Amusements littéraires, moraux et politiques, Berlin 1739, Avril 1738, S. 31, Mai 1738, S. 133. 30 Emile DuBois-Reymond, Maupertuis. Rede zur Feier des Geburtstages Friedrichs II. [ … .], 28. 1. 1892, Leipzig 1893, S. 41. 31 Harnack, Geschichte, a. a. O., Bd. 1,1, S. 258, Anm. 3. 24 Einleitung Was die Souvenirs beweisen, sind Harnacks gehäufte Fehlurteile, weil er in der Eile nur partiell oder falsch gelesen hat. Über das Verhältnis zwischen König und Sekretär heißt es bei ihm wiederholt, erst »im 39. Regierungsjahr« habe es eine Audienz gegeben, Formey habe den König vorher »nie gesprochen«. Unterschlagen ist die erste Begegnung in der Kronprinzenzeit vor dem Collège, wo Formey seit 1737 unterrichtete. Friedrich war verblüfft, dass ihm sein Rheinsberger Privatsekretär Jordan einen »Prediger« vorstellte, der ihm bislang nur als Quelle literarischer Neuigkeiten bekannt war. 32 Nicht besser steht es mit der Behauptung über das Verhältnis des Sekretärs zu den Schweizern in der Akademie : »Formey hasste die Schweizer«, so Harnack, »und hat in seinen Souvenirs I, p. 151 f, als kaum einer sich mehr vertheidigen konnte, empörende Anklagen auf Spiondienste, die sie dem König geleistet hätten, wider sie ausgesprochen«. Unterschlagen oder übersehen ist die Negation bei Formey : »Ces académiens suisses [ … ] n ’ ont jamais existé«. 33 Ins Absurde verzeichnet ist die persönliche Beziehung zu dem berühmtesten der Schweizer, Leonhard Euler : »[E ]r hielt wenig von Formey, und dieser hasste ihn«. Beim Monadenstreit, als beide Wortführer verschiedener Lager waren, mag es persönliche Spannungen gegeben haben. Doch nachdem man seit 1748 in benachbarten Häusern wohnte, entwickelten sich zwischen beiden Familien verwandtschaftliche Beziehungen. Nach der Rückkehr der Eulers 1766 nach Petersburg erhielt Formey im gleichen Jahr die Sonderstellung eines auswärtigen Mitgliedes mit festen Bezügen. Mit Eulers Sohn Johann Albrecht entwickelte sich seitdem nicht nur der bei weitem intensivste Briefwechsel, der im Nachlass erhalten ist, beide Briefschreiber tauschten sich dabei auch regelmäßig über den Inhalt ihrer »Tagebücher« aus. 34 32 Vgl. Harnack, Geschichte, a. a. O., Bd. 1,1 ; S. 318 und 385, sowie Formey, Souvenirs d ’ un citoyen, Bd. 1, Berlin 1789, S. 106 f. 33 Harnack, Geschichte, a. a. O., Bd. 1,1 S. 327, Anm. 3, und Formey, Souvenirs d ’ un citoyen, Bd. 1, S. 154. 34 Harnack, Geschichte, a. a. O., Bd. 1,1, S. 352, Anm. 5, S. 363 und 364, Anm. 2. - Näheres zu dem Verhältnis Euler-Formey in der Studie : Martin Fontius, »Berlin korrespondiert mit Petersburg. Zwei Tagebuchschreiber im Dialog«, in : Deutsch-Russische Beziehungen im 18. Jahrhundert. Kultur, Wissenschaft und Diplomatie, Wiesbaden 1997, S. 189 - 212. Einleitung 25 Der Zeitdruck, unter dem Harnack arbeiten musste, konnte auch für den Umgang mit den Akten nicht folgenlos bleiben, 35 und für begriffsgeschichtliche Reflexion blieb schon gar keine Zeit. Die unvermeidliche Distanz, die zwischen dem König als Parteigänger der französischen »philosophes« und Formey als Philosoph Wolff ’ scher Schule bestand, ist bei Harnack beschrieben, aber nicht verstanden. Die Verweigerung des Direktorpostens der philosophischen Klasse, der nach Sulzers Tod 1779 nach Ansicht der Akademie wie nach dem Anciennitätsprinzip Formey zukam, hat nichts mit einer Geringschätzung der Talente des Sekretärs durch den König zu tun, sondern gründet in der Unvereinbarkeit des Terminus »philosophe« mit einem geistlichen Gewand, wie es Formey zeitlebens getragen hat. Friedrichs erste ablehnende Antwort vom 8. Juli 1780 lautete : »Il faut pour directeur de la classe de la philosophie un philosophe dans toute l ’ étendue du terme, sans quoi ce serait mettre un architecte à la tête de la chirurgie«. Als Friedrich zwei Jahre später noch immer keinen › Philosophen nach seinem Herzen ‹ gefunden hatte, soll Harnack zufolge sogar »die Ernennung Formeys zum Direktor erschlichen, aber gleich darauf vom König rückgängig gemacht worden sein«. 