«Woche für Woche neue Preisaufschläge» 

Sektion II: Die Energiekrise

«Woche für Woche neue Preisaufschläge» - Nahrungsmittel-, Energie- und Ressourcenkonflikte in der Schweiz des Ersten WeltkriegesSektion II: Die Energiekrise10.24894/978-3-7965-3542-0 Daniel Krämer, Christian Pfister, Daniel Marc SegesserSEKTION II: DIE ENERGIEKRISE 4. FRIEREN, KALT ESSEN UND ZU FUSS GEHEN. DIE ENERGIEKRISE 1917-1919 IN DER SCHWEIZ Christian Pfister 4.1 Teurer als Brot Die Menschen in der Schweiz litten in den Jahren 1917-1920, wie jene in den meisten anderen europäischen Ländern, nicht nur unter teuren Kartoffeln und kärglichen Brotrationen, sondern auch unter einer kriegsbedingten Verknappung von Energierohstoffen wie Kohle, Brennholz oder Koch- und Leuchtgas. Die Kohle verteuerte sich bis 1918 gegenüber dem Vorkriegsstand um mehr als das Fünffache; die Preise stiegen damit wesentlich stärker als bei den Grundnahrungsmitteln (vgl. die Beiträge in der Sektion Versorgungskrise sowie den einführenden Beitrag von Pfister). In den städtischen Mietskasernen schlotterten die Bewohner nicht nur in ihren schlecht geheizten Wohnungen, sie mussten auch kalt essen. Auf dem Lande zündeten die Menschen mit Einbruch der Dunkelheit aus Mangel an Leuchtpetroleum Kerzen an. Die Mobilität war eingeschränkt, weil die dampf betriebenen Bahnen unerschwinglich teuer geworden waren und nur noch werktags nach einem ausgedünnten Fahrplan verkehrten. Die schwerwiegendste Energiekrise seit der Gründung des Bundesstaates fiel mit der grössten innenpolitischen Krise, dem Landesstreik, zusammen. 1 Sie wird in der neueren Historiographie mit keinem Wort erwähnt. Das Tauziehen um Kohlelieferungen mit dem Deutschen Reich, dem bedeutendsten Lieferanten, ist zwar jüngst von Roman Rossfeld und Tobias Straumann aufgearbeitet worden, ihr Fokus lag aber auf der Industrie. 2 Fündig wird man bei der Frage nach den Konsequenzen der Energiekrise für die Bevölkerung lediglich in der älteren Historiographie. Für Hermann Sieveking und Traugott Geering, die als Historiker und Ökonomen den Weltkrieg in der Schweiz miterlebt hatten, war die Energiekrise ein bedeutendes Thema. 3 Der Historiker Jakob Ruchti widmet 1 Steinmann 2003: 79. 2 Rossfeld/ Straumann 2008: 11-62. 3 Sieveking 1922; Geering 1928. 1 1 4 c H r I S T I A N P f I S T e r diesem Aspekt in seiner zweibändigen, kurz nach Kriegsende niedergeschriebenen Monographie ein Unterkapitel, 4 und in den Jahren danach sind mehrere einschlägige Dissertationen verfasst worden. 5 Drei Lizentiatsarbeiten sind unter meiner Leitung zu dieser Thematik entstanden. Ihre Ergebnisse sind in die vorliegende Darstellung eingeflossen: Thomas Mügeli hat sich unter technik- und wirtschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten umfassend und sachkundig mit der Produktion von Stadtgas und elektrischer Beleuchtung sowie dem Wettbewerb zwischen Gas und Elektrizität unter den Bedingungen der Energiekrise auseinandergesetzt. 6 Jonas Steinmann hat die Kohlenversorgung mit Blick auf die Elektrifizierung der Bahnen auf den Punkt gebracht. 7 Alexander Baumgartner hat sich ausführlich mit den Bedingungen befasst, unter denen das Deutsche Reich bereit war, fast bis zum bitteren Ende, Kohle an die Schweiz zu liefern. 8 Dieser Beitrag ist wie folgt aufgebaut: Anschliessend an diese Einleitung vermittelt das zweite Unterkapitel einen kurzen Überblick über die Entstehung des kohlebasierten Energiesystems in der Schweiz. Das dritte Unterkapitel widmet sich der makroökonomisch-finanzpolitischen Seite der Importe von Kohle aus dem Deutschen Reich und der Versorgung der Bevölkerung mit Energierohstoffen. Das vierte Unterkapitel thematisiert den Aufschwung der Elektrizität als preisgünstige Alternative. Abgeschlossen wird der Beitrag mit einem Fazit. 4.2 Der späte Anschluss ans fossile Energiesystem Energie ist eine grundlegende Eigenschaft von Objekten in der Physik. Der Begriff im heutigen Sinn wurde 1852 von dem schottischen Physiker William Rankine in die Physik eingeführt. Mit der Ölpreiskrise der 1970er Jahre ist er in den gesellschaftlichen Diskurs eingegangen. Vorgängig taucht er in den Quellen nicht auf. Daraus darf aber nicht geschlossen werden, dass Energie in der Geschichte belanglos gewesen wäre. Benen- 4 Ruchti, 1930/ 2, 243-256. 5 Wildberger 1923; Pfenninger 1928; Senglet 1950. 6 Mügeli, 1994. 7 Steinmann 2003. 8 Baumgartner 2008. f r I e r e N , K A L T e S S e N u N D Z u f u S S g e H e N 1 1 5 nen wir nämlich die durch Energienutzung erbrachten (Dienst-)Leistungen - Nahrung, Wärme, Transport und mechanische Arbeit -, wird klar, dass es sich um eine Chiffre für Mobilität oder Güter von existentieller Bedeutung wie Milch, Getreide und Kohle handelt. Nach Ansicht der Umweltökonomie steht Energie als Produktionsfaktor auf derselben Ebene wie Arbeit und Kapital. Sie ist das Rückgrat jeglicher materiellen Produktion und sie ist in dieser Eigenschaft weder in Form noch in Menge ersetzbar. 9 Art, Umfang und Preis der Energieträger, die für Energiedienstleistungen zur Verfügung stehen, die dafür eingesetzten Produktionsverfahren und die geltenden Partizipationsregelungen stecken die physischen und sozialen Handlungsspielräume einer Gesellschaft ab. Periodisieren wir die Wirtschafts- und Umweltgeschichte in den Ländern des Nordens nach den dominanten Energiequellen, lassen sich Perioden der Agrargesellschaft, der Industriegesellschaft und der Konsumgesellschaft unterscheiden. Agrargesellschaften lebten auf der Basis von Biomasse, Schlüsselenergieträger der Industriegesellschaft war die Kohle, während die Konsumgesellschaft vorwiegend Erdöl und Erdgas nutzt. 10 Die Abgrenzung zwischen diesen Perioden ist zeitlich unscharf und räumlich variabel. Um 1850 war die Schweiz in ihrer Energieversorgung noch autark: 90 Prozent der Primärenergie entfielen auf Holz. 11 Die erste Phase der Industrialisierung mit der Textil- und der Uhrenbranche als Schwerpunkten war an die Wasserkraft gebunden. Auf der Grundlage von Kohle und Eisen wurde mit dem Eisenbahnnetz ein neuartiges Verkehrssystem aufgebaut, das die Transportkosten radikal senkte, die Transportkapazität und -geschwindigkeit erhöhte, den Einzugsbereich der Märkte erweiterte und damit die Grundlagen zu einer grossräumigen Arbeitsteilung schuf. Die Schweiz war in dieser Hinsicht im europäischen Vergleich eine Nachzüglerin, doch holte sie nach der Verabschiedung des Eisenbahngesetzes 1852 rasch auf. Mit der Eröffnung des Hauenstein-Tunnels zwischen Olten und dem basellandschaftlichen Tecknau am 1. Mai 1858 begann das Zeitalter der fossilen Energien. Der Hauenstein-Tunnel verband das Mittelland mit Basel und über das oberrheinische Eisenbahnnetz mit den 9 Möller 1986: 8. 10 Pfister 1995: 39. 11 Marek 1991: 17, Anmerkung 20. 1 1 6 c H r I S T I A N P f I S T e r Kohlegruben der Saar und der Ruhr. 12 Fortan rollte die Kohle in stetig steigenden Mengen ins Land und legte den energetischen Grundstein zu einer zweiten Industrialisierungsphase mit der Metall- und der Maschinenindustrie, dem Fahrzeugbau, der Chemischen Industrie und der Nahrungsmittelindustrie als Trägerbranchen, die allesamt Prozesswärme benötigen. 13 Der Verbrauch blieb in den ersten dreissig Jahren auf die Industrie, die Gaswerke und die Bahnen beschränkt. 14 Die Stadt Bern führte 1843 als erste Stadt in der Schweiz die Gasbeleuchtung ein, 15 zunächst auf der Basis von Schieferkohle, die im Winter in Beatenberg abgebaut und dann auf der Aare nach Bern geflösst wurde. 16 Die städtische Gasbeleuchtung verbreitete sich anschliessend im Kielwasser des Eisenbahnbaus. Die Städte nutzten die entlang dem Bahnnetz entstehenden Kohledepots zum Auf bau von Gasversorgungen. Gasherde und -heizungen wurden in diesem Zusammenhang den Bedürfnissen des Haushalts angepasst und lösten in den Städten die Holzherde ab. Im Hausbrand war die Kohle wegen der Staub- und Geruchsbelästigung zunächst nicht beliebt. 17 Sie fand erst mit den Zentralheizungen, die in den zahlreichen städtischen Wohnblocks vom späten 19. Jahrhundert an eingebaut wurden, Eingang in den Alltag. 18 Auf dem Lande verdrängte die billigere und hellere Petroleumbeleuchtung die Talgkerze der Armen und die mit einheimischem Rapsöl und Lein(samen)öl betriebenen Öllampen in «besseren» Häusern. 19 Das Gaslicht wurde vom ausgehenden 19. Jahrhundert an teilweise durch die elektrische Glühbirne abgelöst. Elektrizität durch die Nutzung von Wasserkraft konnte anf änglich nur kleinräumig produziert und 12 Marek 1991: 57. 13 Pfister 1996: 53. 14 Pfister 1995: 48. 15 Schivelbusch 1983: 36. 16 Egger 1993. 17 Pfister 1995: 48. 18 Geschichte des Heizens, RWE Magazin 3/ 2011, http: / / www.rwe.de/ web/ cms/ de/ 1106912/ rwe-magazin/ rwe-magazin-archiv/ archiv-2011/ ausgabe-3/ geschichtedes-heizens/ (Zugriff am 08.10.2014). 19 Schivelbusch 1983: 36. f r I e r e N , K A L T e S S e N u N D Z u f u S S g e H e N 1 1 7 verteilt werden und war unerschwinglich. Nachdem das Problem der Fernübertragung gelöst worden war, wurden entlang der Flüsse von den 1890er Jahren an Lauf kraftwerke gebaut. 20 Vor dem Krieg wurde ein bedeutender Teil des öffentlichen Nahverkehrs (Trambahnen und Schmalspurbahnen) elektrifiziert, teilweise bereits das Bahnnetz. 21 Am 15. Juli 1913 wurde am Lötschberg die erste elektrische Gebirgsbahn der Welt eröffnet (vgl. den Beitrag von Amacher Hoppler). An festen mineralischen Brennstoffen (Steinkohle, Braunkohle, Koks, Brikette) zum Betriebe von Eisenbahnen, Dampfschiffen, Fabriken, Gaswerken und zu Heizzwecken importierte die Schweiz jährlich etwas über 3 Millionen Tonnen über das Bahnnetz und die Rheinschifffahrt, wobei 90 Prozent der festen mineralischen Brennstoffe deutschen Ursprungs waren. Gut 10 Prozent der Kohle stammten aus Frankreich und Belgien. 22 An Leuchtpetroleum wurden 60-000 Tonnen importiert, vorwiegend aus den USA, ausserdem aus Österreich-Ungarn, Russland und Rumänien. 23 4.3 Am Tropf Deutschlands Im Verlaufe des Krieges schränkten Kontrollgesellschaften den Import und Export von Gütern zunehmend ein: Vom Juli 1915 an überwachte die Schweizerische Treuhandstelle (S.T.S.) den Handelsverkehr der Schweiz mit den Mittelmächten, im November des gleichen Jahres nahm ihr Gegenstück auf Seite der Entente, die Société Suisse de Surveillance Économique (S.S.S.), ihre Arbeit auf. Beide Gesellschaften wurden als Vereine konstituiert und erhielten vom Bund eine Art Startkapital. 24 Keine der beiden Kriegsparteien bestritt die Versorgung der neutralen Staaten mit Lebensmitteln und Rohstoffen, doch versuchten beide zu verhindern, dass kriegswichtige Rohstoffe und Industrieprodukte aus eigener Produktion an den Feind geliefert wurden. Kam die Schweiz einer 20 Paquier 1998: 723-807. 21 Paquier 1998: 859-884. 22 Ruchti 1930/ 2: 244. 23 Geering 1928: 123. 24 Cottier 2014: 48-55. 1 1 8 c H r I S T I A N P f I S T e r Forderung der Entente nicht nach, sperrten die Westmächte die Häfen. Im Dezember 1914 erzwangen sie auf diese Weise zum Beispiel die Einführung eines Staatsmonopols für Getreideimporte. 25 Bei der Versorgung mit Kohle hing die Schweiz am Tropf des Deutschen Reiches. Als Lieferanten standen nach Kriegsausbruch, bei vorerst nur leicht steigenden Preisen, weiterhin die Zechen des deutschen Kohlensyndikates an der Ruhr im Vordergrund. Lieferungen aus Belgien und Nordfrankreich fielen auf Grund des Kriegsverlaufes weitgehend weg. 26 «Nachdem der Schock des Kriegsbeginns überwunden war, wurde die Alpenrepublik zum willkommenen Abnehmer für Brennstoffe», denn dem Deutschen Reich mangelte es an Devisen. Der Kohlenimport war für die Schweizer Unternehmer, Gaswerke, Eisenbahnen und Privatverbraucher zuerst ohne Mengen- und Verwendungsbeschränkung möglich. Der milde erste Kriegswinter trug dazu bei, dass Kohle in der Schweiz nicht knapp wurde. Nachdem sich die deutschen Hoffnungen auf einen schnellen Sieg verflüchtigt hatten, rückte der Wirtschaftskrieg in den Vordergrund. 27 Im August 1915 sperrte die deutsche Regierung die Kohlenlieferungen an 255 Betriebe der Maschinenindustrie, die zweifelsfrei für die Entente arbeiteten. Da aber auf dem Schweizer Binnenmarkt genügend deutsche Kohle erhältlich war, verpuffte dieser Boykott zur Verärgerung der deutschen Behörden. Berlin zog die Schraube anschliessend schrittweise an, was in der Forderung nach einer zentralisierten Behörde mündete, welche die importierte Kohle aus Deutschland zu verteilen und ihre Verwendung zu kontrollieren hatte, um die missbräuchliche Nutzung deutscher Energie für die feindliche Rüstung zu verhindern. 