Abecedarium 

Hans Rudolf Velten: Kopfreliquie

Abecedarium - Erzählte Dinge im MittelalterHans Rudolf Velten: Kopfreliquie10.31267/978-3-7574-0032-2Peter Glasner, Sebastian Winkelsträter, Birgit ZackeKopfreliquie Hans Rudolf Velten Bereits in vorchristlicher Zeit wurden Schädel von Toten als dingliche Konkretisierung des Heiligen oder Mächtigen verwendet. Livius berichtet in Ab urbe condita, wie die Kelten den Kopf eines unterlegenen römischen Heerführers abtrennten, im Tempel vom Fleisch reinigten und den nackten Schädel mit Gold überzogen, um ihn als Trinkgefäß zu gebrauchen ; der darin gereichte Wein sollte besondere Wirkung besitzen, da der Kopf als Hauptsitz der Kraft galt. 1 Das Christentum übernahm diese Wertschätzung des Kopfes, indem das Märtyrern abgeschlagene, als inkorrupt geltende Haupt getrennt vom Körper aufbewahrt und verehrt wurde, « um das Martyrium zu demonstrieren » 2 und Objekte der Verbindung von immanenter und transzendenter Welt zu schaffen. Die berühmtesten dieser Primärreliquien sind wohl die Köpfe von Petrus und Paulus, die in S. Giovanni in Laterano, dem ‹ Haupt › aller Kirchen, verehrt werden. Die Vorstellung, dass der Heilige in jedem Teil seines Leichnams virtuell anwesend war (ubi est aliquid ibi totum est), charakterisiert den christlichen Reliquienkult in Spätantike und Mittelalter, wobei Schädel und Kopfreliquiare besonderen Wert besaßen, da man ihnen einen hohen Grad an der von Gott an die Heiligen verliehenen himmlischen Kraft, der virtus zuschrieb, welche für iatromagische Wirkungen (Wunderheilungen) von Reliquien sowie ihre Schutzwirkung verantwortlich gemacht wurde. 3 Als heilsvermittelnde Dinge waren Körperteile von Heiligen im Mittelalter sehr begehrt ; 1236 grub man den Leichnam der 1231 verstorbenen Elisabeth von Thüringen aus und fand ihn unverwest vor. Ihr Kopf wurde abgetrennt und in ein von Kaiser Friedrich II. gestiftetes Reliquiar eingefasst, die 1 Vgl. Legner : Reliquien in Kunst und Kult, 1995, S. 281. 2 Angenendt : Heilige und Reliquien, 1994, S. 152. 3 Vgl. ebd., S. 155 f. anderen Körperteile wurden ebenfalls abgeschnitten, um sie als Reliquien aufzubewahren. Kopfreliquien waren keineswegs selten, sondern weit verbreitet ; bekannte Beispiele sind die Kopfreliquie des Hl. Cyprian von Karthago im Kornelimünster in Aachen, die der Hl. Katharina von Siena (S. Domenico in Siena ), der Hl. Kunigunde, der Ehefrau Heinrichs II. (Dom zu Bamberg ), der Kopf des Apostel Jakobus d. J. (S. Daniele, Venedig ), jener des Hl. Dionysius, des ersten Bischofs von Paris (Kathedrale St. Denis ), des Hl. Valentinus (S. Maria in Cosmedin, Rom) sowie eine Reihe berühmter Schädelreliquien im Halberstädter Dom (Johannes der Täufer, Maria Magdalena, Hl. Stephanus ). Von Johannes dem Täufer existieren mehrere Kopfreliquien, sodass bereits der benediktinische Historiker Guibert de Nogent im 12. Jahrhundert die Verehrung mehrerer Köpfe als missbräuchlich beschrieben hatte. 4 Guibert war ein früher Kritiker der infecta miracula, der fälschlich zugeschriebenen Wunder durch Reliquien, die etwa einem Kloster höhere Einnahmen einbringen konnten. Im Spätmittelalter wurde die Verbindung von Reliquienverehrung, ihrer öffentlichen Schau (Heiltumsweisungen) und dem Sündenablass gängig ( zuerst 1119 in Benevent belegt 5 ). Sicherlich ist die Verdichtung auf Visualität in den Heiltumsweisungen des Spätmittelalters eine neue Tendenz der Verehrung, die neben die ältere Form des haptischen Kontakts mit dem heilsvermittelnden Ding