36 Prüft man die Akten, aus denen sich angeblich »die Angelegenheit [ … ] nicht völlig ins Klare bringen« lässt, dann lag der Irrtum eindeutig beim König. Beim Erhalt der erbetenen Gehälterlisten durch die ökonomische Kommission schrieb Friedrich auf den Begleitbrief der Direktoren vom 20. April 1782, wie es seine Art bei der Kommunikation mit der Akademie war, eigenhändig die Verfügung : »Formey - 300/ Directeur de philosophie« 37 und löste damit bei allen Betroffenen Verwunderung aus. Denn der Direktorposten war stets mit 200 Talern vergütet worden. Sollte die königliche Ordre also eine doppelte Zuweisung von insgesamt 500 bedeuten ? In diesem Sinne schrieb Formey am 25. April an die ökonomische Kommission, schloss aber vorsichtshalber mit der Empfehlung : »Si cependant vous croyez avoir le besoin d ’ une autorisation ultérieure, j ’ espère que vous voudrez bien 35 Dem früheren Leiter des Archivs, Wolfgang Knobloch, habe ich für freundliche Unterstützung zu danken. 36 Harnack, Geschichte, a. a. O., Bd. 1,1, S. 384. 37 Ebenda. 26 Einleitung recourir à la décision suprême«. 38 Der Brief Formeys löste am 29. April eine entsprechende Anfrage der Kommission beim König aus, die dann mit der darauf geschriebenen allerhöchsten Resolution zurückkam und hier buchstabengetreu zitiert sei : »Jamais Pretre ne sera filosofe/ et jamais filosofe ne peut être Pretre«. Das ist konsequent im Sinne der französischen »philosophes« gedacht, aber borniert gegenüber der Lage der Philosophie in Deutschland im Jahre 1782, blind gegenüber dem Wandel in der protestantischen Theologie und zugleich auch charakteristisch für den Alltag im Absolutismus. Durchaus mitfühlend schrieb Prinz Heinrich einige Zeit nach dem Tode Friedrichs an Formey : »Vous avez vécu, mon cher conseiller, sous la férule despotique«. 39 Wenn Harnack an anderer Stelle den Marquis d ’ Argens ironisch als »den oberflächlichen, frivolen [ … ], immer witzelnden Directeur des Belles - Lettres« 40 vorstellt, verwendet er den Begriff »philosophe« so, wie er in der deutschen Gelehrtenwelt und in der Akademie von Euler, Lambert u. a. gebraucht wurde. Nur bemerkt Harnack nie, wenn er die Seiten wechselt, sonst hätte er die rhetorisch beeindruckenden, aber oberflächlichen Sätze Friedrichs kommentieren müssen. Dass auch seine Auslassungen zu d ’ Argens nur ein Klischee aufgreifen, aber keine sachlich begründete Charakteristik sind, bezeugt allein der Fall Mendelssohn. Es war der Marquis, der den politisch rechtlosen Status des namhaften Autors als unmöglich empfand, als er davon gehört hatte, dass der wegen seiner Kritik der königlichen Gedichte denunzierte und vor den Generalfiskal zitierte Mendelssohn kein Schutzprivileg besaß, also jederzeit aus Berlin ausgewiesen werden konnte. Und er war es, der eine Veränderung erwirkte. 41 38 Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie. Bestand Preußische Akademie 1700 - 1812. I - III - 12 Über die Besoldungen vom April 1763 - 1783, Blatt 301. Ebenda, Blatt 304. - Das folgende Friedrich-Zitat auf Blatt 302. 39 Prinz Heinrich an Formey, Rheinsberg, 25. 12. 1789 (CV). 40 Harnack, Geschichte, a. a. O., Bd. 1,1, S. 345. 41 Auf Drängen des Marquis verfasste Mendelssohn im April 1763 ein entsprechendes Bittgesuch. Als die Petition ohne Antwort blieb, bewog d ’ Argens Mendelssohn am 19. Juli zu einem neuerlichen Antrag und fügte einen persönlichen Kommentar hinzu, auf den der König nur mit Erteilung des Schutzbriefes reagieren konnte : »Un Philosophe mauvais catholique, supplie un philosophe mauvais protestant, de donner le privilège à un philos- Einleitung 27 Es ist hier nicht der Ort, eine vollständige Liste der Errata aufzustellen, 42 obwohl gegenüber Standardwerken Kritik nach Lessings Ansicht unerbittlich sein sollte. Die zusammenfassende Charakteristik Formeys bei Harnack könnte man nach dem Gesagten auf sich beruhen lassen, wenn die entscheidende und absprechende Tonart nicht Schule gemacht hätte. Dass der Verfasser einer großen Gesamtdarstellung wie der Akademiegeschichte niemals fertig würde, wenn er alle Autoren, zu denen er Stellung nehmen muss, selbst auch lesen wollte, ist unbestritten. Problematisch wird es, wenn ein Syntheseversuch, unternommen mit dem Ziel, »keine Publikation ersten Ranges zu ophe mauvais juif. Il y a dans tout ceci trop de philosophie, pour que la raison ne soit pas du côté de la demande.