28 Die organisierten schweizerischen Kohlenkonsumenten (Konsumverband, Städteverband, Gaswerke, Industrien und Nebenbahnen) schlossen sich Ende Dezember 1915 zu einer genossenschaftlichen Zentralstelle für die Kohlenversorgung der Schweiz zusammen, die ab 1. Februar 1916 in Basel für den Import der deutschen und der belgischen Kohle verantwortlich war. Ausgenommen waren lediglich die Bundesbahnen. 29 Diese 25 Ochsenbein 1971: 315. 26 Mügeli 1994: 110. 27 Steinmann 2003: 74, gestützt auf Pfenninger 1928. 28 Steinmann 2003: 74. 29 Steinmann 2003: 74. f r I e r e N , K A L T e S S e N u N D Z u f u S S g e H e N 1 1 9 privatwirtschaftliche Genossenschaft überprüfte jede einzelne Bestellung und ihre Verwendung. Die Kohlenbezüger wurden verpflichtet, der Zentralstelle «alle zweckdienlichen Angaben über die Verwendung und Weitergabe der Kohle, sowie über Lagerbestände und ihren Selbstverbrauch zu machen» und ihr dazu Einblick in die Bücher zu geben. 30 Wer gegen die Bestimmungen verstiess, wurde von weiteren Lieferungen deutscher Kohle ausgeschlossen. Mengenmässig wurden die Käufe nicht beschränkt. 31 Für die Produktion von Kriegsmaterial zugunsten der Entente stellte Frankreich Kohle zur Verfügung, jedoch lediglich 16 Prozent der ursprünglich zugesagten 85-000 Tonnen. 32 Analog zu den harten Bedingungen der S.S.S. verschärfte Berlin die Exportbedingungen ebenfalls. Am 2. September 1916 wurde ein erster Handelsvertrag mit einer Laufzeit bis 30. April 1917 unterzeichnet. Darin gestand Deutschland der Schweiz unter anderem ein Kontingent von monatlich 253-000 Tonnen Kohle zu, wobei ihr die gleiche Lieferpriorität wie der deutschen Rüstung zugeordnet wurde. Als Gegenleistung gewährte die Schweiz dem Reich über Vermittlung durch private Banken einen Kredit über 1.6 Milliarden Franken, 33 dessen Auszahlung allerdings an den Umfang der Kohlelieferungen gebunden war. 34 Aufgrund der Überbeanspruchung des deutschen Produktionsapparates durch die Kriegswirtschaft konnte das zugesicherte Monatskontingent nie erfüllt werden. Ab Oktober 1916 ging die Liefermenge schrittweise zurück. Bis zum Jahresende waren 163- 000 Tonnen weniger geliefert worden als zugesagt. 35 Da es Deutschland an Rollmaterial mangelte, hatte die Schweiz die Kohle mit eigenen Güterwagen zu transportieren. Bei Ablauf des Handelsvertrags im April 1917 verzichtete Berlin auf Neuverhandlungen, sagte monatlich nur noch 190-000 Tonnen zu und 30 Reglement für die Zentralstelle für die Kohlenversorgung der Schweiz vom 29. Dezember 1915, zitiert nach Steinmann 2003: 75. 31 Geering 1928: 95. 32 Ruchti 1930/ 2: 144f. 33 50 Millionen Franken (1916). 34 Diese ursprünglich geheime Zusatzbestimmung weist Ochsenbein 1971: 271, Anmerkung 867, nach. 35 Wildberger 1923: 69. 1 2 0 c H r I S T I A N P f I S T e r verlangte neue Kredite. 36 Geliefert wurden in den folgenden Monaten - trotz wesentlich höherer Preise - durchschnittlich nur noch 150-000 Tonnen. 37 4.3.1 «Kohle» gegen Kohlen Am 20. August 1917 wurde ein zweiter Handelsvertrag mit dem Reich abgeschlossen, der neun Monate gültig war. Alexander Baumgartner hat die Verhandlungen dieses finanz- und neutralitätspolitisch brisanten Dokuments im Detail recherchiert. 38 Berlin stellte Lieferungen von 200-000 Tonnen in Aussicht, erhöhte aber den Preis pro Tonne von 387 auf rund 580 Franken. 39 Neu wurden die Preise in Franken, nicht mehr in Mark festgelegt. Mit gutem Grund, hatte doch die Mark im Vergleich zum Franken im August 1917 die Hälfte ihres Vorkriegswechselkurses eingebüsst. Die deutsche Seite stellte sich auf den Standpunkt, die Schweiz hätte eigentlich den Weltmarktpreis für Kohle von ungef ähr 1270 Franken 40 zu zahlen. Aus gut-nachbarschaftlicher Freundschaft akzeptiere man einen Preis von rund 640 Franken, 41 wenn die andere Hälfte als Valuta-Kredit zur Verfügung gestellt wurde. 42 Das heisst, Berlin verknüpfte die Lieferung von unentbehrlicher, fossiler Energie mit währungspolitischen Forderungen. Pro gelieferte Tonne sollten rund 640 Franken 43 Kredit gewährt werden, und zwar progressiv steigend. Bei einer monatlichen Lieferung von 85-000 Tonnen sollten pro Tonne 213 Franken 44 Kredit, bei einer solchen von 200-000 Tonnen, dem kontingentierten Maximum, etwa 640 Franken 45 vergeben werden. Die Transportkosten sollten von den Schweizer Importeuren berappt werden. 36 Steinmann 2003: 76. 37 Steinmann 2003: 77. 38 Baumgartner 2008. 39 Von 60 auf 90 Franken (1917). 40 Rund 200 Franken (1917) pro Tonne. 41 Rund 100 Franken (1917). 42 Pfenninger 1928, zitiert nach Steinmann 2003: 78. 43 Rund 100 Franken (1917). 44 30 Franken (1917). 45 100 Franken (1917). f r I e r e N , K A L T e S S e N u N D Z u f u S S g e H e N 1 2 1 Die Schweiz konnte als neutraler Staat schwerlich einem Krieg führenden Staat Kredite einräumen. 46 Solche Kredite finanzierten deshalb Schweizer Banken, wobei keine Kriegspartei benachteiligt werden durfte. Sowohl Deutschland wie auch Frankreich waren 1916 Anleihen von rund 1.6 Milliarden Franken 47 gewährt worden, die durch Wechsel gesichert waren. 1917 signalisierten die Banken dem Bundesrat, sie seien in Anbetracht des Wertzerfalls der Reichsmark nicht bereit, die mit den neuen Kreditforderungen des Reichs verbundenen Risiken allein zu tragen. Zur Abfederung des Kreditrisikos verlangten sie eine Haftungsbeteiligung der Industrie, da diese mit der Kohle Gewinne erwirtschafte. 48 Die Industriellen waren jedoch nicht willens, zusätzlich zum Exportrisiko auch ein Kreditrisiko auf sich zu nehmen. Die schweizerische Delegation bot anstelle von Krediten höhere Preise für eine gesicherte Kohlenzufuhr an, die deutsche Delegation wollte sich jedoch nicht darauf festlegen. 49 Sie wies auf die Versorgungsprobleme im eigenen Land hin, die aus heutiger Sicht hauptsächlich eine Folge der Rüstungsproduktion waren, 50 und drohte mit einer Verdoppelung des bisherigen Kohlepreises, sollte die Schweiz den Kredit verweigern. Dies wiederum war für die Schweiz in Anbetracht der damit verbundenen volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Konsequenzen inakzeptabel. In Zusammenarbeit mit Vertretern der Banken stellten die Unterhändler fünf Lösungsvorschläge zur Diskussion. Sie einigten sich schliesslich darauf, dass eine eigens zu diesem Zwecke zu gründende «Handelsbank» die Kredite verwalten sollte. 51 Gestützt auf seine ausserordentlichen Vollmachten schuf der Bundesrat die nötigen Voraussetzungen für die Gründung einer solchen Gesellschaft im Eilzugstempo. 52 Gegründet wurde schliesslich eine privatrechtliche Aktiengesellschaft, die Kohlenzentrale A.G. Die Eidgenossenschaft stellte über die Beteiligung der SBB das Stammkapital von rund 32 Millionen Franken. 53 46 Wildberger 1923: 92. 47 50 Millionen Franken (1916). 48 Exposée des schweizerischen Volkswirtschaftsdepartements [EVD] vom 23. Juli 1917. 49 Mügeli 1994: 113. 50 Abelshauser 1990: 437 zeigt auf, dass 1917 im Ruhrgebiet ebenso viel Kohle gefördert wurde wie 1914. 51 Exposée EVD vom 23. Juli 1917. 52 Fleiner 1923: 216-224. 53 Rund 5 Millionen Franken (1917). 1 2 2 c H r I S T I A N P f I S T e r Die Banken beteiligten sich mit rund 64 Millionen, die Kohleimporteure mit rund 32 Millionen und die landwirtschaftlichen Exportorganisationen mit rund 13 Millionen Franken. 54 Wer über einen Vorrat von mehr als 5 Tonnen Kohle verfügte, musste pro Tonne Aktien im Wert von circa 3190 Franken 55 übernehmen. Dies betraf in erster Linie die Industrie. 56 Die Konti der Kohlenzentrale A.G. lauteten auf Schweizer Franken und dienten zur Zahlung von Schweizer Exporten. Das Geld verliess die Schweiz also nie. Es war, wie Baumgartner hervorhebt, ein zeittypischer Balanceakt zwischen liberaler Wirtschaftsauffassung und staatlichem Interventionismus (vgl. auch den Beitrag von Cottier). 57 4.3.2 Weniger Kohle mit immer geringerem Heizwert Auch die im Abkommen vom 20. August 1917 vereinbarten Mengen wurden nicht erreicht. Ausserdem sank der Brennrespektive der Heizwert der Kohle. 58 In den Jahresberichten des Schweizerischen Vereins von Dampf kesselbesitzern wurden die Ergebnisse von Heizwertbestimmungen publiziert, die durch die eidgenössische Prüfungsanstalt für Brennstoffe durchgeführt wurden. Thomas Mügeli hat dieselben ausgewertet und im Anhang seiner Arbeit im Detail wiedergegeben. Der durchschnittliche Brennwert des in der Schweiz erhältlichen Brennstoffes nahm nach 1916 rasch ab, vor allem durch den vermehrten Einbezug einheimischer, qualitativ minderwertiger Brennstoffe (einheimische Kohle, Holz, Torf ). Die Kohle aus den angestammten Bezugsgebieten, namentlich die Saarkohle, büsste nach 1917 ebenfalls an Qualität ein. 59 54 10 Millionen, 5 Millionen und 2 Millionen Franken (1917). 55 500 Franken (1917). 56 Wildberger 1923: 104; Obrecht 1920: 78. 57 Baumgartner 2008: 57. 58 Der Brennwert ist ein gewichtsrespektive volumenbezogenes Mass für die in einem Stoff enthaltene thermische Energie. Der Heizwert ist dagegen das Mass für die in einem Stoff enthaltene nutzbare thermische Energie. Bei Kohle werden beide in Megajoule pro Kilogramm gemessen. Die Heizwerte liegen ungefähr 20% unter den Brennwerten.Vgl. dazu: Brandt 1999: 4. 59 Mügeli 1994: 124. f r I e r e N , K A L T e S S e N u N D Z u f u S S g e H e N 1 2 3 Gewichten wir die importierte Kohle und die insgesamt verfügbaren Brennstoffe nach ihrem Heizwert, so zeigt sich, dass dieser in beiden Fällen nach 1914 zunächst langsam, nach 1916 rasch bis auf seinen Tiefpunkt im Jahr 1919 sank (Abbildung 1). Im Vergleich zur Vorkriegsperiode halbierte sich die Heizenergie der insgesamt verfügbaren (in- und ausländischen) fossilen Brennstoffe zwischen 1916 und 1917. Bei der Ruhrkohle ging sie um einen Drittel zurück. Was sind die Ursachen dieser Entwicklung? Karin Hartewig zeichnet ein düsteres Bild: Der Lebensstandard der Bergarbeiterfamilien verschlechterte sich in der Kriegs- und Nachkriegszeit. Es fehlte an Fleisch, Kartoffeln und Fett. Die rationierten Lebensmittel und die Zu- Abb. 1: geschätzte verfügbare Heizenergie in der Schweiz 1910-1919 und jährliche fahrleistung der SBB Personenzüge 1913-1919 (indexiert). Brennstoffimporte total: Indexierte Importe von Stein- und Braunkohlen, Koks und Briketts (Durchschnitt 1910-1919: Index: 2 - 805 - 000 Tonnen=100). Quelle: Steinmann 2003, Anhang Tabelle B4, S. 10-11; Heizenergie Brennstoffe total in Wärmeeinheiten geschätzt aus dem Brennwert des durchschnittlichen Angebots an Brennstoffen in der Schweiz (Index 1910-1919: 140691=100). Sowie: Mügeli 1994, grafik 9, S. 125; Heizenergie Kohle, in Wärmeeinheiten geschätzt aus dem Brennwert der importierten Kohle (Index 1910-1919: 159709=100). Sowie: Mügeli 1994, grafik 10, S. 127; fahrleistung SBB Personenzüge: reine Personenzüge der SBB in Mio Zugskilometer 1913-1919 (Index: 15=100). Quelle: Steinmann 2003, Anhang B7. 1914 1915 1916 1917 1918 1919 Importierte feste Brennstoffe 1.10 1.10 1.12 0.81 0.76 0.62 Heizwert des gesamten Angebots an Brennstoffen 1.16 1.11 1.04 0.50 0.45 0.44 SBB Personenzüge Fahrleistung (in Mio. Zug-Km) 1.63 1.43 1.47 1.05 0.60 0.61 0.00 0.20 0.40 0.60 0.80 1.00 1.20 1.40 1.60 1.80 Index (Mittel 1910-1919 = 1.00) 1 2 4 c H r I S T I A N P f I S T e r lagen für Schwerstarbeit deckten maximal 72 Prozent des geschätzten Kalorienbedarfs. 60 Die durch Klima und Krieg bedingte katastrophale Ernährungslage der Jahre 1916 und 1917 («Kohlrübenwinter», vgl. den Beitrag von Pfister zum Klima) wirkte über die verringerte Arbeitskraft der Kumpel auf die Produktion von fossilen Energieträgern und damit auf die Rüstungsproduktion zurück. 61 Im kalten Februar 1917 legten an der Ruhr 20- 000 hungernde Bergarbeiter die Arbeit nieder. 62 Generell verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen: Bei Kriegsbeginn wurden 100-000 junge Bergarbeiter an die Front abkommandiert. An ihrer Stelle wurden Frauen, Jugendliche, Invalide und Kriegsgefangene in die Bergwerke beordert. 