tritt. Beides ist kaum möglich ohne das Wissen über Reliquien, das über Erzählungen tradiert wird. Sie waren in ein narratives Netz von Legenden und Wundererzählungen von Heiligen und Märtyrern eingebunden, von Berichten über die spezifischen Leistungen der Heiligen und ihrer besonderen Verbindung zu Gott. Die literarische Existenz von Kopfreliquien ist weitläufig, doch ihre interessantesten Beispiele finden sich - in der Schwankliteratur. Nach dem siegreichen Wettstreit mit seinem Bischof beschließt der Held von Strickers Schwankroman Der Pfaffe Amis 6 (1249 ) auf Reisen zu gehen und seine Einkünfte zu erhöhen, um damit die Bewirtung seiner zahlreichen Gäste finanzieren zu können. Bereits im ersten Schwank der Reise legt er viel Wert auf Spektakel und zieht mit sechs knappen herlich (Der Pfaf- 4 Vgl. Fuchs : Zeichen und Wunder, 2008, S. 66. 5 Vgl. Paulus : Geschichte des Ablasses, 2000, S. 180. 6 Zitiert nach : Stricker : Der Pfaffe Amis, 1994. 140 Hans Rudolf Velten fe Amis, V. 336 ) und einer besonderen Reliquie auf der Suche nach Kirchweihfesten umher. Den Landpfarrern bietet er die Hälfte des Erlöses an, wenn sie ihn predigen lassen ; so ist schon beim ersten Mal die Kirche voll mit gebouren und von vrowen ( mit «Bauern, aber auch edle[n] Damen »), der Erzähler schätzt sie auf zweinzick hundert oder me (V. 357 - 359 ): «Ir muget immer wesen vro, daz mich got hat her gesant. Ich han euh bracht in die lant ein heilichtum also gut, daz alle tage zeichen tut. Euch mag wol genade hie geschen. Ich laz euch heute zeichen sehen, daz ir mir geloubet. Sant Brandanes houbet daz schowet hie, daz han ich. Iz hat gesprochen wider mich, ich sul im ein munster machen mit also reinen sachen, daz got wol zeme, und daz ich des opphers niht neme, daz hat ez mir verboten an den lip, daz mir gebe dehein wip, die zu irem elichen man ie keinen andern gewan. [ … ]» (V. 364 - 382 ) «Ihr könnt euch glücklich schätzen, / daß Gott mich hierher gesandt hat. / Ich habe euch an diesen Ort / eine heilbringende Reliquie mitgebracht, / die alle Tage Wunderzeichen bewirkt. / Euch wird göttliche Gnade zuteil werden. / Ich führe euch heute ein Wunder vor, / mit dem ich euch überzeugen werde. / Schaut hier das Haupt des heiligen Brandan, / das ich besitze. / Es hat mir aufgetragen, / ihm einen Dom zu errichten / aus unbefleckten Spenden, / die Gott angemessen seien, / und kein Almosen anzunehmen - / das hat es mir bei meinem Leben verboten - , / das mir eine Frau gibt, / die neben ihrem Mann / jemals irgendeinen anderen Liebhaber genommen hat [ … ]». Kopfreliquie 141 Der Pfaffe Amis, der hier in der Rolle eines Wanderpredigers agiert, 7 reüssiert zunächst mit seiner rhetorisch brillant aufgebauten Predigt, 8 in welcher er Bedingungen für das Opfer stellt : Nur die tugendhaften Ehefrauen dürfen opfern, und so tun es alle, um tugendhaft zu erscheinen. Wahrheit wird durch den äußeren Anschein ersetzt, 9 was aber allen Beteiligten Nutzen bringt, denn die Frauen werden ja im doppelten Sinne öffentlich prämiert. Das rhetorische Strategem baut jedoch auf einer performativen Inszenierung auf, in welcher Sant Brandanes houbet, ein Teil des heiligen Körpers, ein heiliges Ding, im Mittelpunkt steht. Amis teilt den zahlreichen Anwesenden mit, sie würden ein Wunder ( zeichen) sehen und Gottes Gnade erhalten. Dieses Wunder ist an das Schauen der Reliquie geknüpft, die als heilichtum bezeichnet wird. Das Wunder ist somit nichts anderes als die Heiltumsweisung, die visuelle Konsumption