« Zit. nach : Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften, Bd. 24 : Porträts und Bilddokumente, Stuttgart 1997, S. 143. 42 Selbst auf dem Gebiet der Kirchengeschichte finden sich unhaltbare Urteile. Im Pietismus, dessen Begründer Spener seit 1691 als Probst in Berlin wirkte, sieht Harnack trotz der kümmerlichen Außenseite »das wichtigste Element des geistigen Fortschritts«, das freilich für die Réfugiés verschlossen gewesen sein soll : »[ … ] in die inneren Fragen, die den deutschen Geist damals beschäftigten, drangen jene Franzosen nicht ein« (Geschichte, a. a. O., Bd. 1,1 S. 110 ). In Wirklichkeit haben »jene Franzosen« in Gestalt von Charles Ancillon, Direktor der französischen Kolonie in Berlin und seit 1699 Oberrichter über alle französischen Gerichte in Brandenburg/ Preußen, und seines jüngeren Bruders David Ancillon, seit 1692 Pfarrer in Berlin, mit August Hermann Francke in Halle zwischen 1702 und 1712 nicht nur »ein reges commercium litterarium« unterhalten. Der Oberrichter und der Kaufmann Hainschlin aus der Kolonie haben ihre Söhne ins Halle ’ sche Pädagogium geschickt. (Karl Weiske, »Pietistische Stimmen aus der Mark Brandenburg. Auszüge aus Briefen der Hauptbibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle«, in : Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte 24 (1929 ), S. 179 - 190, das Zitat S. 182.) Harnack steht der christlichen Apologetik des 18. Jahrhunderts darin bedenklich nahe, dass er statt inhaltlicher Auseinandersetzung stets rasch mit moralischen Verdammungsurteilen bei der Hand ist. Für seinen Richterspruch über den Sekretär : »eine subalterne Natur«, dazu nicht »ehrlich und zuverlässig«, muss das Faktum herhalten, dass Formey bei der Abstimmung über die Preisaufgabe Pope-Leibniz 1755 sein Votum änderte, als sich ein Patt der Stimmen ergab, weil Maupertuis sich der Stimme enthalten hatte. Ohne Voreingenommenheit ließe sich dies Verhalten mühelos als Loyalität des Sekretärs gegenüber seinem Präsidenten verstehen. Harnack leitet aus dem einmaligen Vorgang die Grundhaltung der »Charakterlosigkeit« ab : »Bei Abstimmungen war er unberechenbar [ … ]« (Harnack, Geschichte, a. a. O., Bd. 1,1, S. 449 ). 28 Einleitung übersehen«, in seiner Orientierung auf Spitzenleistungen nun die Legitimation dafür sieht, über alles Übrige mit vernichtenden Urteilen herzuziehen. Ein Paradebeispiel dieser schlechten Feuilletonmanier ist der Passus, dass der Akademiesekretär, nachdem er seine › Belle Wolffienne ‹ in 6 Bänden 1741 - 53 geschrieben hatte, glaubte [ … ] in den Stand gesetzt zu sein, sich spielend über alle möglichen Fragen zu verbreiten und als vernünftiger Supranaturalist, der verächtlich auf die scholastische Orthodoxie, aber auch auf die Empiriker herabsah, alle abweichenden geistigen Erscheinungen seines Zeitalters zu kritisieren und mit breiten Bettelsuppen das Publikum zu speisen. So hat er gegen Diderot sein Système du vrai bonheur (1750 f.) und gegen Rousseau den kläglichen Anti-Emile (1763 ) geschrieben.. 43 Mit Pathos wird hier die sachliche Unkenntnis übertönt. Harnack hat keine der zitierten Schriften in der Hand gehabt, sonst hätte er nicht Formeys französische Übersetzung von Spaldings Die Bestimmung des Menschen mit seiner Kritik an Diderots Pensées philosophiques amalgamiert. Große Namen genügen ihm, den Stab zu brechen, und ohne es zu bemerken, hält er jetzt wieder die Fahne der französischen »philosophes« hoch. Ähnliche Hohlformeln, in denen blindes Urteilen durch entscheidenden Ton überdeckt werden muss, waren seitdem mit Formeys Namen verbunden. Bei Cassirer heißt es 1918 : »[ … ] dieser wissenschaftliche Eklektiker verdankte sein philosophisches Ansehen der Popularisierung des Wolffischen Systems, die er in einem bändereichen, flachen und geschwätzigen Werke versucht hat«. 