1917 machten diese Gruppen 39 Prozent der Belegschaft im Ruhrgebiet aus. Bei verlängerten Schichten und gehetztem Arbeitstempo nahmen Verletzungen, Unf älle und Erkrankungen zu. Zudem fehlte es an Grubenholz, Pferden, Transportwagen, Sprengstoff und Schmiermitteln. 63 Trotz Sparmassnahmen und der Gewinnung von einheimischer Kohle und von Ersatzstoffen, namentlich Torf, schmolzen die Kohlevorräte in der Schweiz zusammen. Kohle für den Hausbrand wurde am 8. September 1917, Brennholz am 18. Dezember 1917 rationiert. 64 Die Rationen für Haushalte deckten 50-60 Prozent des üblichen Verbrauchs. 65 Kantone und Städte errichteten Zentralen zur Verteilung der Kontingente. 66 Im Frühjahr 1918 schlug General Erich Ludendorff, bestärkt durch den vielversprechenden Verlauf der deutschen Offensive auf Paris, gegenüber der Schweiz einen härteren Kurs ein. Im dritten Handelsvertrag vom 22. Mai 1918 musste die erpressbare schweizerische Diplomatie unter Hinweis auf den in Deutschland herrschenden Kohlemangel einen horrenden Preis von 3280 Franken 67 pro Tonne Kohle akzeptieren, der dem Sechsbis Siebenfachen des deutschen Inlandpreises entsprach. 68 Im Ge- 60 Hartewig, 1992: 630. 61 Hartewig 1992: 630-632. 62 Abelshauser 1990: 444. 63 Hartewig 1992: 630-632. 64 Sieveking 1922: 58. 65 Mügeli 1994: 115. 66 Mügeli 1994: 126. 67 180 Franken (1918). 68 Ruchti 1930/ 2: 141f. f r I e r e N , K A L T e S S e N u N D Z u f u S S g e H e N 1 2 5 genzug verzichtete das Reich auf weitere Kredite und sicherte zu, die vereinbarten Monatskontingente nicht weiter zu schmälern. In der Tat wurden selbst kurz vor der deutschen Kapitulation im Oktober 1918 199-000 Tonnen Kohle eingeführt. 69 Im Jahr 1919 gingen die Importe, vorwiegend aus den USA, Belgien, Frankreich und Deutschland bei zusätzlichen Qualitätseinbussen weiter zurück und erreichten nicht einmal mehr die Hälfte des Vorkriegsstandes. 70 Erst 1920 verbesserte sich die Versorgung. 71 4.3.3 Leere Kohlekeller in langen Wintern Die drastische Abnahme der Kohleeinfuhr aus Deutschland erforderte einschneidende Massnahmen. 72 Die Kontingente der industriellen Grossbetriebe wurden weiter reduziert. Ab August 1918 waren faktisch alle Brennstoffe rationiert, 73 was Einsparungen beim Kochen voraussetzte. Die von Deutschland verlangten höheren Kohlepreise wurden auch auf die Konsumenten überwälzt. Kostete Kohle 1913 im Durchschnitt pro Tonne 1030 Franken, 74 musste 1918 3280 Franken 75 - also fast sechsmal mehr - bezahlt werden. 76 Wird zudem der erheblich geringere Heizwert der Kohle berücksichtigt (vgl. Abbildung 1), erhöhte sich der Preis pro Wärmeeinheit wohl um das Neunfache. Für den Bedarf an Heizenergie fallen die Wintertemperaturen ins Gewicht. Diese waren in den Jahren 1916-1918 ausserordentlich: Der Winter 1916 war in Basel der wärmste des 20. Jahrhunderts. Die fünf Monate von Dezember 1916 bis April 1917 waren gesamthaft gesehen die kältesten seit dem Beginn der regelmässigen Temperaturmessungen im Jahr 1864, der Dezember 1917 war der viertkälteste in der Periode 1864- 69 Mügeli 1994: 117. 70 Baumgartner 2008: 44 (Grafik 9). 71 Mügeli 1994: 121. 72 Abteilung für industrielle Kriegswirtschaft 1920: 14. 73 Steinmann 2003: 86. 74 31 Franken (1913). 75 146 Franken (1918). 76 Geering 1928: 91. Seinen absoluten Höchststand erreichte der Preis 1920, als die Tonne Kohlen 3380 Franken (250 Fr., 1920) kostete. 1 2 6 c H r I S T I A N P f I S T e r 1999. 77 Bielersee, Murtensee und der untere Teil des Bodensees froren von Anfang Februar bis in die zweite Märzhälfte 1917 ebenso zu wie im Januar 1918. 78 Die potenziellen Heizkosten dürften in den Jahren 1917 und 1918 deshalb ausserordentlich hoch gewesen sein. Die Nachfrage nach Beheizung ist vor allem von der Differenz zwischen der Aussentemperatur und der Heizgrenze abhängig, die in der Schweiz heute 12°C beträgt. Anhand der Beziehung zwischen diesen beiden Grössen ist errechnet worden, dass in der Kälteperiode von Dezember 1916 bis April 1917 die doppelte Kohlemenge aufgewendet werden musste, um die gewohnten Raumtemperaturen zu erreichen. 79 In Anbetracht der guten Versorgungslage im Herbst 1916 konnte Kohle noch zu verhältnismässig günstigen Preisen eingekauft werden. Kritisch wurde die Situation erst, als der Winter im März 1917 nach zwei sehr kalten Monaten fortdauerte. In der Stadt Bern stiegen die Preise für (Gas-)Koks, das heisst entgaste Kohle, ab Gaswerk zwischen dem 1. November 1916 und dem 31. März 1917 um 5 Prozent, im April um 8 Prozent und im Mai um 15 Prozent. 80 In dieser Entwicklung manifestiert sich der stark steigende Bedarf nach Heizmaterial angesichts leerer Kohlekeller bei rückläufigen Lieferungen aus Deutschland. Da der «vorhandene Verdienst eines großen Teils der Bevölkerung hauptsächlich für die Beschaffung der im Preise immer noch 77 Begert/ Schlegel/ Kirchhofer 2005: Messdaten von GCOS Schweiz. http: / / www. meteoschweiz.admin.ch/ web/ de/ meteoschweiz/ internationales/ gcos/ swiss_gcos_ office.html. 78 Daten übermittelt von Hendricks Franssen 2008. 79 Als Heiztage werden die Tage bezeichnet, an denen die mittlere Aussentemperatur unter einer festgelegten Heizgrenze (in der Schweiz 12°C) liegt. Von der Differenz zwischen Aussentemperatur und Heizgrenze hängt es ab, wie stark geheizt werden muss, um die gewünschte Raumtemperatur zu erreichen. Die monatliche Summe dieser täglichen Differenzen ergibt die Anzahl der Heizgradtage (in Kelvin oder Celsius). Je grösser diese ist, desto stärker muss geheizt werden (http: / / www.hev-schweiz.ch/ vermieten-verwalten/ heizgradtage/ ). Berechnungen anhand der im oben genannten Datenportal gelieferten Werte für Zürich in der Periode 1982-2000 und den dortigen Monatsmitteln der Temperatur haben ergeben, dass im Winter naturgemäss eine nahezu perfekte Beziehung (Bestimmtheitsmass r2=0.98) besteht, die in den Übergangsjahreszeiten leicht geringer ist. In der Periode von Dezember 1916 bis April 1917 lag die anhand dieser Beziehungen geschätzte Zahl der Heizgradtage 35% über dem langjährigen Durchschnitt 1901-1930. 80 Anzeiger für die Stadt Bern, 01.11.1916 und 02.04.1917 (darin die Preise, gültig ab Sonntag 1.April 1917) sowie 15.05.1917 (jeweils Blatt 1). Diese Angaben verdanke ich Daniel Burkhard. f r I e r e N , K A L T e S S e N u N D Z u f u S S g e H e N 1 2 7 steigenden Lebensmittel reserviert werden» müsse, forderten die Behörden der Städte Bern und Biel vom Regierungsrat die Freigabe des Holzschlags in den Staats- und Gemeindewaldungen und die Förderung des Torfabbaus, um «anarchistische Zustände» (sic! ) zu vermeiden. 81 Am 7. März 1917 setzte der Bundesrat Höchstpreise für Kohle fest. 82 Kritisch wurde die Versorgungslage wiederum im Herbst 1918. Die von der städtischen Brennstoffzentrale Zürich am 9. September 1918 durchgeführte Bestandsaufnahme wies nur 36 Prozent des normalen Winterbedarfs nach. 83 Der Bundesrat beschloss am 29. Oktober 1918, Bundesbeiträge zur Verbilligung von Brennmaterialien zu leisten. Am 21. Dezember 1918 verfügte er, dass Personen, die zum Bezug von Notstandsmilch und -brot berechtigt waren, auch verbilligte Hausbrandkohlen und Kochgas beziehen durften, wobei die Verbilligung nach Einkommen und der Zahl der Familienmitglieder abgestuft war. Der Solothurner Regierungsrat gab am 2. November 1918 das Sammeln von Leseholz in Staats-, Gemeinde- und Privatwäldern frei. 84 Zum Glück wies der Winter 1919 durchschnittliche Temperaturen auf, jener von 1920 war sogar warm. 85 In der Schweiz schlug sich die Kohleteuerung auch bei den Bundesbahnen nieder, indem diese ihre Fahrleistungen bei der Personenbeförderung ausdünnten (vgl. Abbildung 1 und die folgenden Abschnitte). Auf dem Höhepunkt der Krise 1918 und 1919 verkehrten zweieinhalbmal weniger Personenzüge als vor dem Krieg. Namentlich fielen die Schnellzüge weg. An Sonntagen wurde der Personenverkehr auf sämtlichen mit Dampf betriebenen Strecken eingestellt. Nicht eingeschränkt wurde die Frequenz der für die Landesversorgung unentbehrlichen Güterzüge. 86 Ferner wurden die Tarife für die Personenbeförderung nicht in vollem Umfange der Energieverteuerung angepasst, weil damit die überregionale 81 Stadtarchiv Biel, Registratur 1900-1925, # 970 (Kriegswirtschaft 1917), zitiert nach Mügeli 1994: 162. 82 Robert Schätti, zitiert nach Baumgartner 2008: 49. 83 Sieveking 1922: 58. 84 Solothurner Regierungsrat 1918: 97-98; Bundesratsbeschluss vom 29. Oktober und 21. Dezember 1918 betr. die Leistung von Bundesbeiträgen an die Kosten der Abgabe von Brennmaterialien zu ermässigten Preisen resp. betr. die Leistung von Bundesbeiträgen zur Verbilligung von Hausbrandkohlen und Kochgas an Notstandsberechtigte, 21. 85 Begert/ Schlegel/ Kirchhofer 2005. 86 Steinmann 2003: 56. 1 2 8 c H r I S T I A N P f I S T e r Mobilität von Privatpersonen faktisch zum Stillstand gekommen wäre. 87 Auf Einschränkungen verzichten konnte die elektrisch betriebene Bern- Lötschberg-Simplon-Bahn (BLS). Selbst im kohleärmsten Winter 1918/ 19 führte die BLS einen Schnellzug von Thun nach Brig. 88 4.4 Die Energiekrise als Innovationsbeschleuniger Die Elektrizität war bis zum Ausbruch des Krieges ein technisch ausgereiftes, konkurrenzf ähiges Produkt geworden, das sich wahrscheinlich auch ohne die Energiekrise während des Krieges längerfristig durchgesetzt hätte. Doch erst als die meisten Menschen die Verletzlichkeit des bestehenden fossilen Energieversorgungssystems, namentlich beim Gas und bei den dampf betriebenen Eisenbahnen, am eigenen Leib zu spüren bekamen, waren sie zu einer radikalen Umstellung bereit. 89 Die Gasindustrie wies bis ins Jahr 1916 eine «glänzende Entwicklung» aus, hatte sich doch die jährliche Gaserzeugung seit 1900 fast verdreifacht. 90 Ein bedeutender Teil floss in die Beleuchtung, die noch in vielen Teilen der Schweiz auf Gas basierte. Unter dem Einfluss der Kohlekrise ging die Produktion bis 1919 fast um einen Drittel zurück, ausserdem sank die Wärmeleistung der Gasherde als Folge der verminderten Kohlequalität. Die Gasbezüge wurden rationiert. In Zürich war bei einer Überschreitung des Kontingents beim ersten Mal das Dreifache zu zahlen, beim zweiten Mal wurden die Lieferungen eingestellt. 91 Im Kanton Solothurn wurde die Gasversorgung je nach Versorgungsunternehmung bis zu 75 Prozent eingeschränkt. 92 Dies bedeutete, dass des Öfteren kalt gegessen werden musste. Die Landbevölkerung musste weitgehend auf Petroleumbeleuchtung verzichten: Der Import von Petroleum ging schon im ersten Kriegsjahr auf zwei Drittel, in den Jahren 1915 und 1916 auf die Hälfte, später auf ein Viertel zurück. Der Preis stieg im Grosshandel gleichzeitig um das Fünffache von 5.90 Franken in der Vorkriegs- 87 Steinmann 2003: 65. 88 Ruchti 1930/ 2: 248. 89 Mügeli 1994: 183. 90 Mügeli 1994: 184. 91 Sieveking 1922: 58. 92 Solothurn Regierungsrat 1918: 96-97. f r I e r e N , K A L T e S S e N u N D Z u f u S S g e H e N 1 2 9 periode bis auf 16.40 Franken 93 pro Liter Ende 1918. 94 Vielerorts war es nicht mehr möglich, die nötigen Mengen zu Beleuchtungszwecken aufzutreiben. Wer auf Leuchtpetroleum angewiesen war, sah sich genötigt, mit den Hühnern zu Bette zu gehen. 95 Thomas Mügeli hat die Kosten der Energieversorgung während des Ersten Weltkrieges am Beispiel der Stadt Biel untersucht. Er weist nach, dass sich der Preis des Gaslichts als Folge der Kohleknappheit verzweieinhalbfachte, während sich die elektrische Beleuchtung nur unwesentlich verteuerte. Dadurch verschwand die Gasbeleuchtung aus dem Strassenbild. 96 Die Petrollampe konnte schon vor dem Krieg nicht mehr mit der Glühbirne konkurrieren. 97 Auch in der Wärmeerzeugung verschoben sich die relativen Preise zugunsten der Elektrizität, was in Verbindung mit der Rationierung von Holz, Kohle, Koch- und Leuchtgas einen massiven Nachfrageschub auslöste. 98 So wurden Gasherde nach Möglichkeit durch Elektroherde ersetzt. Ihre Zahl stieg im Verlaufe des Krieges von 1000 auf 24- 000. 99 Gedrosselte Einfuhr und unerschwingliche Preise für Kohle zwangen auch Betriebe zum Umstieg auf Strom, die ihre Antriebsenergie thermisch und in eigener Regie erzeugten. 100 Da die meisten Kraftwerke überschüssige Kapazitäten aufwiesen, konnte die Elektrizitätswirtschaft die stürmische Nachfrage nach Strom eine Zeitlang decken und ihre Auslastung verbessern. 101 Doch dann liessen sich die Kapazitäten nicht erweitern, weil die vor dem Krieg in Angriff genommenen Kraftwerke wegen des Mangels an Bestandteilen und Kupfer nicht fertiggestellt werden konnten. 