der Kopfreliquie ( daz schowet hie ) als eine Art eucharistischer Gnadenakt. Dabei geht es um mehr als die bloße Präsenz der Reliquie : Denn Amis behauptet, dass Brandans Kopf ihm im Gespräch (Iz hat gesprochen wider mich) befohlen habe, ihm eine Kirche zu bauen, allerdings mit also reinen sachen, also Spenden, die rein, unbefleckt seien. Das Vorzeigen und Schauen der Reliquie sowie das Gespräch mit ihr bilden den theatralen Rahmen für das Gelingen der Schwanklist. In der Neuzeit funktioniert so etwas nicht mehr - hier wird nur der Totenschädel wahrgenommen, der noch kein Beweis für den Heiligen ist. Das Reliquienverständnis des Mittelalters eröffnet die kulturelle Alterität der Erzählung. Doch warum wählt Amis gerade den Schädel des Hl. Brandan als Reliquie ? Darüber wird nichts erzählt, aber dass die Wahl Brandans vom Stricker wohlkalkuliert sein muss, vermutet Schilling, indem er in der mangelnden Wundergläubigkeit des legendarischen Brandan und seiner Bußfahrt ein Analogon zum anwesenden Publikum erkennt, welches - die Bekanntheit Brandans vorausgesetzt - dadurch umso mehr bereit sei, die angekündigten zeichen zu akzeptieren. 10 Dies ist auch deshalb plausibel, weil schon Vincent von Beauvais die Pilgerschaft des Hl. Brendan nicht in sein kanonisches Spe- 7 Vgl. Wailes : Studien zur Kleindichtung, 1981, S. 230 f. 8 Vgl. Ragotzky : Gattungserneuerung und Laienunterweisung, 1981, S. 154 ff. 9 Vgl. Röcke : Die Freude am Bösen, 1987, S. 63. 10 Vgl. Der Pfaffe Amis, 1994, Stellenkommentar, S. 160 f. 142 Hans Rudolf Velten culum Historiale aufnahm, mit der Begründung, sie sei häretisch inspirierter Unsinn ( propter apocrypha quaedam deliramenta 11 ), ein Urteil, das im 13. und 14. Jahrhundert häufig wiederholt wurde. Dennoch erscheinen die Beziehungen zu Brandan, wie sie im Pfaffen Amis erzählt werden, auf den zweiten Blick jedenfalls komplexer. Interessant ist, dass das houbet Brandans offensichtlich menschliche Eigenschaften hat : Es kann sprechen. Und mehr noch, es kann dem Pfaffen Amis Befehle erteilen : daz hat ez mir verboten an den lip, besitzt somit eine gewisse Autorität, die mit dem Heiligen und der Präsenz der Reliquie gleichermaßen einhergeht. Der Kopf Brandans ist quasi der Heilige selbst, den der Pfaffe mit sich herumträgt, sodass die Reliquie nicht nur als Teil für den ganzen Körper des Heiligen, sondern für diesen selbst im transzendentalen Status steht - was dem Jenseitsreisenden Brandan in besonderem Maße entsprechen dürfte. Nun gibt es keinen Beleg für eine tatsächliche Kopfreliquie des Heiligen. Aber es gibt literarische Bezüge : In der mittelniederländischen Reise-Fassung C der Brandanlegende (De reis van Sint Brandaan 12 , 13. Jh.) wird von einem Gespräch Brandans mit dem Schädel eines toten Riesen erzählt (V. 137 - 260 ), 13 das in keiner anderen Fassung der Reise, aber auch nicht in der lateinischen Navigatio Sancti Brendani enthalten ist. Darin wird berichtet, dass Brandan und seine Mönche den Schädel eines Riesen am Strand finden. Brandan spricht mit dem Schädel, der sich als ‹ Heide › zu erkennen gibt und die Taufe ablehnt, da er glaubt, Sünden nicht widerstehen zu können, und als getaufter Sünder schlimmere Höllenqualen zu erleiden hätte, als wenn er ‹ Heide › bliebe. 14 Dieser einzige Beleg für einen sprechenden Schädel im 11 Vincenz von Beauvais : Speculum Historiale Tom. XXII, cap. 81, zitiert nach Strijbosch : The Heathen Giant, 1999, S. 370. Nach der Kritik von Vincenz wird auch in der volkssprachigen Literatur die kritische Haltung gegenüber den von Brandan berichteten Wundern fassbar, etwa in ironischen Anspielungen im Moriz von Crâun ( vgl. Kästner : Der zweifelnde Abt, 1992, S. 404, sowie Kühn : Heilige sind anders, 2008, S. 116 ff.). 