44 Und in der gleichen Manier, nur mit perfider Pointierung, erscheint der Ständige Sekretär 1945 bei Max Wundt als »ein oberflächlicher Vielschreiber [ … ]. Obwohl er philosophisch als Wolffianer begonnen hatte, war er - auch nach der Seite des Charakters - nicht die Persönlichkeit, um etwas für die deutsche Philosophie durchzusetzen«. 45 Harnacks groteskes 43 Harnack, Geschichte, a. a. O., Bd. 1,1, S. 448. 44 Ernst Cassirer, Kants Leben und Lehre (1918 ), in : ders., Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 8, Darmstadt 2001, S. 61. 45 Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung (1945 ), Reprint Hildesheim 1964, S. 321. Die gleiche negative Sicht auf Formeys »Charakter« auch bei Eduard Winter, Die Registres der Berliner Akademie der Wissenschaften. Dokumente für das Wirken Leonhard Eulers in Berlin, Berlin 1957, S. 45, 57, 64. Einleitung 29 Porträt, auf das in der Tat zutrifft, was er zu Unrecht von Formeys Akademiegeschichte behauptet : »mangelhaft, oberflächlich und parteiisch«, ist auch die Quelle für die im letzten Satz erkennbare Diskreditierung des Menschen und die nationalistische Tendenz. Es wird kaum überraschen, dass auch diese Aussagen unhaltbar bzw. willkürlich sind, was sich exemplarisch an der Wahl Gellerts und Lessings in die Akademie zeigen lässt. Beide Entscheidungen fielen im Siebenjährigen Krieg, als der Franzose Maupertuis nicht mehr Präsident war und der französisierte König noch nicht die Präsidentschaft an sich gezogen hatte, sondern Euler die Leitung wahrnahm, so jedenfalls Harnacks Optik, obwohl die Vorschläge in Wahrheit ohne die Mitwirkung von »Franzosen« nicht zustande gekommen wären. Aus dem besetzten Leipzig hat Gellert am 10. April 1761 an Sulzer nach Berlin geschrieben : »Der Marquis d ’ Argens, [ … ] der mir unverdient sehr viel Freundschaft erwiesen [ … ], versicherte mich bey dem Abschiede, daß er mir den Eintritt in der Berl. Academie auswürken würde. Ich verbat mir diese Ehre [ … ].« 46 Sulzer konnte dem Direktor der Literaturklasse »die Idee« jedoch nicht mehr ausreden, wie Gellert wünschte, weil die Entscheidung der Akademie für Gellert und Lambert bereits am 2. April gefallen war. Über diese Vorgeschichte fällt bei Harnack kein Wort, man erfährt lediglich, dass der indignierte König »zunächst überhaupt nicht antwortete, dann aber nach drei Jahren ( am 6. Januar 1764 ) durch d ’ Argens der Akademie erklärte, S. Maj. halte es zur Zeit nicht für opportun, die gemachten Personalvorschläge zu bestätigen«. 47 46 Gellert an Sulzer, Leipzig, 10. 4. 1761, in : Christian Fürchtegott Gellert, Briefwechsel, hg. von John F. Reynolds, Bd. 3 (1760 - 1763 ), Berlin 1991, S. 125. - Das Lob Gellerts findet sich auch in den im November 1761 fertiggestellten und Friedrich II. gewidmeten Ocellus Lucanus, in dem nicht griechischer Text und französische Übersetzung, sondern die in den Anmerkungen geführte Auseinandersetzung mit den Gegnern der philosophes die Hauptsache ist. Das Preislied auf die deutschen Gelehrten wird eröffnet mit Haller, dem von La Mettrie Verleumdeten, gefolgt von Gellert, dem »Liebling der Deutschen«. D ’ Argens, Ocellus Lucanus, en grec et en françois, avec des Dissertations sur les principales questions de la Metaphysique, de la Phisique, & de la Morale des anciens : qui peuvent servir de suite à la Philosophie du Bon Sens, Utrecht 1762, S. 246. 47 Harnack, Geschichte, a. a. O., Bd. 1,1, S. 351. 