102 Zwischen 1918 und 1920, zur Zeit der höchsten Kohlepreise, wurde auf der Grundlage dieses Preisniveaus und der Zuwachsraten während des Krieges eine Vielzahl neuer Lauf kraftwerke projektiert und gebaut. 103 In dieser Wachstumsphase 93 Von 18 Rappen (1914) auf 90 Rappen (1918). 94 Mügeli 1994: 132. 95 Ruchti 1930/ 2: 254. 96 F. Ringwald, zitiert nach Mügeli 1994: 142. 97 Mügeli 1994: 177. 98 Mügeli 1994: 178. 99 F. Ringwald, zitiert nach Mügeli 1994: 142. 100 Bänninger 1945: 549. 101 Mügeli 1994: 136. 102 Mügeli 1994: 141. 103 Geering 1928: 131. 1 3 0 c H r I S T I A N P f I S T e r konnte die Elektrizitätswirtschaft die sinkenden Selbstkosten durch die steigende Produktion im Konkurrenzkampf mit den Gaswerken in der Wärmgewinnung voll ausspielen. 104 Die Elektrifizierung der Bahnen war am Vorabend des Ersten Weltkrieges technisch gelöst und betrieblich erprobt, die SBB hielten sich in Anbetracht der hohen Kosten allerdings lange zurück. Der massive Druck der Energiekrise beschleunigte die Umstellung entscheidend. Den Willen, das ganze Netz einer radikalen Modernisierung zu unterziehen (und zu bezahlen), brachte die Bahnverwaltung aufgrund der Misere der unter dem Kohlemangel leidenden Bevölkerung schon 1918 auf. 105 In der Zwischenkriegszeit diente die Elektrifizierung zudem der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und der Auftragssicherung der schweizerischen Maschinenindustrie. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges waren knapp vier Fünftel des Schweizer Schienennetzes elektrifiziert (vgl. den Beitrag von Amacher Hoppler). «Aus betriebswirtschaftlicher Sicht», so Jonas Steinmann, «war die Radikalmodernisierung der SBB in der Zwischenkriegszeit unvernünftig. Zur Zeit des Zweiten Weltkrieges hingegen, als die Versorgung mit fossilen Energieträgern erneut zusammenbrach, erntete die Schweiz die Früchte ihrer Anstrengungen. […] Die These, dass die Krise einen kollektiven Lernprozess auslöste, der ein neues, für das Denken der Menschen verbindliches Regelwerk schuf, scheint in der Rückschau plausibel zu sein.» 106 4.5 Synthese Bei der Versorgung mit dem Schlüsselenergieträger Kohle hing die Schweiz am Tropf der deutschen Bergwerke. Nach Kriegsausbruch war der Kohleimport zunächst ohne Mengen- und Verwendungsbeschränkung möglich, wobei in Reichsmark bezahlt wurde. Einschränkungen ergaben sich 1915 durch die Einsetzung der Schweizerischen Treuhandstelle (S.T.S.), die durch das Instrument einer genossenschaftlichen Zentralstelle für die Kohlenversorgung der Schweiz dafür sorgte, dass mit deutscher Kohle hergestellte Güter nicht dem Feind zugutekamen. Ab 104 Mügeli 1994: 182. 105 Steinmann 2003: 126. 106 Steinmann 2003: 151. f r I e r e N , K A L T e S S e N u N D Z u f u S S g e H e N 1 3 1 1916 wurden die Modalitäten in Handelsverträgen festgelegt. Dabei drängten die schweizerischen Abnehmer, die Unternehmer, die Eisenbahnen und die Gasindustrie stets auf eine berechenbare, möglichst umfangreiche Versorgung. Der deutschen Seite war neben guten Preisen an Krediten in Schweizer Franken gelegen, um den Kurs der Reichsmark zu stützen. Im Handelsvertrag vom Herbst 1916 gewährte der Bund einen Kredit von rund 1.6 Milliarden Franken. 107 Die Deutschen konnten ihre Lieferverpflichtungen allerdings immer weniger einhalten. Im zweiten Handelsvertrag vom August 1917 verlangte Berlin wesentlich höhere Preise in Schweizer Franken und eine weitere Kreditzusage, die der Bund aus finanz- und neutralitätspolitischen Gründen jedoch nicht mehr bewilligen konnte. Ein Ausweg wurde in der Gründung einer privatrechtliche Aktiengesellschaft mit Bundesbeteiligung, der Kohlenzentrale A.G., gefunden, an der sich alle grösseren Abnehmer zu beteiligen hatten. Trotzdem ging der Umfang der Lieferungen bei sinkenden Brennwerten der Energieträger weiter zurück. Insgesamt halbierte sich die verfügbare fossile Energie zwischen 1916 und 1917 im Vergleich zur Vorkriegsperiode. Im dritten Handelsvertrag vom 22. Mai 1918 musste die schweizerische Diplomatie einen horrenden Preis von 3280 Franken 108 pro Tonne Kohle hinnehmen. Immerhin verzichtete das Reich im Gegenzug auf weitere Kredite und die Schmälerungen der zugesicherten Lieferungen. Trotz massiven Versorgungslücken im eigenen Herrschaftsbereich versorgte es die Schweiz bis zum Oktober 1918, also fast bis zum bitteren Ende, mit Kohle. 109 Beide Seiten waren letztlich aufeinander angewiesen: Deutschland lieferte unverzichtbare Energierohstoffe, die Schweiz exportierte Maschinen, stellte Stickstoff zur Verfügung (vgl. den Beitrag von Fehr) und stützte die Reichsmark mit Krediten und Devisen. Die für die Ernährungswirtschaft charakteristische Zweiteilung in eine anf ängliche Periode der relativen Versorgungssicherheit und eine Periode zunehmenden Mangels (vgl. den klimageschichtlichen Beitrag von Pfister) lässt sich auch in der Energieversorgung feststellen, nur dass dort die Mangelerscheinungen leicht verzögert, ungef ähr von der Jahreswende 1917 an, in Erscheinung traten. Ein Zusammenhang zwischen den beiden Tendenzen ergibt sich aus der Mangelernährung der Belegschaften 107 Rund 50 Millionen Franken (1916). 108 180 Franken (1918). 109 Baumgartner 2008: 69-72. 1 3 2 c H r I S T I A N P f I S T e r in den Kohlegruben, wobei diese im Verbund mit der mangelnden Erfahrung, Überforderung und Renitenz der zahlreichen «Ersatzleute» sowie mangelnder Ausrüstung zu beurteilen ist. Verschärft wurde die Energiekrise durch die lange Kälteperiode von Januar bis April 1917, die in weiten Teilen Kontinentaleuropas spürbar war. Die Unterschichten und die verarmten Mittelschichten konnten sich den Mehrbedarf an teurer Kohle - deren Brennwert im Verlauf des Krieges zudem noch stark gesunken war - schlicht nicht leisten, um ihre Wohnungen einigermassen warm zu bekommen. Daher war es ein glücklicher Umstand, dass die Winter auf dem Höhepunkt der Energiekrise durchschnittlich (1919) oder gar sehr warm (1920) waren. Ein sibirischer Winter wie 1895, 1929 oder 1963 hätte in dieser Situation höchster Verletzlichkeit wohl zu einer Katastrophe geführt. Wie bei der Nahrungsmittelversorgung schritten die Behörden zunächst nur ein, wenn eine unmittelbare Notsituation bestand. Im Verlaufe der Jahre 1917-1919 gingen sie zu längerfristigen Massnahmen wie der dauerhaften Verbilligung von Kohle und Gas für Notleidende oder der Rationierung aller fossiler Energieträger (Kohle, Brennholz, Kochgas und Torf ) über. Für die Menschen in den Städten bedeutete dies frieren und kalt essen. Die Bevölkerung in ländlichen Gebieten kehrte aus Mangel an Leuchtpetroleum zu Kerzenlicht zurück. Die Mobilität war eingeschränkt, weil die dampf betriebenen Bahnen die Fahrpläne ausdünnten. Die Rationierung und die Verteuerung der fossilen Brennstoffe begünstigte die Elektrizitätsproduktion aus Wasserkraft, die sich nur unwesentlich verteuerte und die im Umfang der vorhandenen Kapazitätsreserven gesteigert werden konnte. Die künftige Forschung wird anhand von Berichten von Betroffenen sowie kantonalen und kommunalen Behörden zu prüfen haben, in welchem Ausmass die Kohleknappheit den Alltag der verarmten Mittelschichten und der Unterschichten erschwerte. 5. DIE SCHWEIZ UND DIE INTERNATIONALE STICKSTOFFPROBLEMATIK Sandro Fehr Die Schweiz war am Vorabend des Ersten Weltkrieges Teil eines dichten internationalen Handelssystems. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und der internationale Warenverkehr galten als wichtige Grundlagen der Prosperität der damaligen europäischen Staaten. Als der Krieg 1914 ausbrach, zerstörte er das bisherige Handelssystem weitgehend. An dessen Stelle trat nicht nur ein industriell geführter Produktionskrieg, sondern auch ein Wirtschaftskrieg, in dessen Rahmen die Entente eine Handelsblockade über die Mittelmächte verhängte. 1 Der Wirtschaftskrieg führte in diversen industrialisierten Staaten zu einem markanten Rückgang der Exporte sowie einem Einbruch von Importen unverzichtbarer und damit kriegswichtiger Produkte, Rohstoffe und Energieträger (Ressourcen). Darunter befand sich auch die - für die Landwirtschaft und die Kriegführung gleichermassen unentbehrliche - Schlüsselressource «Stickstoff», deren langfristige Verfügbarkeit bereits vor dem Krieg international als kritisch beurteilt worden war. 2 Im vorliegenden Beitrag wird zunächst die grundsätzliche Bedeutung der Versorgung mit Stickstoffverbindungen und deren Thematisierung in der Vorkriegszeit behandelt. Anschliessend wird gezeigt, wie die Stickstofffrage in Deutschland aufgrund des Krieges akut und schliesslich auch gelöst wurde. Ein weiteres Unterkapitel ist der Versorgungslage in der Schweiz sowie deren Rolle bei der Versorgung Deutschlands und der Lösung der Stickstofffrage gewidmet. 1 Fehr 2013: 31-32; Keegan 2006: 21-26; Berghahn 1997: 112-113; Rossfeld/ Straumann 2008: 13. 2 Fehr 2009: 10, 32-34. 1 3 4 S A N D r O f e H r 5.1 Die Stickstofffrage als globales Problem 5.1.1 Stickstoff und die Ernährung der Menschheit Die beiden Ölpreiskrisen in den 1970er Jahren und die um die Jahrtausendwende aufgekommene Debatte über ein globales Ölfördermaximum (peak oil) führten auch in der breiten Öffentlichkeit zu einer Thematisierung der Abhängigkeit der Weltwirtschaft von der Ressource Erdöl. 3 Das Bewusstsein um die Abhängigkeit von einer gewissen Ressource und die Angst vor den Folgen einer potenziellen zukünftigen Unterversorgung sind aber weder neu noch beschränken sie sich auf die Erdölversorgung. Eine ähnliche, wenn auch weitgehend auf Fachkreise beschränkte Debatte löste 1898 der britische Physiker und Chemiker William Crookes (1832- 1919) mit einem Vortrag über das sogenannte Wheat Problem aus. 4 Der Diskurs drehte sich allerdings nicht um fossile Energieträger, sondern um fossile Salpeterablagerungen - den sogenannten Chilesalpeter. Den Hintergrund der damaligen Debatte bildet die Tatsache, dass Pflanzen für ihr Wachstum neben zahlreichen anderen Nährstoffen auch auf gebundenen Stickstoff angewiesen sind. Während in der Natur der Boden mittels bakterieller Bindung des in der Luft befindlichen Stickstoffs sowie durch die Zersetzung von organischem Material ausreichend mit Stickstoffverbindungen versorgt wird, muss im intensiv betriebenen Ackerbau zusätzlich gebundener Stickstoff als Dünger zugeführt werden. 5 Diese Zufuhr konnte bereits im 19. Jahrhundert in verschiedenen stark bevölkerten und industrialisierten Staaten nur noch unter Zuhilfenahme hoffremder beziehungsweise zugekaufter Handelsdünger sichergestellt werden. 6 Als wichtigster Stickstoffdünger etablierte sich dabei der in Südamerika abgebaute und anschliessend verschiffte Chilesalpeter. Wie bei den fossilen Energieträgern handelte es sich auch bei dieser Substanz um Jahrmillionen alte Ablagerungen, deren Umfang grundsätzlich begrenzt war. 7 Und wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beim Erdöl, 3 Berg/ Jochem/ Ritz 2007: 26, 33. 4 Crookes 1899: v. 5 Smil 2001: 2-20. 6 Huegel 2003: 35. 7 Smil 2001: 43-48. D I e S c H W e I Z u N D D I e I N T e r N A T I O N A L e S T I c K S T O f f P r O B L e M A T I K 1 3 5 überboten sich die Experten um 1900 auch beim Chilesalpeter mit Prognosen über den Zeitpunkt der Erschöpfung der natürlichen Lagerstätten beziehungsweise einer signifikanten Abnahme der Fördermengen. 8 Crookes wies darauf hin, dass die Weltbevölkerung aufgrund ihres starken Wachstums und der insgesamt begrenzten landwirtschaftlichen Nutzungsfläche in Zukunft lediglich bei einer entsprechenden Verfügbarkeit von Stickstoffdünger ernährt werden könne. Da die Lagerstätten für Chilesalpeter seiner Meinung nach allerdings bereits in zwanzig bis dreissig Jahren aufgebraucht sein würden, müsse dringend eine alternative Stickstoffquelle erschlossen werden. Andernfalls drohe eine Hungersnot. Über den grundsätzlichen Weg zur Lösung der Stickstofffrage war sich die Fachwelt bereits damals einig: Es musste gelingen, den in der Luft praktisch unbegrenzt verfügbaren elementaren Stickstoff in industriellem Massstab chemisch zu binden. 