12 Zitiert nach : Strjibosch : The Heathen Giant, 1999. 13 Vgl. ebd. 14 Die Forschung sah darin ein keltisches Motiv, Clara Strijbosch vermutet hingegen eine Insertion des Schreibers von C. Die Herkunft der Episode ist noch immer unklar ; infrage kommen die Vita des Hl. Malo/ Maclovius und die Makariuslegende ( vgl. Strijbosch : The Heathen Giant, 1999, S. 373 - 378 ). Kopfreliquie 143 Zusammenhang mit dem Hl. Brandan weist auf die Ambivalenz hin, die der Schwank auf der Folie seines Prätextes konstruiert : Einerseits sakralisiert der Stricker das Gespräch mit dem Totenschädel, indem er ihn im Pfaffen Amis zu einer Reliquie macht, die durchaus als Vermittlungsmedium des Pfaffen zum transzendenten Heiligen dienen kann. Die sprechende Reliquie ist als ein «Medium anschaulicher Konkretion » 15 überdeterminiert, sie ist gleichzeitig Repräsentationsmedium göttlicher Kraft wie handlungsmächtige Instanz. Andererseits familiarisiert der Stricker den Prätext, indem der Gesprächspartner des Riesen, der Hl. Brandan, nun selbst zur sprechenden Reliquie gemacht wird. 16 Dazu gehört auch, dass die Kopfreliquie nun gerade nicht nur im heilsvermittelnden Sinn wirkt, sondern vor allem zum Zweck der Versorgung des Pfaffen mit Geldmitteln. Ambivalenz und jocularitas sind bereits der Episode der reis van Sint Brandaan eingeschrieben, der Stricker nimmt sie auf und macht daraus einen parodistischen Schwank voller Inversionen ( so kommen nicht die Pilger zur Reliquie, sondern umgekehrt), der einen krafterfüllten und heilbringenden Gegenstand sowohl als Fetischobjekt als auch als sprechendes Organ des transzendenten Heiligen verwendet und ihn effektiv zum allgemeinen Nutzen einsetzen kann. Der Schwankroman vermag wie kaum eine andere literarische Erzählung den Glauben an die Wunderkraft der Reliquie und ihre inhärenten Täuschungsmöglichkeiten transparent zu machen, wenn er das Netzwerk, das Reliquien zwischen Himmel und Erde herstellen und eine unsichtbare virtus präsent machen, erzählerisch ausbreitet und es gleichzeitig ausbeutet. 17 15 Vgl. Laube : Von der Reliquie zum Ding, 2011, S. 8. 16 Andere sprechende Köpfe erwähnt Christa Tuczay : Kulturgeschichte, 2012, S. 317 f.: «Um 1245 taucht das sprechende Haupt als einer der wunderbaren Automaten auf, die Vergil konstruiert haben soll. In Analogie zur Gerbert-Legende befragt Vergil den Kopf nach den Umständen seines eigenen Todes, dieser antwortet ihm ebenfalls zweideutig, und der Magier kommt zu Tode.» Ferner gab es zahlreiche Nachrichten und Legenden über sprechende Bronzehäupter im 13. und 14. Jahrhundert. 17 Über den ungebrochenen Wunderglauben des 13. Jahrhunderts schreibt Karl Heussi : Kompendium, 1956, S. 225 : «Die Frömmigkeit lebte vom Wunder. [ … ] Die Heiligen, die Reliquien, die Bilder wurden verehrt, weil man Wunder von ihnen erwartete. Der Überschwänglichkeit des Wunderglaubens entsprach die Häufigkeit des frommen Betrugs.» 