30 Einleitung Irreführend ist Harnacks Darstellung auch bei Lessing, dessen Aufnahme als Reaktion auf das Erscheinen der »Literaturbriefe« gewürdigt wird, jedoch mit dem Zusatz versehen : »Wer ihn vorgeschlagen hat (Sulzer ? ), ist aus den Akten nicht zu ersehen«. 48 Der Appell an die Akten ist reine Rhetorik, da für Vorschläge neuer Mitglieder in den von Formey geführten Protokollen stets die Formel »on proposa« verwendet ist. Das vernichtende Urteil, das Sulzer beim Erscheinen der »Literaturbriefe« über Lessing fällte, entzieht Harnacks Vermutung jede Grundlage. 49 Mit größter Wahrscheinlichkeit erfolgte der Vorschlag durch den 1730 in Berlin geborenen Louis de Beausobre, dem sein berühmter, damals 75-jähriger Vater Isaac de Beausobre die besondere Protektion des Kronprinzen erwirkt hatte. Auf das Jurastudium in Frankfurt an der Oder konnte so 1752/ 54 ein Aufenthalt in Frankreich folgen, seit 1755 war Beausobre Akademiemitglied. Unvergessliche Höhepunkte der Studienzeit müssen für den Juristen die Vorlesungen Baumgartens gewesen sein, über die auch Formey 1749 von seinem ehemaligen Schüler informiert worden war. Nachrichten über den besorgniserregenden Gesundheitszustand des geliebten Lehrers, der 1751 an Lungentuberkulose erkrankt war, finden sich in fast allen Briefen von der Oder, die im Beausobre-Nachlass erhalten sind. 50 Am 20. April 1759 hatte Baumgarten bei Beausobre um genauere Aufklärung über »den Verfasser der Briefe die neueste Gelehrsamkeit betreffend« gebeten, die man in Frankfurt »mit Gewalt auf die Rechnung des Buchhändlers H. Nicolai« setze, dem er »aber soviel Reife der Einsichten« nicht zutraue, »als diese Briefe beweisen«. 48 Ebenda. 49 Vgl. Sulzer an Bodmer, 3. 2. 1759, und besonders am 19. 5. 1759 : »Was Sie die Sekte der Nicolaiten nennen, ist in der Tat keine andere Partei als Lessing, Kleist und andere mehr [ … ] wer Lessing [ … ] beleidigt, der hat sich unversöhnliche Feinde gemacht. Diese Feindschaften sind mir unerträglich, und ich wollte, daß sie ganz ausgelöscht wären«. Zit. nach : Gotthold Ephraim Lessing, Briefe, die neueste Literatur betreffend. Mit einer Dokumentation, hg. von Wolfgang Albrecht, Leipzig 1987, S. 414. 50 Louis de Beausobre, Nachlass in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin PK, mit Korrespondenz an Beausobre zwischen 1749 und 1779. Der 1989 erworbene Nachlass enthält über 100 Briefe. Einleitung 31 Sind die Briefe von H. Leßing, wie mir es aus Berlin als vermuthlich geschrieben ist, so vermehren sie mein schon lange gehegtes Verlangen, aus welcher Schule dieser gewiß schöne und gründliche Geist gekommen, zu erfahren, und erneuern den Wunsch, daß ihn Berlin nicht zum zweiten mahle von sich laße. Mehr als Einer Classe der Königl. Akademie würde er Ehre machen können [ … ]. 51 Das Datum des Briefes und die sich anschließende inhaltliche Auseinandersetzung mit der These »von einer allgemeinen Anarchie in der heutigen Philosophie«, die hier nicht zitiert werden kann, verraten, dass Baumgarten vor allem auf die Briefe Nr. 20 bis 25 reagierte, in denen Mendelssohn in ihm die letzte Säule der Metaphysik in Deutschland gefeiert hatte. Gegen das Baumgarten ’ sche Votum für Lessing, das implizit Mendelssohn mitempfiehlt, konnte es, als Beausobre es seinen Kollegen vortrug, in der Akademie kaum ernsthafte Einwände geben. Anders, als eine deutschnational orientierte Geschichtsschreibung um 1900 für möglich gehalten hätte, haben ein veritabler Franzose und ein Berliner Hugenotte bei der Wahl der beiden ersten deutschen Schriftsteller von Rang in die friderizianische Akademie also tatkräftig mitgewirkt. Die Frage nach der gegenseitigen Aufnahmebereitschaft zwischen den Kulturen im 18. Jahrhundert ist deshalb als ein leitender Ansatz der folgenden Studien zu betrachten, wobei die zweite Generation der Réfugiés durch ihre doppelte kulturelle Zugehörigkeit gerade heute unser besonderes Interesse verdient. Gerade diese eigentümliche Prägung wird Formey in Frankreich allerdings immer wieder verweigert, wenn er als »publiciste et philosophe français« 