9 5.1.2 Stickstoff als Dual-Use-Ressource Als Düngemittel dienten Stickstoffverbindungen, wie beispielsweise Chilesalpeter, der Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge - und damit auch der Ernährung der Menschheit. Gleichzeitig war dieselbe Ressource auch eine unverzichtbare Grundlage zur Herstellung von Munition - und somit der Zerstörung von Menschenleben. Ob Schiesspulver, Sprengstoff oder Zündmittel, praktisch alle militärisch verwendbaren Explosivstoffe wurden damals wie heute aus Stickstoffverbindungen erzeugt. Und wie der Landwirtschaft diente noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch der Explosivstoffindustrie in erster Linie der Chilesalpeter als Quelle gebundenen Stickstoffs. 10 Somit handelte es sich um eine Dual-Use-Ressource, die sowohl für die Ernährung der Bevölkerung als auch für die Kriegführung von strategischer Bedeutung war. 8 Siehe auch Huber 1908: 35; Grossmann 1911: 7. 9 Crookes 1899: 33-42. 10 Caro 1920: 537-539. 1 3 6 S A N D r O f e H r 5.2 Die Lösung der Stickstofffrage im Ersten Weltkrieg 5.2.1 Technische Voraussetzungen Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges konnten insgesamt vier Techniken industriell umgesetzt werden, mit denen sich Stickstoffverbindungen unabhängig von Chilesalpeter herstellen liessen. Die älteste war die Trockendestillation von Kohle in Gaswerken und Kokereien, bei der als Nebenprodukt auch die Stickstoffverbindung Ammoniak anfiel. 11 Da das Verfahren mit der Stahl- und Gasherstellung gekoppelt war, konnte der Ammoniakausstoss allerdings nur begrenzt gesteigert werden. 12 Die bereits im 19. Jahrhundert als Ideallösung angesehene industrielle Fixierung des Luftstickstoffs erfolgte 1905 erstmals in Italien, wo mit dem Kalkstickstoffverfahren Calciumcarbid zu Calciumcyanamid azotiert wurde. 13 1907 folgte in Norwegen die industrielle Umsetzung des enorm energieintensiven Lichtbogenverfahrens, bei dem der Stickstoff und der Sauerstoff der Luft mittels eines elektrischen Lichtbogens zu Stickoxiden beziehungsweise Salpetersäure verbunden wurden. 14 Rund zehn Monate vor Kriegsausbruch setzte in Deutschland die Badische Anilin- und Soda- Fabrik (BASF) zudem erstmals die katalytische Synthese von Wasserstoff und Stickstoff zu Ammoniak - im sogenannten Haber-Bosch- oder Hochdruckverfahren - industriell um. 15 Damit konnten zumindest für das technische Problem der industriellen Bindung des Luftstickstoffs noch vor Kriegsausbruch mehrere Lösungen gefunden werden. Die Stickstofffrage als solche war damit aber noch lange nicht gelöst, verwendeten die Landwirtschaft und die Rüstungsindustrie doch nach wie vor hauptsächlich Chilesalpeter. Ausserdem steckte auch die entsprechende Produktionsinfrastruktur noch in den Anf ängen. 16 11 Schmidt 1934: 332-333. 12 Fehr 2009: 76-77. 13 Rabius 1907: 23. Unter Azotieren wird das Einführen von Stickstoff in eine chemische Verbindung verstanden. 14 Ost 1919: 167-168. 15 Holdermann 1953: 122. 16 Fehr 2009: 41-42, 147-148. D I e S c H W e I Z u N D D I e I N T e r N A T I O N A L e S T I c K S T O f f P r O B L e M A T I K 1 3 7 5.2.2 Alliierte Blockade und deutsche Versorgungskrise Der Zeitpunkt der Erschöpfung der natürlichen Lagerstätten von Chilesalpeter war zu Beginn des Ersten Weltkrieges nach wie vor Gegenstand von Spekulationen. Für Deutschland wandelte sich die Stickstofffrage im Krieg dennoch dramatisch: Aus einer ursprünglich theoretischen Expertendebatte wurde ein akutes und existenzielles Problem. Denn wie sich zeigte, verhängte die Entente bereits kurz nach Kriegsbeginn eine Wirtschaftsblockade über die Mittelmächte, die diese unter anderem auch von der Zufuhr des Chilesalpeters abschnitt. 17 Die deutsche Kriegswirtschaft wurde dadurch vor eine gewaltige Herausforderung gestellt, die sich insbesondere aus drei in ihrer Wirkung gegenseitig verstärkenden Faktoren zusammensetzte: 1. Der kriegsbedingt exponentiell steigende Munitionsbedarf zog auch eine Vervielfachung des Stickstoff bedarfs der Rüstungsindustrie nach sich. 2. Es erhöhte sich aufgrund der durch die Blockade bedingten Einstellung der bis dahin äusserst umfangreichen Lebensmittel- und Futtermittelimporte auch der Stickstoff bedarf in der Landwirtschaft. 3. Mit dem Versiegen der Salpeterimporte fiel gleichzeitig eine der wichtigsten Quellen gebundenen Stickstoffs weg. 18 Die erste Behörde, die die existentielle Bedeutung der Stickstofffrage erkannte und Massnahmen ergriff, war die im August 1914 gegründete Kriegsrohstoffabteilung im Preussischen Kriegsministerium. Diese leitete aber zunächst nur kurzfristig wirksame Massnahmen, wie die Beschlagnahmung und Verteilung von kriegswichtigen Rohstoffen, ein. 19 Ein Ausbau der Produktionsinfrastruktur erfolgte erst, nachdem der Heeresführung klar geworden war, dass der Munitionsverbrauch in den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges bisher ungeahnte Höhen annahm und auch an ein schnelles Kriegsende nicht mehr zu denken war. 20 17 Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten: Schreiben an den Reichskanzler (Grosses Hauptquartier) vom 3. November 1914. Deutsches Bundesarchiv Berlin, R 43 2466 a. Siehe auch Hardach 1973: 19-43; Offer 1989: 61-63. 18 Fehr 2009: 73-74. Zur deutschen Stickstofffrage siehe auch Fehr, Stickstoff, 2015; Johnson 2003; Szöllösi-Janze 1996; Szöllösi-Janze 1998; Szöllösi-Janze 2000. 19 Rathenau 1916: 35. 20 Moellendorff 1914: 87-88. 1 3 8 S A N D r O f e H r Zunächst allerdings vermochten diese neuen Produktionsinfrastrukturen die Stickstofffrage weder zu lösen noch zu entschärfen. Es handelte sich dabei nämlich primär um Anlagen, welche die Stickstoffverbindung Ammoniak in die von der Rüstungsindustrie in erster Linie benötigte Salpetersäure umwandelten. Dadurch wurde die Versorgungslage des Heeres zwar verbessert, die Gesamtmenge an gebundenem Stickstoff nahm dadurch aber nicht zu. 21 Stattdessen handelte es sich faktisch um eine Umverteilung von Stickstoff zu Lasten der Landwirtschaft und zu Gunsten der Explosivstoffproduktion. 22 Der Entzug von Stickstoffdünger bei gleichzeitiger Steigerung des Düngerbedarfs und einem Einbruch der Importe von Lebens- und Futtermitteln drohte zu schweren Ertragseinbussen und damit auch einer Hungerkrise zu führen. Da auch die Ammoniakproduktion der Kokereien und Gaswerke nicht gesteigert werden konnte, sondern im Verlauf des Krieges sogar um rund die Hälfte einbrach, bestand der einzig praktikable Ausweg im Ausbau der Produktionsinfrastruktur für die Bindung des Stickstoffs aus der Luft. 23 Dazu schloss das Preussische Landwirtschaftsministerium im Dezember 1914 sowohl mit dem Kalkstickstoffproduzenten AG für Stickstoffdünger als auch mit der nach dem Hochdruckverfahren produzierenden BASF Verträge über weitgehende Produktionssteigerungen. 24 Im März 1915 unterzeichneten das Reichsschatzamt und die Bayerischen Stickstoffwerke sogar einen Vertrag über die Errichtung und den Betrieb von Staatsunternehmen zur Kalkstickstofferzeugung in Piesteritz und Chorzow sowie Produktionssteigerungen an den bereits bestehenden Standorten. 25 Im selben Jahr folgte zudem ein Vertrag über die Errichtung einer Kalkstickstoffanlage für die Lonza- Werke Elektrochemische Fabriken GmbH in Waldshut. 26 21 Fehr 2009: 88. 22 Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten: Denkschrift an den Reichskanzler (Reichsschatzamt) über die Wirkungen des Krieges auf die landwirtschaftliche Produktion Deutschlands und seinerVerbündeten vom März 1916. Deutsches Bundesarchiv Berlin, R 2 43041: 5. 23 Für die Produktionszahlen der Kokereien und Gaswerke siehe Bueb/ Warmbold 1930: 154. 24 Protokoll der Sitzung des Königlichen Staatsministeriums vom 31. Dezember 1914. Deutsches Bundesarchiv Berlin, R 2 43039: 2. 25 Roth 1997: 212. 26 Eucken 1921: 103. D I e S c H W e I Z u N D D I e I N T e r N A T I O N A L e S T I c K S T O f f P r O B L e M A T I K 1 3 9 5.2.3 Die Stickstofffrage wird zur Energiefrage Mit der zunehmenden Mobilisierung der Ressourcen erwies sich der Erste Weltkrieg immer deutlicher als industrieller Produktionskrieg beziehungsweise Ermattungskrieg, in dem «das wirtschaftliche Potential» der Krieg führenden Mächte «neben anderen Faktoren mitentscheidend für den Ausgang» werden sollte. 27 Dessen war sich 1916 auch die neue deutsche Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff bewusst, weshalb sie ein unter dem Begriff «Hindenburg-Programm» bekannt gewordenes Rüstungsprogramm beschloss, in dem sie unter Heranziehung aller verfügbaren Ressourcen eine starke Erhöhung der Rüstungsproduktion vorsahen. Eines der Ziele Hindenburgs war die Verdoppelung der Pulverproduktion, die auch eine Verdoppelung des Bedarfs nach Stickstoffverbindungen nach sich gezogen hätte. 28 Zusätzlich zum exponentiell wachsenden Bedarf in den deutschen Streitkräften galt es auch, die starke Unterversorgung der Landwirtschaft schnellstmöglich zu beheben. Diese konnte nämlich bereits im Düngejahr 1915/ 16 nur noch rund 35 Prozent der 1913/ 14 verwendeten Menge Stickstoffdünger beziehen. 29 Zur Minderung der anhaltenden Versorgungskrise und zur Bewältigung des unter anderem auch mit dem Hindenburg-Programm angekündigten Mehrbedarfs an Stickstoffverbindungen leitete das Reich eine bisher beispiellose Ausdehnung der Stickstoffindustrie in die Wege. Dabei setzte es aber nicht mehr auf das Kalkstickstoffverfahren, sondern auf das Hochdruckverfahren und die BASF. Diese begann im Mai 1916 - mit umfangreicher finanzieller Unterstützung des Reiches - mit den Bauarbeiten für ein neues, bei Leuna, südlich von Merseburg gelegenes Ammoniakwerk, das bereits im April 1917 in Betrieb genommen werden konnte. 30 Die Bevorzugung des Hochdruckverfahrens gegenüber dem Kalkstickstoffverfahren lässt sich teilweise damit erklären, dass sich Ammoniak leichter als Kalkstickstoff zu der für militärische Zwecke benötigten Salpetersäure umwandeln lässt und der militärische Bedarf Priorität genoss. Entscheidend dürfte letztlich aber die Erkenntnis gewesen sein, dass 27 Henning 1974: 32; Tanner/ Groebner/ Guex 2008: 14; Fehr 2013: 32. 28 Fehr 2009: 106-107. 29 Aereboe 1927: 43. 30 Fehr 2009: 109. 1 4 0 S A N D r O f e H r die grossindustrielle Umsetzung der Fixierung des Stickstoffs aus der Luft zwar die Abhängigkeit von Chilesalpeter verminderte, dafür aber eine Abhängigkeit von einer neuen Ressource erhöhte: nämlich von Energie. Waren die erforderlichen Techniken einmal im grossen Massstab vorhanden, wurde die Stickstofffrage zu einer Energiefrage. Da sich die Kohle-, Transport- und Arbeitskräftekrise in der deutschen Kriegswirtschaft laufend verschärfte und das Kalkstickstoffverfahren im Vergleich zum Hochdruckverfahren wesentlich energie- und arbeitsintensiver war, setzte sich letzteres in der zweiten Hälfte des Krieges deutlich gegen alle anderen Verfahren durch. 31 Die Produktion der einzelnen Verfahren entwickelte sich in Deutschland während des Krieges so, dass der Ausstoss der Kalkstickstofffabriken von 13-200 Tonnen Stickstoff im Jahr 1914 auf 36-600 Tonnen im Jahr 1917 beziehungsweise um den Faktor 2.8 zunahm. Diese Produktionssteigerung reichte in den meisten Jahren allerdings nicht einmal aus, um damit den Rückgang der Ammoniakerzeugung der Gaswerke und Kokereien auszugleichen. Ganz anders verhielt es sich mit der Produktion der BASF nach dem Hochdruckverfahren. Diese war 1914 mit 7000 Tonnen Stickstoff noch sehr niedrig, übertraf die Kalkstickstofferzeugung 1916 mit einem Ausstoss von 51-000 Tonnen erstmals und erreichte bis 1917 einen Wert von 75-000 Tonnen. Das entspricht einer Zunahme um den Faktor 10.7. Während die Kalkstickstoffproduktion 1918 wieder leicht abnahm, stieg die Erzeugung durch die BASF im selben Jahr sogar auf 94-000 Tonnen Stickstoff weiter an. 32 Insgesamt sank die Stickstofferzeugung in Deutschland von 118-900 Tonnen Stickstoff im Jahr 1913 zunächst auf 96-180 Tonnen im Jahr 1915. Dank des staatlich forcierten Ausbaus übertraf die Stickstoffwirtschaft die Vorkriegswerte mit 153-220 Tonnen aber bereits 1916 deutlich, um 1918 sogar einen Ausstoss von 183-560 Tonnen Stickstoff beziehungsweise über 150 Prozent der Vorkriegsproduktion zu erreichen. Diese beträchtliche Mehrproduktion konnte den tatsächlichen Bedarf trotzdem nicht an- 31 Fehr 2009: 113-116. 32 Fehr 2009: 116, 180. D I e S c H W e I Z u N D D I e I N T e r N A T I O N A L e S T I c K S T O f f P r O B L e M A T I K 1 4 1 nähernd befriedigen. 