144 Hans Rudolf Velten Der Schwank mit der Kopfreliquie ist eine von mehreren Episoden, die der Autor des Straßburger Eulenspiegelbuchs von 1515 aus dem Pfaffen Amis übernimmt. In der 31. Historie, die ankündigt, wie Ulenspiegel mit einem Todtenhoupt umbzoch, die Leut damit zu bestreichen, unnd vil Opffer darvon uffhub, gibt sich Eulenspiegel als ein Statzinierer (Mönch mit Reliquien ; Ulenspiegel, S. 93 ) aus, der mit einem Heiltumb im Land umherreist. Weiter heißt es, er cleidet sich mit einem Schuler in eins Priesters Gestalt und nam ein Todtenkopff und ließ ihn inn Silber fassen (S. 93 ). Die Historie beginnt mit einem Prolog über die Schalckeit und das Gükelspil Eulenspiegels, der überlegt, wie er sich ohne Mühe und Aufwand ernähren könne : Seine Intentionen werden eindeutig genannt, seine betrügerischen Maßnahmen (Verkleidung, falsche Reliquie, Täuschung ) sind evident. Er verwendet auch keine Reliquie, sondern einen tatsächlichen Totenschädel, dessen wahre Herkunft später genannt wird : das villeicht eins Schmidß Haubt geweßen wer, das er uff einem Kirchoff genummen hat (S. 94 ). Diesen Kopf lässt Eulenspiegel inn Silber fassen (S. 93 ), d. h., er schafft selbst ein wunderkräftiges Objekt, indem er durch den Wert des Silbers ein Reliquiar vortäuscht. Wie in der Vorlage gibt Eulenspiegel die Reliquie als das Haubt St. Brandonus (S. 93 ) aus, allerdings fehlen das Gespräch mit dem Heiligen und dessen Auftrag und somit auch der intertextuelle Verweis auf die Reise Brandans. Stattdessen wird kurz gesagt, daz ihm befolhen wär, damit ze samlen (S. 93 ), um eine neue Kirche zu bauen. Der Trick, er würde keine Opfer von Ehebrecherinnen annehmen, gleicht dann wiederum der Vorlage. Der Verfasser des Eulenspiegelbuchs ist somit stärker an Inszenierung und Verlauf des Betrugs interessiert als an der Komplexität des Schwankverlaufs oder der handlungsmächtigen Reliquie aus Strickers Amis. Bei Eulenspiegel wird der Schädel zum bloßen Objekt degradiert, er wird von der Reliquie zum Fetisch, denn Leser und Hörer der Historie erfahren, dass er zweifellos eine Fälschung ist. Er ist factitius, gemacht, ein künstliches Heilmittel, was beim Stricker in dieser Eindeutigkeit nie gesagt wird. Auf die Künstlichkeit weist auch der selbst gemachte Silberüberzug hin, der ein Reliquiar vortäuschen soll, ohne eines zu sein. Der Schädel verliert gänzlich seinen heilsvermittelnden und sakralen Gehalt ( vom Wunder ist keine Rede mehr), sondern täuscht ihn nur noch vor - somit entfällt auch die Dialektik von Sakralität und Familiarisierung. Die Bauern, vor denen Eulenspiegel predigt, küssen zwar das Haupt, doch sie tun es in einer Art rückständiger Kopfreliquie 145 Wundergläubigkeit, die sie als borniert ausweist. Als lächerlich erscheinen sie vollends, wenn gesagt wird, dass die einfältigen Frawen an sein listige, schalckhafftige Sach (S. 94 ) glaubten. Eine Kopfreliquie, ein Ding mit Aura, ein sakrales Zeugnis in eine Schwankhandlung mit Betrugsabsicht einzubinden, erscheint hier nicht mehr gewagt wie im Pfaffen Amis. Die Heiligkeit der falschen Reliquie wird von Beginn an im Rahmen der Büberei denunziert, das Sakrale wird in einen schwankhaften Kontext gesetzt und von diesem gerahmt. Folglich spielt das mittelalterliche Reliquienverständnis keine Rolle mehr, der Schwankroman propagiert nun eine profane und kritische, fast reformatorische Auffassung des Heiltums. Die Kopfreliquie ist nur noch ein Ding, das seinen Zweck erfüllt, sie hat ihre Funktion der Heilsvermittlung und der Evidenz des Heiligen verloren. Damit verliert sie auch ihre agency, die sie im Pfaffen Amis - wie auch immer ironisch verhüllt - noch besessen hat. Bibliographie Ein kurzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515. Mit 87 Holzschnitten. Herausgegeben von Wolfgang Lindow. Stuttgart 1966 (RUB 1687 ). Der Stricker : Der Pfaffe Amis. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Nach der Heidelberger Handschrift cpg 341. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Michael Schilling. Stuttgart 1994 (RUB 658 ). Angenendt, Arnold : Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart. München 1994. Beissel, Stephan : Die Verehrung der Heiligen und ihrer Reliquien in Deutschland im Mittelalter. Darmstadt 1991 [Nachdruck der Ausgabe Freiburg i. Br. 1890/ 92]. Bosselmann-Cyran, Kristian : [Art.] Reliquie. In : Enzyklopädie der Medizingeschichte. 3 Bde. Herausgegeben von Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil und Wolfgang Wegner. Berlin, New York 2005, S. 1231 - 1233. Burgess, Glyn und Clara Strijbosch (Hgg.): The Legend of Saint Brendan. Dublin 2000. Fuchs, Karin : Zeichen und Wunder bei Guibert de Nogent. München 2008 (Pariser historische Studien 84 ). Hartmann, Andreas : Zwischen Relikt und Reliquie. Objektbezogene Erinnerungspraktiken in antiken Gesellschaften. Berlin 2010 (Studien zur alten Geschichte 11). Heussi, Karl : Kompendium der Kirchengeschichte. 12., neu bearbeitete Auflage. Tübingen 1960. 146 Hans Rudolf Velten Kästner, Hannes : Der zweifelnde Abt und die Mirabilia descripta. Buchwissen, Erfahrung und Inspiration in den Reiseversionen der Brandan-Legende. In : Xenja von Ertzdorff und Dieter Neukirch (Hgg.): Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Amsterdam, Atlanta 1992 (Chloe 13 ), S. 389 - 416. Kellermann, Karina : Der Körper. Realpräsenz und symbolische Ordnung. Eine Einleitung. In : Das Mittelalter 8/ 1 ( 2003 ), S. 3 - 8. Kühn, Christine : Heilige sind anders. Das Spiel mit religiösen Motiven in der mitteldeutschen ‹ Reise-Fassung › des heiligen Brandan. In : Albrecht Greule, Hans Walter Herrmann, Klaus Ridder und Andreas Schorr (Hgg.): Studien zu Literatur, Sprache und Geschichte in Europa. Wolfgang Haubrichs zum 65. Geburtstag gewidmet. St. Ingbert 2008, S. 113 - 132. Laube, Stefan : Von der Reliquie zum Ding. Heiliger Ort - Wunderkammer - Museum. Berlin 2011. Legner, Anton : Reliquien in Kunst und Kult. Zwischen Antike und Aufklärung. Darmstadt 1995. Paulus, Nikolaus : Geschichte des Ablasses im Mittelalter. Vom Ursprunge bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts. Bd. 2 : Vom Ursprunge bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts. Darmstadt 2 2000 [Nachdruck der Ausgabe Paderborn 1922 ]. Ragotzky, Hedda : Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers. Tübingen 1981. Röcke, Werner : Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter. München 1987 (Forschungen zur Geschichte der älteren Literatur 6 ). Schreiner, Klaus : Discrimen veri ac falsi. Ansätze und Formen der Kritik in der Heiligen- und Reliquienverehrung des Mittelalters. In : AfK 48 (1966 ), S. 1 - 53. Strijbosch, Clara : The Heathen Giant in the Voyage of St. Brendan. In : Celtica 23 (1999 ), S. 369 - 389. Strijbosch, Clara : The Seafaring Saint. Dublin 2000. Tuczay, Christa A.: Kulturgeschichte der mittelalterlichen Wahrsagerei. Berlin 2012. Wailes, Stephen L.: Studien zur Kleindichtung des Stricker. Berlin 1981 (PhSt 104 ). Kopfreliquie 147 Abb. 12: Sigune liest den Text einer beschrifteten Hundeleine, die ihr Geliebter Schionatulander dem Bracken Gardeviaz abgewonnen hatte. Quelle : München, BSB, cgm. 8470, sog. Fernberger-Dietrichsteinsche Handschrift, 2. Viertel 15. Jh. (? ). Albrecht von Scharfenberg: Jüngerer Titurel (W ), fol. 164 v , Deckmalfarben und Blattgold auf Pergament, 305 x 235 mm.