52 vorgestellt wird, als hätte er zeitlebens nicht in Berlin, sondern in Paris gelebt. Das Etikett hat seinen Ursprung im französischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts und besitzt in der Darstellung in der Akademiegeschichte durch Bartholmèss 1850 eine Vorstufe. Die Leitidee des Formey-Kapitels lautet : »Son nom [ … ] restera lié au nom de Frédéric, par une longue suite d ’ actes comme par une série d ’ ouvrages variés. Durant tout son règne, Formey fut le secrétaire et l ’ historien de l ’ institution dont le roi fut le direc- 51 Alexander Gottlieb Baumgarten an Beausobre, Frankfurt/ Oder, 20. 4. 1859, Louis de Beausobre-Nachlass, a. a. O., Bl. 126. 52 So im »Index« zu Voltaire, Correspondance. Edition Th. Besterman, Bibliothèque de la Pléiade, Bd. 13, Paris 1994, S. 827. 32 Einleitung teur«. 53 Die Aussagen mögen auf den ersten Blick korrekt erscheinen. Das Bild ist verzeichnet, wenn in einer Spezialuntersuchung über die Preußische Akademie unter Friedrich II. der fundamentale weltanschauliche Gegensatz zwischen dem königlichen Schutzherrn und dem Sekretär nirgends zur Sprache kommt, aber auch von dessen Dauerfehde mit den »philosophes« allein die Kritik an Condillac erwähnt ist. Dass Formey in seinen »Discours« bei den öffentlichen Akademiesitzungen in der Tat »une singulière adresse à préconiser Frédéric« entwickelte, darf nicht als Infragestellung seiner philosophischen Überzeugungen missverstanden werden. Als Funktionär der Akademie hatte er die Interessen der Sozietät und ihres Schutzherrn nach außen zu vertreten, und er hat dies außerordentlich erfolgreich getan. Es war dies nach Kants berühmter Unterscheidung der »eingeschränkte« oder »der private Gebrauch« seiner Vernunft, während der »öffentliche Gebrauch«, wie in Buchpublikationen, »jederzeit frei« zu sein hatte. Auch wenn wir heute die Prädikate eher umgekehrt anwenden, die Differenzierung ist begründet und darf nicht verwischt werden. Dass die Formel vom publiciste et philosophe français die Verwendung der französischen Sprache in gleichem Maße überschätzt, wie sie den Raum, in dem sie gebraucht wird, unterschätzt, wird noch eingehender zu zeigen sein. An dieser Stelle sei an zwei signifikanten Beispielen darauf hingewiesen. Das Werk, mit dem Formeys Name bekannt wurde, war La belle Wolfienne. Über die damit verbundenen Intentionen hat er 1753 geäußert, er glaube der deutschen Philosophie den gleichen Vorzug verschaffen zu können, den die Descartes ’ und Newtons berühmten Männern zu verdanken hätten. 54 Die Gedankenwelt von Leibniz und Wolff sollte also nach dem Vorbild Fontenelles, Algarottis und Voltaires breiteren Kreisen zugänglich gemacht werden. Noch unmissverständlicher wiederholte er 1756 über diese Philosophie, sie werde die neue genannt oder trage nach den Namen ihrer Autoren »les noms de Philosophe Leibnizienne et de Philosophie Wolfienne et de philosophie d ’ Allemagne.« 53 Christian Bartholmèss, Histoire philosophique de l ’ Académie de Prusse depuis Leibniz jusqu ’ à Schelling, particulièrement sous Frédéric le Grand, Bd. 1, Paris 1850, S. 306. 54 Nouvelle Bibliothèque germanique, t. XIII.1, juillet - septembre 1753, S. 201. Einleitung 33 Die Klassifizierung nach der Sprache, ohne jeden weiteren Zusatz, ist auch für Formeys Tätigkeit als Wissenschaftsjournalist weniger hilfreich als irreführend. Seit 1733 war er an der Bibliothèque germanique beteiligt, deren Fortsetzung er von 1748 bis 1759 allein geschultert hat. In Berlin redigiert und in Holland wegen des besseren Absatzes verlegt, ist die räumliche Zuordnung bei diesen Zeitschriften erschwert. 