33 So erhielt die Landwirtschaft im Jahr 1918 beispielsweise nach wie vor weit weniger als die Hälfte ihres Stickstoffdüngerverbrauchs von 1913 zugeteilt. 34 Mit Blick auf die Stickstofffrage kann dennoch festgestellt werden, dass die deutsche Stickstoffwirtschaft 1918 einen Ausstoss aufwies, der mit 183-560 Tonnen Stickstoff nur geringfügig kleiner war als die im letzten Düngejahr der Vorkriegszeit eingesetzte Menge Stickstoff von 210- 000 Tonnen. 35 Damit war bewiesen, dass ein grosser, dicht besiedelter, industrialisierter Staat wie Deutschland sich grundsätzlich auch unabhängig von der Einfuhr südamerikanischen Chilesalpeters versorgen konnte. Die im 19. Jahrhundert aufgeworfene Stickstofffrage konnte damit als gelöst betrachtet werden, beziehungsweise hatte sich vorrangig zu einer Energiefrage gewandelt. 36 5.3 Dünger und Munition aus Schweizer Wasserkraft 5.3.1 Die Versorgung der Schweiz Der Erste Weltkrieg war nicht nur eine mit Waffen geführte, militärische Auseinandersetzung, sondern auch ein Wirtschaftskrieg. Die Verschonung der Schweiz von direkten militärischen Konfrontationen bedeutet daher nicht, dass sie vom Krieg nicht betroffen oder nicht involviert gewesen wäre. Tatsächlich gestalteten sich die Verhältnisse so, dass die Schweiz aufgrund ihrer starken internationalen wirtschaftlichen Vernetzung von einer schweren Absatz- und Versorgungskrise getroffen wurde. 37 So brachen die Importe von Rohstoffen beispielsweise um rund die Hälfte und die Einfuhren von Lebensmitteln sogar um zwei Drittel ein (vgl. dazu auch die beiden Artikel von Pfister in diesem Band). 38 Die Schweiz war vom Wirtschaftskrieg aber nicht nur passiv betroffen, sondern spielte darin auch als Akteurin eine Rolle. So betrieb sie mit den Krieg führenden Mächten einen regen Kompensationshandel, in dessen Rahmen sie 33 Fehr 2009: 116, 180. 34 Aereboe 1927: 43. 35 Aereboe 1927: 43; Fehr 2009: 180. 36 Fehr 2009: 158-159. 37 Tanner/ Groebner/ Guex 2008: 16. 38 Geering 1928: 22-23. 1 4 2 S A N D r O f e H r nicht nur im grossen Stil Kriegsmaterial und kriegswirtschaftliche Schlüsselressourcen lieferte, sondern den Mittelmächten teilweise auch die Umgehung der alliierten Wirtschaftsblockade ermöglichte. 39 Im Zusammenhang mit der Versorgung von Stickstoffverbindungen sah sich die Schweiz zunächst mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie das benachbarte Deutschland. Auch die schweizerische Landwirtschaft bediente sich für die hoffremde Stickstoffdüngung in erster Linie des Chilesalpeters. Zudem basierte auch im neutralen Kleinstaat ein beträchtlicher Teil der für die Rüstungsindustrie erforderlichen Salpetersäureproduktion auf der aus Südamerika importierten Stickstoffverbindung. Insgesamt wies die Schweiz im Jahr 1913 einen Nettoimport von rund 2700 Tonnen Chilesalpeter auf, wovon rund 60 Prozent der Landwirtschaft zugeführt wurden. Wie der Begriff schon besagt, stammte der Chilesalpeter hauptsächlich aus Chile. Allerdings erfolgte der Import nicht direkt, sondern mehrheitlich indirekt über Deutschland und zu einem kleinen Anteil auch über Frankreich und Belgien. 40 Diese Lieferkette erwies sich bei Kriegsausbruch als Problem. Obschon die von der Entente verhängte Wirtschaftsblockade eigentlich gegen die Mittelmächte gerichtet war und gemäss völkerrechtlichen Regelungen Neutrale so wenig wie möglich treffen sollte, führte sie durch die damit gleichzeitige Ausschaltung des wichtigsten Zwischenhändlers auch zu einem starken Einbruch der Salpetereinfuhren in die Schweiz. Die Abteilung für industrielle Kriegswirtschaft stellte fest: «Bezüglich der Lieferländer für Nitrat schied mit dem Krieg Deutschland praktisch aus.» Die Nettoeinfuhr sank von 2700 Tonnen im Jahr 1913 auf 140 Tonnen im Jahr 1915 beziehungsweise um rund 95 Prozent. 41 In einem internen Bericht über «die Versorgung des Landes mit Stickstoffprodukten» hielt die Sektion Chemie der Abteilung fest: «Bei Ausbruch des Krieges wurden die Importe an primären Stickstoffverbindungen immer kleiner, um schliesslich beinahe auf Null zu sinken. Die Schweiz musste sich also in ihrem Stickstoff bedarfe selber genügen.» 42 Der Einbruch der Salpetereinfuhren hatte zur Folge, dass «für den landwirtschaftlichen Bedarf an 39 Geering 1928: 166, 574-579, 709; Fehr 2013: 33; Rossfeld/ Straumann 2008: 20-45. 40 Abteilung für industrielle Kriegswirtschaft 1925: 40-42. 41 Abteilung für industrielle Kriegswirtschaft 1925: 51. 42 Sektion Chemie: Die Versorgung des Landes mit Stickstoffprodukten. Bericht vom 7. August 1918. Schweizerisches Bundesarchiv E 7350 1000/ 1104, Bd. 42 (q), 4. D I e S c H W e I Z u N D D I e I N T e r N A T I O N A L e S T I c K S T O f f P r O B L e M A T I K 1 4 3 Chilisalpeter überhaupt gar nichts mehr übrig» blieb. 43 «Die erste Folge des Ausfallens von Importen an Stickstoffverbindungen war [daher] eine unzulängliche künstliche Düngung seitens der Landwirtschaft.» 44 Im Gegensatz zu Deutschland verfügte die Schweiz bereits vor Kriegsbeginn über ein Kalkstickstoffwerk, das die weggefallenen Salpetereinfuhren zumindest quantitativ zu ersetzen im Stande war. Die in Martigny gelegene Fabrik produzierte bereits 1913 8450 Tonnen Kalkstickstoff und wurde während des Krieges durch eine weitere Fabrik in Gampel ergänzt. Aufgrund des Baus dieser zweiten Anlage und der im Wallis reichlich verfügbaren Wasserkraft konnte die Inlandproduktion bis im Jahr 1916 auf 19- 863 Tonnen Kalkstickstoff erhöht werden. Da die Schweizer Bauern dem neuartigen Dünger jedoch misstrauten und lieber Chilesalpeter verwendeten, gingen vor dem Krieg noch rund 88 Prozent der Inlandproduktion in den Export. 45 Die ausbleibenden Salpeterimporte und die fortschreitende Kriegsdauer zwangen die Bauern schliesslich aber, auf den ursprünglich «verschmähten Kalkstickstoff» zurückzugreifen. Insgesamt konnte die Stickstoffversorgung der schweizerischen Landwirtschaft während des Krieges somit weitgehend sichergestellt werden. 46 Die insbesondere aus militärischen Gründen essentielle Versorgung mit Salpetersäure basierte vor dem Krieg ebenfalls noch zu einem beträchtlichen Anteil auf der Umsetzung von Chilesalpeter in der Chemischen Fabrik Uetikon. Diese vermochte den Friedensbedarf der Schweizer Wirtschaft allerdings nicht zu decken, weshalb bis 1912 zusätzlich Säure importiert werden musste. Mit der Inbetriebnahme zweier neuartiger Salpetersäurewerke in Chippis und Bodio, die mit dem äusserst energieintensiven Lichtbogenverfahren produzierten, konnte 1913 allerdings nicht nur der Inlandbedarf erstmals gedeckt, sondern sogar Salpetersäure exportiert werden. Ausserdem verminderten die neuen Verfahren die Abhängigkeit der Rüstungsindustrie von Salpeterimporten beträchtlich. 47 Wie sich nach Ausbruch des Krieges zeigte, vermochten die beiden Werke in Chippis und Bodio den Salpetersäurebedarf der Schweizer 43 Abteilung für industrielle Kriegswirtschaft 1925: 51. 44 Sektion Chemie: Die Versorgung des Landes mit Stickstoffprodukten. Bericht vom 7. August 1918. Schweizerisches Bundesarchiv E 7350 1000/ 1104, Bd. 42 (q), 4. 45 Abteilung für industrielle Kriegswirtschaft 1925: 46, 58-59. 46 Sektion Chemie: Die Versorgung des Landes mit Stickstoffprodukten. Bericht vom 7. August 1918. Schweizerisches Bundesarchiv E 7350 1000/ 1104, Bd. 42 (q), 4. 47 Abteilung für industrielle Kriegswirtschaft 1925: 40, 48-50, 59. 1 4 4 S A N D r O f e H r Armee zu decken. Allerdings führte die Beschlagnahmung der annähernd vollständigen Produktion durch das Eidgenössische Militärdepartement zu einer Unterversorgung der übrigen Industrie. 48 Aufgrund ihrer Verschonung von militärischen Konfrontationen wies die Schweizer Armee allerdings auch einen vergleichsweise geringen Munitionsbedarf auf. Ob ein durch allf ällige militärische Operationen hervorgerufener Mehrbedarf hätte gedeckt werden können, ist zumindest fraglich; dies nicht zuletzt deshalb, weil die chemische Industrie in der Schweiz während des Krieges nicht in der Lage war, Kalkstickstoff in Salpetersäure umzuwandeln. 49 Im Fall einer militärischen Konfrontation wäre zudem auch die bereits bestehende Produktion gef ährdet gewesen. So zeigte sich beispielsweise, dass das ursprünglich von der deutschen Unternehmung Elektrochemische Werke GmbH Bitterfeld errichtete Salpetersäurewerk in Bodio auch nach seiner Überführung in Schweizer Besitz von deutschen Zwischenerzeugnissen und Ersatzteilen abhängig blieb. Das Politische Departement kam zum Schluss: «Ob Bodio läuft oder nicht, ist ganz vom guten Willen der elektrochemischen Werke Bitterfeld und der deutschen Regierung abhängig.» Man könne daher «mit dieser Fabrik für die Landesverteidigung bei der geringsten Complikation mit Deutschland überhaupt nicht rechnen». 50 Das Werk in Chippis konnte im Gegensatz zu Bodio zwar weitgehend autark betrieben werden, wäre im Kriegsfall aber ein leichtes Ziel gewesen. Dies zeigte sich besonders deutlich am 1. Mai 1917, als die Fabrik bei einem Sprengstoffanschlag nur knapp ihrer Zerstörung entging. 51 Mit dem Ausbau der Produktionsinfrastruktur für die Herstellung von Kalkstickstoff und Salpetersäure sowie dem Wechsel der Landwirtschaft von Chilesalpeter auf Kalkstickstoff konnte die Stickstofffrage im Verlauf des Ersten Weltkrieges auch in der Schweiz weitgehend gelöst werden. Anders als in Deutschland kamen dabei aber nicht das Haber- Bosch-, sondern die sehr viel energieintensiveren Kalkstickstoff- und 48 Waeser 1922: 118. 49 Fehr 2013: 38. 50 E.W.: Rapport über die Beschaffung von Salpetersäure für die schweizerische Industrie-im Auftrag des Eidgenössischen Politischen Departements [o. J.]. Schweizerisches Bundesarchiv E 7350 (-) 1000/ 1104, Bd. 42 (q), 3-4. 51 Bericht über das Attentat auf die Druckwasserleitung der Aluminium Industrie A.G. in Chippis bei Siders (Wallis) vom 3. Mai 1917. Schweizerisches Bundesarchiv E 21, 14412. Siehe auch Fehr 2013: 40-42. D I e S c H W e I Z u N D D I e I N T e r N A T I O N A L e S T I c K S T O f f P r O B L e M A T I K 1 4 5 Lichtbogenverfahren zum Einsatz, was letztlich nur dank der Verfügbarkeit grosser Mengen billiger Elektrizität aus Wasserkraftwerken möglich war. 5.3.2 Stickstoffausfuhren an die Krieg führenden Mächte Die von der Entente verhängte Wirtschaftsblockade veranlasste die Mittelmächte dazu, nach alternativen Handelspartnern und nach Wegen zur Umgehung des Embargos zu suchen. Dabei intensivierten sie unter anderem den Handel mit den benachbarten neutralen Staaten - darunter auch mit der Schweiz. Deren geografische Lage und eigenen Versorgungsprobleme sowie auch die Kontrolle des Warenverkehrs durch die Société suisse de surveillance économique (S.S.S.) verunmöglichten der deutschen Kriegswirtschaft jedoch eine indirekte Beschaffung von Chilesalpeter über diesen Weg. Der Export von in der Schweiz selbst erzeugten Stickstoffverbindungen blieb allerdings grundsätzlich möglich. Sofern die Schweiz bei der Herstellung keine von der Entente gelieferten Rohstoffe einsetzte, hatte die S.S.S. keine Handhabe, entsprechende Exporte nach Deutschland zu verhindern. 52 Die Zollstatistiken zeigen, dass die Schweiz im Verlauf des Krieges tatsächlich beträchtliche Mengen von selbst produzierten Stickstoffverbindungen exportierte. Aufgrund der Produktionsinfrastruktur und der verfügbaren Wasserkraft handelte es sich dabei überwiegend um Kalkstickstoff. Die umfangreichsten Exporte gingen 1915 und 1916 an die Mittelmächte, die in diesen Jahren 7448 beziehungsweise 10-923 Tonnen bezogen, während die Entente nur 4251 beziehungsweise 9098 Tonnen erhielt. Noch geringer waren die von der Schweiz für den Eigenbedarf zurückbehaltenen 143 beziehungsweise 1240 Tonnen. In den Jahren 1917 und 1918 sanken die Bezüge der Mittelmächte dann aber auf 5853 und 4523 Tonnen herab und wurden durch die Importe der Entente von 10- 848 beziehungsweise 8915 Tonnen Kalkstickstoff klar übertroffen. Noch geringer waren wiederum die Bezüge der Schweizer Landwirtschaft von 1240 beziehungsweise 1468 Tonnen. 53 52 Fehr 2009: 126. 53 Abteilung für industrielle Kriegswirtschaft 1925: 58. 1 4 6 S A N D r O f e H r Von der für die Kriegführung besonders wichtigen Stickstoffverbindung Salpetersäure lieferte die Schweiz in den Jahren 1914 und 1915 zwar einige hundert Tonnen an die Mittelmächte sowie 1915 auch rund 100 Tonnen an Frankreich. Ab 1916 führte die Schweiz aber nur noch vernachlässigbare Mengen aus. 54 Die geringen Lieferungen von Salpetersäure können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch der an die Krieg führenden Mächte exportierte Kalkstickstoff in den Empf ängerländern im grossen Stil zu Salpetersäure umgewandelt wurde und der Munitionserzeugung diente. 55 5.3.3 Die Ausfuhr von Zwischenerzeugnissen und Ressourcen Wie bereits erläutert wurde, wandelte sich die seit dem 19. Jahrhundert bestehende internationale Stickstofffrage mit der Verwirklichung industrieller Verfahren zur Bindung des Stickstoffs aus der Luft immer mehr zu einer Energiefrage. Die Verfügbarkeit von grossen Mengen günstiger elektrischer Energie war denn auch einer der Hauptgründe für den Erfolg der schweizerischen Kalkstickstoffindustrie während des Krieges. Für die Beurteilung der Rolle, die die Schweiz in der internationalen Stickstoffproblematik spielte, muss daher neben den Ausfuhren der eigentlichen Stickstoffverbindungen auch untersucht werden, inwieweit die Stickstoffwirtschaft der kriegführenden Mächte anderweitig von der Lieferung schweizerischer Energie oder energieintensiver Zwischenerzeugnisse profitierte. Gerade bei der Herstellung von Kalkstickstoff ist nicht etwa der abschliessende Prozess der Bindung des Stickstoffs am energieintensivsten. Im Gegenteil, dieser verläuft sogar exotherm - das heisst unter Abgabe von Energie. Der exorbitante Elektrizitätsbedarf für die Herstellung von Kalkstickstoff ist vielmehr auf den vorangehenden Teilprozess der Gewinnung des Zwischenerzeugnisses Calciumcarbid zurückzuführen. 56 Auch diese Chemikalie wurde in der Schweiz während des Krieges in grossem Massstab industriell gefertigt und hauptsächlich an die Krieg führenden Mächte exportiert. Die mit Abstand grössten Empf änger blieben während 54 Abteilung für industrielle Kriegswirtschaft 1925: 49. 55 Lonza 1947: 21. 56 Waeser 1922: 286. D I e S c H W e I Z u N D D I e I N T e r N A T I O N A L e S T I c K S T O f f P r O B L e M A T I K 1 4 7 des ganzen Krieges die Mittelmächte, deren Bezug 1915 einen Höhepunkt von 52-604 Tonnen Karbid erreichte und selbst 1918 noch 44-843 Tonnen betrug. Demgegenüber beschaffte die Entente in der Schweiz 1915 lediglich 589 Tonnen, erhöhte ihre Bezüge im Verlauf des Krieges aber auf 30-295 Tonnen im Jahr 1918 (vgl. Abbildung 1). 57 Die Verwendung des Karbids in den Exportländern lässt sich nicht mehr vollständig rekonstruieren. Zumindest in Deutschland wurden aber beträchtliche Mengen des Schweizer Calciumcarbids den Kalkstickstoffwerken zugeführt. Ausserdem trugen selbst die nicht direkt in der Stickstoffwirtschaft verwendeten Mengen indirekt zur einer Verbesserung der dortigen Kalkstickstoffproduktion bei. 58 57 Abteilung für industrielle Kriegswirtschaft 1925: 112. 58 Fehr 2009: 139-141. Abb. 1: gegenüberstellung des Schweizer eigenverbrauchs von calciumcarbid, der Ausfuhr an die entente und der Ausfuhr an die Mittelmächte 1913-1918 (in Tonnen). Quelle: Abteilung für industrielle Kriegswirtschaft 1925: 112-113. 0 10 000 20 000 30 000 40 000 50 000 60 000 Calciumcarbid (in Tonnen) Eigenverbrauch Schweiz Ausfuhr an Mittelmächte Ausfuhr an Entente 1913 1914 1915 1916 1917 1918 Jahr 1 4 8 S A N D r O f e H r Neben dem Calciumcarbid, das gewissermassen als «Akkumulator der elektrischen Energie» diente, in dem «grosse Energiemengen unserer Gebirgswasser aufgespeichert» werden konnten, exportierte die Schweiz während des Ersten Weltkrieges aber auch direkt elektrische Energie nach Deutschland, die dort der Karbid- und Kalkstickstofferzeugung zugeführt wurde. 59 Die umfangreichsten Ausfuhrbewilligungen des Bundesrates kamen der im grenznahen Waldshut gelegenen Lonza Werke Elektrochemische Fabriken GmbH zugute, die eine Tochtergesellschaft der schweizerischen Unternehmung Elektrizitätswerk Lonza AG war und seit 1913 Calciumcarbid sowie ab 1916 Kalkstickstoff erzeugte. Sie bezog die Elektrizität von den Schweizer Kraftwerkbetreibern AG Motor in Baden und Nordostschweizerische Kraftwerke AG beziehungsweise den Kraftwerken Laufenburg, Olten-Gösgen und Beznau. 60 Neben der schweizerischen Elektrizität bezogen die deutschen Lonza-Werke auch den für die Karbidherstellung erforderlichen Kalk mehrheitlich aus der Schweiz. 61 Zudem wurde die Fabrik «fast ausschliesslich mit Schweizer Personal» betrieben, das in einer extra zu diesem Zweck errichteten Kantine auf der Schweizer Seite des Rheins verpflegt wurde. 62 Da die Waldshuter Lonza-Werke Teil der deutschen Kriegswirtschaft waren, versuchte der französische Geheimdienst am 4. Mai 1917 einen Sprengstoffanschlag auf die Fabrik zu verüben, der jedoch scheiterte. 63 5.4 Fazit Bereits vor dem Ersten Weltkrieg basierten sowohl die Explosivstofferzeugung als auch die hoffremde Stickstoffdüngung in der Landwirtschaft industrialisierter und dicht besiedelter Staaten zu einem grossen Teil auf der Verfügbarkeit südamerikanischen Chilesalpeters. Da dieser in natür- 59 Elektrizitätswerk Lonza [o. J.]: 32; Fehr 2009: 141-142. 60 Ausfuhr elektrischer Energie nach dem Auslande seit 1906, nach den Angaben der Abteilung für Wasserkraft des schweizerischen Departements des Innern vom 20. November 1916. Schweizerisches Bundesarchiv E 7350 (-) 1000/ 1104, Bd. 60 (d). 61 Schreiben der Lonza-Werke Elektrochemische Fabriken GmbH an das Bürgermeisteramt Waldshut vom 17. April 1917. Stadtarchiv Waldshut-Tiengen 793.32-9 WH (9). 62 Wörner 1968: 115; Fehr 2009: 143-144. 63 Fehr, Energie, 2015: 509-510. D I e S c H W e I Z u N D D I e I N T e r N A T I O N A L e S T I c K S T O f f P r O B L e M A T I K 1 4 9 lichen Lagerstätten abgebaut wurde, diskutierten Experten unter dem Begriff der «Stickstofffrage» bereits im 19. Jahrhundert, wie diese bedeutsame Ressource im Fall ihrer Erschöpfung ersetzt und somit eine weltweite Hungersnot vermieden werden könne. Die von der Entente über die Mittelmächte verhängte Wirtschaftsblockade schnitt Deutschland im Ersten Weltkrieg bereits vor der Erschöpfung der natürlichen Lagerbestände in Südamerika von jeglicher Salpeterzufuhr ab. Die zuvor lediglich von Experten diskutierte Stickstofffrage wandelte sich damit zu einem existentiellen Problem der deutschen Kriegswirtschaft. Zur Überwindung der schweren Versorgungskrise wurde in Deutschland im Verlauf des Krieges eine umfangreiche Produktionsinfrastruktur zur industriellen Bindung des Stickstoffs der Luft geschaffen. Dabei kam zunächst primär das Kalkstickstoffverfahren, später aber in erster Linie das wesentlich energieeffizientere Hochdruckverfahren zur Anwendung. Der exponentiell zunehmende Streitkräftebedarf konnte dank der neuen Produktionsanlagen zwar weitgehend gedeckt werden. Dieser Erfolg war allerdings nur auf Kosten der Landwirtschaft möglich, der zeitweise nur noch rund ein Drittel der Vorkriegsmengen an Stickstoffdünger zugeteilt wurde. Insgesamt entsprach die Gesamtproduktion gegen Ende des Krieges dennoch annähernd der Menge Stickstoff, die die Landwirtschaft vor dem Krieg bezogen hatte. Damit konnte die Stickstofffrage als gelöst gelten beziehungsweise war vorrangig zu einer Energiefrage geworden. Die Schweiz war durch den Wirtschaftskrieg ebenfalls mit dem Problem konfrontiert, keine nennenswerten Mengen an Chilesalpeter mehr einführen zu können. Anders als in Deutschland konnte die bei Kriegsbeginn bestehende und im Verlauf des Krieges weiter ausgebaute Stickstoffindustrie die Inlandversorgung während der gesamten Kriegsdauer aber nicht nur weitgehend sicherstellen, sondern sogar Kalkstickstoff an die Krieg führenden Mächte exportieren. Möglich war dies nicht zuletzt daher, weil die auf dem Kalkstickstoff- und dem Lichtbogenverfahren basierende schweizerische Produktion von der Verfügbarkeit grosser Mengen vergleichsweise billiger Wasserkraft profitierte. Während die Schweiz die Entente etwas umfangreicher mit Kalkstickstoff belieferte als die Mittelmächte, waren die Ausfuhren von Zwischenerzeugnissen und Ressourcen für die Kalkstickstoffproduktion an Deutschland sehr viel grösser als an alle übrigen Staaten. Die Schweiz 1 5 0 S A N D r O f e H r belieferte Deutschland während des Krieges mit rund 200- 000 Tonnen Calciumcarbid, das als «Akkumulator» von Schweizer Wasserkraft diente und in Deutschland im grossen Stil auch zu Kalkstickstoff weiterverarbeitet wurde. Eine Tochterfirma der schweizerischen Lonza eröffnete im grenznahen deutschen Waldshut sogar eine Fabrikation für Calciumcarbid und Kalkstickstoff, die nicht nur mit Schweizer Arbeitskräften und Schweizer Kalk betrieben wurde, sondern für die der Bundesrat auch umfangreiche Elektrizitätsexporte bewilligte. Die Schweiz unterstützte die deutsche Stickstoffversorgung somit nicht nur mit dem Export von Stickstoffverbindungen, sondern auch durch Zulieferung von elektrischer Energie sowie von energieintensiven Zwischenerzeugnissen. 6. DIE ELEKTRIFIZIERUNG DER EISENBAHNEN ALS RESULTAT VON KRIEG UND KRISE, UM 1880-1939 Anna Amacher Hoppler Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Elektrifizierung der Eisenbahnen in der Schweiz während des Ersten Weltkrieges und der Zwischenkriegszeit. 1 Dabei steht die Frage im Vordergrund, inwiefern die Elektrifizierung der schweizerischen Eisenbahnen und der Erste Weltkrieg zusammenhängen. Muss sie einzig als Resultat von Krieg und Krise gedeutet werden, oder hatte der Krieg eher eine katalytische Wirkung, zumal der elektrische Betrieb der Bahnen nicht erst während des Weltkrieges entwickelt wurde? Nach einem Abriss zur Entwicklung der Elektrizität als Grosses Technisches System (GTS) und einer quantitativen Beschreibung fokussiert der Beitrag die Elektrifizierung der Bahnen. Damit ist massgeblich die Elektrifizierung der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) angesprochen, die jedoch um den elektrischen Betrieb der Bern- Lötschberg-Simplon-Bahn (BLS) als Fallbeispiel einer Privatbahn und zwecks Vertiefung erweitert wird. 6.1 Funktion und Entwicklung der Elektrizität in Europa Ihren Takeoff erlebte die Elektrizität(swirtschaft) in Europa in den 1880/ 90er Jahren, 2 der Pro-Kopf-Output von Elektrizität in Europa blieb jedoch bis 1921 hinter demjenigen der USA zurück. 3 Als neues technisches Netz, das Europa nach dem Telegraphen- und dem Eisenbahnnetz überzog, wies das Elektrizitätsnetz Ähnlichkeiten mit dem englischen Eisenbahnboom der 1830/ 40er Jahre auf, 4 zumal die Elektrizität die ökonomische Organisation nach 1914 massgeblich prägte: Sie verbilligte die 1 Dieser Artikel basiert im Wesentlichen auf der Lizentiatsarbeit der Autorin: Amacher 2006. 2 Der Takeoff äusserte sich in der Schweiz gemäss Paquier 2005a: 166 in einer durchschnittlichen jährlichen Zunahme des Stromverbrauchs um 35% zwischen 1890 und 1900. 3 Millward 2005: 81-85. 4 Millward 2005: 111. 1 5 2 A N N A A M A c H e r H O P P L e r Kosten für eine Einheit Energie relativ zu andern Energieträgern wie Kohle und Gas 5 und produzierte höhere Skaleneffekte als die Eisenbahn. 6 «Skalenerträge» entstehen, wenn die durchschnittlichen Gesamtkosten (etwa die Kapitalkosten für den Bau eines Elektrizitätswerkes und -netzes) langfristig sinken, während der Output steigt beziehungsweise die laufenden (Betriebs-)Kosten im Vergleich zu den Gesamtkosten sehr klein sind. In Bezug auf die Übertragung von Elektrizität bedeutete dies fast keine Transmissionskosten mehr, sobald eine Leitung gezogen war: «Once a transmission line was laid, the actual business of transmitting electricity involved hardly any operating costs [...].» 7 Die Anf änge der Elektrizität sind auf der lokalen Ebene anzusiedeln. In Beleuchtungsanlagen, als Antriebskraft in Fabriken und von schmalspurigen Vororts- und Bergbahnlinien befriedigte sie bis zum Ersten Weltkrieg vorwiegend eine lokale Nachfrage, die sich zwischen 1919 und 1945 durch die Elektrifizierung der Haushalte (Wärmeapparate) und der grossen (normalspurigen) Bahnlinien allerdings erweiterte. 8 Ausschlaggebend dafür war, dass Strom zuerst nicht über lange Distanzen transportiert werden konnte. 9 Die Versorgung mit Elektrizität garantierten in Italien, Frankreich und Spanien vorwiegend private Elektrizitätswerke, 10 im Deutschen Reich, in Skandinavien und Grossbritannien private ebenso wie öffentliche Unternehmungen. 