55 Das gilt nicht für die in Berlin gedruckten Zeitschriften, zu denen die Lettres sur l ’ Etat des sciences et des moeurs von 1759 gehören. Im Unterschied zu den im gleichen Jahr beginnenden »Literaturbriefen«, die nur über deutschsprachige Neuerscheinungen während des Krieges informieren wollen, was Lessing im Schutze der Anonymität und der Herausgeberfiktion mit Schärfe und Aggressivität besorgt, verfolgen die Lettres ein anderes Konzept. Der Einzugsbereich ist weder auf eine Region noch sprachlich oder zeitlich begrenzt, französische Publikationen überwiegen. Formey schreibt nicht nur bewusst mit offenem Visier unter eigenem Namen. Die einzelnen Briefe sind obendrein realen Personen gewidmet, die mit Initialen und Sternchen bezeichnet sind und für die Zeitgenossen identifizierbar waren. Sieht man näher hin, waren es vor allem seine Kollegen an der Akademie und in der Hugenottenkirche und seine Schüler. Die meisten von ihnen lebten in Berlin. Formey hat in der Rubrik »Nouvelles littéraires« bereits am 6. Februar die »Literaturbriefe« angezeigt. Es handelt sich um das früheste gedruckte Urteil, das der Lessing-Forschung 55 Eine gründliche Analyse zu Programm, Struktur und Inhalt beider Zeitschriften gibt Jens Häseler, »Stratégies de publication et pratiques d ’ écriture des auteurs de la Bibliothèque germanique et de la Nouvelle Bibliothèque germanique«, in : Christiane Berkvens-Stevelinck/ Hans Bots/ Jens Häseler (éd.), Journalisme et République des Lettres. L ’ élargissement vers les › pays du Nord ‹ au dix-huitième siècle, Amsterdam, Utrecht 2009, S. 83 - 152. Liest man die Seiten 121 - 127 über die »Nouvelles littéraires«, wird man bedauern, dass Dante Lénardons Index du Journal encyclopédique 1756 - 1793 (Genève 1976 ) diese Rubrik grundsätzlich nicht berücksichtigt. Formey war seit 1758 fester, allerdings anonymer Mitarbeiter der Zeitschrift. Die kritische Anzeige zu Lessings Fabeln am 5. 12. 1760 (S. 76 - 92 ) stammt von ihm, was Briefe von Pierre Rousseau ( 29. 4. 1760, 18. 2. 1761) belegen. Auch die folgenden Anzeigen in den »Nouvelles littéraires« darf man ihm sicher zuschreiben : Winckelmanns Sendschreiben über die Entdeckung von Herkulaneum (15. 6. 1763, S. 141), Wielands Geschichte des Agathon, Bd. 1 (15. 10. 1766, S.145 ) und Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (15. 1. 1767, S. 149 ). 34 Einleitung unbekannt blieb, da es bei einem »publiciste et philosophe français« nicht zu vermuten war. Les Lettres sur la Littérature (Briefe die neueste Litteratur betreffend,) qui ont commencé en même temps que celles-ci et qui se distribuent tous les Jeudis chez le Libraire Nicolai sont écrites avec autant de goût que de solidité. Elles ont eu principalement jusqu ’ ici pour objet la censure des Traductions dont la Littérature Allemande est en effet inondé; et les judicieuses remarques de l ’ Auteur des Lettres sur ce sujet sont ce qu ’ il y a de plus propre à remédier à un abus aussi intolérable, et à prévenir l ’ entière décadence du goût, qui pourroit en résulter. 56 Nicht recht überzeugend an diesem Text ist allerdings die einschränkende Bemerkung, Hauptgegenstand sei bisher die Übersetzungskritik gewesen. Die Briefe sieben bis 14 mit der Wieland-Kritik waren zu diesem Zeitpunkt erschienen. Wenn Formey vorzog, darüber zu schweigen, wird er Gründe gehabt haben. Von der Kritik an Wielands Urteilen über die geistlichen Redner in Deutschland 57 konnte Formey sich gleich mehrfach betroffen fühlen, was noch näher zu untersuchen bliebe. Die mit diesen Hinweisen aufgeworfene Frage, in welchen Bereichen Formey im deutschen Geistesleben Spuren hinterlassen hat, muss einer künftigen Monographie, in der die Persönlichkeit des Menschen und seine Lebensarbeit im Rahmen der Zeitverhältnisse gezeigt wird, als vielleicht schwierigste Aufgabe vorbehalten bleiben. Nicht die Rehabilitierung einer lange verkannten Gestalt des Aufklärungsjahrhunderts war unser eigentliches Ziel. Für den künftigen Biographen Formeys sei der Hinweis erlaubt, dass man den Akademiesekretär wohl nicht nur einmal bei Ausflügen gemeinsam mit dem Berliner Polizeipräsidenten und dem Generalfiskal, d. h. eine Art von Generalstaatsanwalt, seinem Freund Uhde, in einer Kutsche sehen konnte. 58 Als übergeordnet hat die Frage zu gelten, welchem wissenschaftlichen Diskurs Formey mit seinen Schriften denn eigentlich zugehört. In Belavals »Apologie de la phi- 56 Formey, Lettres sur l ’ Etat présent des sciences et des moeurs, Bd. 1, Berlin 1759, S. 95. 57 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Werke 1758/ 1759, hg. von Gunter Grimm, Frankfurt/ M. 1997, S. 483, 485. 58 Vgl. Johann Christian Uhde an Formey, 16. 8. 1760 und 30. 3. 1768. Ausflugsziele waren Buchholz, Charlottenburg, Treptow, Weißensee. Einleitung 35 losophie française au 18e siècle« 59 von 1972 war Formey noch ganz selbstverständlich als Franzose geführt. Wenn bei einem Philosophen sein Denken und seine Begrifflichkeit mehr Gewicht haben als seine Sprache, dann dürfte der Berliner Akademiesekretär aus dieser Liste zu streichen und unter dem Titel »philosophie allemande« zwischen Wolff und Kant besser aufgehoben sein. Seit Beginn unseres Jahrhunderts trägt die französische Forschung dem Standortfaktor Rechnung und sieht Formey als »une figure de proue du dix-huitième siècle prussien«. 60 Die stärkere Beachtung des Raumes ist auch in der Neubearbeitung des Grundriss der Geschichte der Philosophie unter Helmut Holzhey unübersehbar. Im letzten Band der Reihe Philosophie des 18. Jahrhunderts, Heiliges Römisches Reich deutscher Nation, Schweiz, Nord- und Osteuropa, ist Formey im Abschnitt »Berliner Aufklärung« platziert, wo er mit seinen Akademiekollegen hinter Friedrich II. gleichsam paradieren darf. Die lokale Ordnung bringt Köpfe unterschiedlichster Richtung zusammen und verdeutlicht so die intensive Geisteskultur im damaligen Berlin. Sobald auch die Teilnehmer der Tafelrunde und Gäste des Königs wie D ’ Alembert dazugehören sollen, ist der philosophisch neugefasste Begriff »Berliner Aufklärung« jedoch überdehnt, und der Akademiesekretär erscheint beinahe wieder unter der Flagge »philosophie française«. Indem die Studien versuchen, Formey in seinen unterschiedlichen Wirkungsfeldern nachzugehen und zu kontextualisieren, wird eine wichtige Figur der Aufklärung in Preußen auf ihren Schauplatz in der Geschichte zurückgeholt. Die Herausgeber danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für Unterstützung und Begleitung des Forschungsvorhabens »Franzosen in Berlin« im Rahmen der koordinierten Förderung am Forschungszentrum Europäische Aufklärung in Potsdam. 59 Yvon Belaval, »Apologie de la philosophie française du 18e siècle«, in : Dix-huitième Siècle 4 (1972 ), S. 12. 60 So der Artikel »Formey« von Frédéric S. Eigeldinger in : Raymond Trousson/ Jeroom Vercruysse (éd.), Dictionnaire général de Voltaire, Paris 2003, S. 517. 36 Einleitung Den wissenschaftlichen und forschungsprogrammatischen Diskussionen am Forschungszentrum Europäische Aufklärung insbesondere in den Jahren 1992 - 1999 verdankt die Arbeit an »Franzosen in Berlin« wichtige Impulse. Hervorzuheben ist der intensive Dialog mit der Philosophiehistorikerin Cornelia Buschmann und ihrem Projektbereich Akademiepreisfragen. Die strukturellen und institutionellen Grundlagen des interdisziplinär angelegten Fördermodells Geisteswissenschaftliche Zentren, das sich aus unserer Sicht als sehr produktiv für ein quellenerschließendes Querschnittsvorhaben der Aufklärungsforschung wie das unsere erwiesen hat, entwickelte in den Jahren 1992 - 95 die Max-Planck-Gesellschaft mit ihrer Förderungsgesellschaft Wissenschaftliche Neuvorhaben. Ihrem damaligen Vizepräsidenten Franz E. Weinert danken wir postum für sein zuversichtliches Engagement und für die unermüdete menschliche Kraft des richtigen Wortes zur richtigen Zeit. Ferner haben wir zu danken den Handschriftenabteilungen der Staatsbibliothek zu Berlin - PK und der Jagiellonen-Bibliothek Kraków sowie dem Archiv der Berliner Akademie der Wissenschaften. Robert Violet, Archivar der Französischen Kirche zu Berlin, danken wir für wichtige Hinweise und für seine unermüdliche Kooperationsbereitschaft. Einleitung 37