11 Auch in der Schweiz betrieben private und öffentliche Unternehmen die Stromversorgung, wobei die öffentlichen die privaten zunehmend einschränkten. 12 Da der private Sektor «grenzüberschreitend tätig und in hohem Masse auf Finanzierungsgesellschaften angewiesen» war, erwarben zunehmend Gemeinden und Kantone die privatwirtschaftlich gegründeten und aufgebauten Elektrizitätswerke mit dem Argument, die Abhängigkeit vom Ausland reduzieren zu wollen. 13 Die kommunalen und kantonalen Gemeinwesen engagierten sich - wie 5 Millward 2005: 113. 6 Millward 2005: 111. 7 Millward 2005: 111. 8 Paquier 2005a: 166. 9 Millward 2005: 114. 10 Millward 2005: 117. 11 Paquier 2005b: 167. 12 Paquier 2005b: 168. 13 Paquier 2005b: 168. D I e e L e K T r I f I Z I e r u N g D e r e I S e N B A H N e N 1 5 3 im Deutschen Reich - «in den meisten Fällen erst dann, wenn die technischen Probleme weitgehend gelöst waren und die ökonomischen und finanziellen Risiken abgeschätzt werden konnten». 14 Zu Beginn der Innovationsphase, als die Risiken hoch waren, dominierten somit in Europa private Unternehmungen die elektrotechnische Entwicklung. 15 In der Schweiz profitierten insbesondere die Kantone von diesem Vorgehen, vergaben doch sie zuerst die Konzessionen zur Wassernutzung und kauften anschliessend die funktionierenden privaten Werke mithilfe ihrer Kantonalbanken auf. 16 Erfahrungen mit früheren Netzwerken führten zu einer Verdichtung der staatlichen Regulierung der Elektrizitätswirtschaft, 17 umso mehr als sich die elektrotechnischen Unternehmungen oft vertikal organisiert und somit Produktion, Transmission und Verteilung übernommen hatten. 18 Mit der Möglichkeit, Strom über längere Distanzen zu transportieren, erschlossen die Unternehmungen grössere Märkte, 19 wobei sie Kapitalkosten sparten, konnten sie die Produktion doch auf einige wenige Standorte konzentrieren. 20 Im Zuge des Ersten Weltkrieges beziehungsweise danach 21 wurde die Elektrizität in Frankreich, Italien, Spanien und der Schweiz von der Öffentlichkeit als Retterin in einer energetischen Notlage und als strategisch wichtiger Energieträger begrüsst, 22 minderte sie doch die energetische Abhängigkeit von ausländischer Kohle, indem sie die heimischen Wasserkräfte nutzte. In der Folge breitete sich die Elektrizität rasant aus. 23 Ihre schnelle Adaption in der Schweiz beruhte gemäss David Gugerli auf dem «Systemsyndrom», das heisst, auf den Erfahrungen mit früheren Systemen wie der Landestopographie, dem Telegrafen, der Eisenbahn oder der Trinkwasserversorgung. 24 Einerseits entwickelten Banken und Finanz- 14 Ambrosius 1984: 54. 15 Millward 2005: 92. 16 Paquier 2005b: 168. 17 Millward 2005: 81. 18 Millward 2005: 76. 19 Millward 2005: 114. 20 Millward 2005: 115. 21 Gemäss Steinmann 2003: 143 dauerte die Energiekrise in der Schweiz von 1917 bis 1922. 22 Millward 2005: 114. 23 Millward 2005: 111. 24 Gugerli 1996: 134-149. 1 5 4 A N N A A M A c H e r H O P P L e r institute im Zuge des Eisenbahnbaus neue, dem Ausmass eines Infrastrukturnetzes angepasste Finanzierungsinstrumente wie die Aktiengesellschaft. 25 Andererseits griffen Politiker und die Bevölkerung auf ihre Erfahrungen mit früheren Energienutzungsformen wie Gas zurück, und Techniker aus der Industrie sowie Forscher an Hochschulen wie der ETH stellten ein Scharnier zwischen Theorie und praktischer Umsetzung durch die schweizerische Maschinenindustrie dar, welche die neue Technik ex- und importierte, durch die Kooperation mit ausländischen Partnern verbesserte und so die kleine, offene Volkswirtschaft Schweiz in technischer Hinsicht stützte. 26 Zu betonen ist dabei die Zusammenarbeit von finanzwirtschaftlichen und industriellen Partnern, sprich Banken und Elektroindustrie, welche die Entwicklung der Elektrizität in grossem Stil in der Schweiz ankurbelten. Als sogenannte Finanzierungsgesellschaften initiierten sie Kraftwerke, die nicht mehr auf die lokale Nachfrage zielten, sondern Strom an Flüssen produzierten, wo er durch Lauf kraftwerke in grossen Mengen hergestellt werden konnte. 27 Beispiele sind die Motor AG für elektrische Unternehmungen, die aus der Brown, Boveri & Cie. (BBC), der Allgemeinen Kreditanstalt Leipzig, der Bank Leu & Cie. und kleineren Schweizer Banken bestand, oder die Schweizerische Gesellschaft für Elektrische Industrie, kurz Indelec genannt, die aus der Zusammenarbeit von Siemens & Halske und deutschen sowie schweizerischen Banken hervorging. 28 6.2 Elektrizitätspolitik Die Vielfalt an Akteuren in der wachsenden schweizerischen Elektrizitätswirtschaft zeigt deutlich, dass die Privatwirtschaft am Anfang des neuen Netzwerkes stand. Allerdings zwang bereits 1891 die linke Basler Petition «Frei-Land» den Bundesrat und das Parlament zu einer Stellungnahme und brachte den ersten Politisierungsschub für das noch junge technische System. Sie verlangte ein eidgenössisches Monopol für die noch nicht konzessionierten Wasserkräfte und griff somit die kantonale 25 Balthasar 1993: 47. 26 Paquier 1998: 1087-1091. 27 Müller [1991]: 51. 28 Gugerli 1996: 225-245.Vergleiche dazu auch den Artikel von Fehr in diesem Band. D I e e L e K T r I f I Z I e r u N g D e r e I S e N B A H N e N 1 5 5 Konzessionierungshoheit an. 29 Zwar lehnten beide Räte die Petition 1895 ab, doch zeichneten sich in der Debatte die Topoi ab, die in den folgenden 20 Jahren die politische Diskussion über die schweizerischen Wasserkräfte beherrschen sollten: «Gemeingut», «öffentliche Wohlfahrt» und das «Interesse des Landes» standen ab diesem Zeitpunkt als diskursive Elemente fest. 30 Die Elektrifizierung der Städte und die Nachfragestagnation nach der Jahrhundertwende bewirkten weitere Politisierungsschübe. Schliesslich wurde die Idee, die Energieversorgung auf nationaler Ebene zu regeln, mitten im Ersten Weltkrieg (! ) umgesetzt. Indem die Oberaufsicht des Bundes über die Nutzung der Wasserkräfte 1915 in der Verfassung verankert wurde, machte die Schweiz die Nutzung der Wasserkräfte zu einer nationalen Angelegenheit. 31 Entsprechend stand das daraus erarbeitete Gesetz von 1916 wegen der sich verdüsternden internationalen Lage im Zeichen einer nationalistisch ideologisierten Nutzung der schweizerischen Wasserkräfte. Darin erhielt der Bund die Oberaufsicht über die Nutzbarmachung der öffentlichen und privaten Gewässer, 32 doch die Kantone behielten ihre Konzessionierungshoheit. 33 Das Gesetz war ein helvetischer Kompromiss, weil es neben den Kantonen auch die privaten Gesellschaften und die SBB, denen darin ein Recht auf einen Konzessionskauf zwecks Elektrifizierung der Bahn zugesichert worden war, berücksichtigte. 34 Die Kantone, denen die Konzessionierung oblag, verhielten sich anf änglich abwartend und konzentrierten sich auf die Konzessionsvergabe an Gemeinden und Private. 35 Nach 1905 stiegen die Kantone mit zunehmender technischer und wirtschaftlicher Sicherheit ein, wobei die Kantone Freiburg, Waadt und Bern die Elektrizitätswirtschaft in ihrem Gebiet vor 1905 unter ihre Kontrolle brachten. 36 Der Kanton Bern wurde allerdings erst aktiv, als die private Finanzierungsgesellschaft Motor AG durch die Zusammenlegung zweier von ihr erbauter Wasserkraftwerke in Spiez und Hagneck eine zu grosse und von ausländischem Kapital 29 Paquier 1998: 923-925. 30 Gugerli 1996: 257-258. 31 Gugerli 1996: 297, 308. 32 Gugerli 1996: 288. 33 Paquier 1998: 945. 34 Paquier 1998: 945. 35 Paquier 1998: 808. 36 Paquier 2005b: 168. 1 5 6 A N N A A M A c H e r H O P P L e r abhängige Macht zu werden drohte. 37 Um einer bundesstaatlichen Einmischung zuvorzukommen, gab sich der Kanton Bern 1906 überstürzt sogar ein eigenes Wasserrechtsgesetz, das sich an den Bedürfnissen der halb in Staatsbesitz übergegangenen Elektrizitätsunternehmung Vereinigte Kander- und Hagneckwerke AG (VKHW) orientierte. 38 6.3 Elektrizität durchdringt den Alltag in der Zwischenkriegszeit: Einige Zahlen aus dem Kanton Bern Wie sich die Elektrizität im täglichen Leben ausbreitete und wie die Elektrizitätsunternehmen für jeden einzelnen Anschluss kämpften, zeigen die Geschäftsberichte der VKHW, der späteren Bernische Kraftwerke AG (BKW). Zwischen 1903 und 1941 führten sie die neu angeschlossenen Bügeleisen einzeln auf! In der Tat veränderte die Elektrizität das tägliche Leben Schritt für Schritt: Neben der Vereinfachung der Beleuchtung, des Bügelns, Kochens und Waschens brachte die Elektrizität auch neue Kommunikationsmittel wie das Telefon oder das Radio mit sich. 39 Dies schlug sich bei den Elektrizitätswerken in den Statistiken nieder. Die meisten Motoren, die von der BKW entweder in eigenen Verteilungsanlagen oder in Gemeinde- und Genossenschaftsanlagen mit Strom versorgt wurden, befanden sich in privaten Haushalten und landwirtschaftlichen Betrieben; die Elektrizität eroberte die privaten Haushalte und landwirtschaftlichen Betriebe in der Zwischenkriegszeit unauf haltsam. 40 Allerdings dominierten nicht die Motoren, sondern die Glühlampen das Geschäft. Sie waren die führenden «Verbrauchskörper», in denen Strom von der VKHW/ BKW seiner Endnutzung zugeführt wurde. Offenbar wurde die Elektrizität vorwiegend für die Beleuchtung eingesetzt. Die erste Elektrifizierungswelle führte anf änglich zum Auf bau des sogenannten Licht- und Kraftnetzes, das mengenmässig eine führende Stellung einnahm. Parallel dazu wurde das Bahnnetz aufgebaut: Die Entwicklung der Anzahl Kilowatt, welche die BKW ihren Abonnenten und 37 Pfister 1995: 280. 38 Müller [1991]: 63-64. 39 Zur sozialen Rezeption dieser Veränderungen im Alltag, siehe: Blumer-Onofri 1994: insbesondere Kapitel 7-12. 40 BKW-Geschäftsberichte 1909-1951. D I e e L e K T r I f I Z I e r u N g D e r e I S e N B A H N e N 1 5 7 den Bahnen zwischen 1909 und 1918 lieferte, zeigt, dass die absolute Entwicklung des Verbrauchs der Bahnen bis 1913 parallel zu derjenigen des Totalverbrauchs verlief. Der Anteil der Bahnen steigerte sich dabei von 15 Prozent im Jahr 1909 auf 35 Prozent im Jahr 1913 und fiel danach unter diese Höchstmarke. Dies war vor allem auf den Bau der BLS zurückzuführen, der von 1906 bis 1913 dauerte. Bei Betriebsbeginn im Sommer 1913 bezog die BLS als grösste Kantonsbahn einen Fünftel des total verbrauchten Stromes der BKW, während des Ersten Weltkrieges fiel ihr Anteil auf 10 Prozent (1918). 41 41 Amacher 2006: 42. Abb. 1: elektrizität wurde anfänglich vorwiegend für die Beleuchtung und erst danach für das Kochen oder Bügeln eingesetzt. Quelle: VKHW-geschäftsberichte 1903-1907; BKW-geschäftsberichte 1908-1951. 0 200 000 400 000 600 000 800 000 1 000 000 1 200 000 1 400 000 0 10 000 20 000 30 000 40 000 50 000 60 000 70 000 80 000 90 000 100 000 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923 1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 1950 Anzahl Glühlampen Anzahl Motoren, Bügeleisen und Kochapparate Motoren Bügeleisen Kochapparate Glühlampen 1 5 8 A N N A A M A c H e r H O P P L e r 6.4 Die elektrische Eisenbahn und ihre Förderung in der Schweiz 42 Auch wenn die elektrische Eisenbahn kein «Sinnbild [...] für die vollendete Einbindung der Elektrotechnik in die soziotechnische Lebenswirklichkeit des ‹langen› 19. Jahrhunderts» 43 war, stellte sie zumindest die Verknüpfung zweier grosser technischer Systeme dar, die einzeln ihr wirtschaftspolitisches Potenzial bereits bewiesen hatten beziehungsweise am Beweisen waren. Nachdem in den 1890er Jahren vorwiegend schmalspurige Vororts- und Bergbahnen elektrifiziert worden waren, sah die Elektrizitätswirtschaft nach der Jahrhundertwende in der Elektrifizierung von Normalspurbahnen neue Absatzmöglichkeiten. Weil mit der Gründung der SBB 1902 ein entsprechender Akteur von schweizweiter Bedeutung ins Zentrum des Interesses gerückt war, forderte die Elektrizitätswirtschaft eine Lösung auf schweizerischer Ebene. Nach einer Absage an eine aktive Prüfung der Frage initiierte der Schweizerische Elektrotechnische Verein (SEV) 1902 die «Schweizerische Studienkommission für elektrischen Bahnbetrieb», die sich ausschliesslich des Themas annahm. 6.4.1 Die Schweizerische Studienkommission für elektrischen Bahnbetrieb 44 Aufgeschreckt durch eine Wachstumsstagnation des Elektrizitätsmarktes infolge eines Nachfragerückgangs um die Jahrhundertwende und von der Regierung unterstützte Versuche der elektrischen Vollbahntraktion in Frankreich, suchte die schweizerische Elektrizitätswirtschaft, die sich im SEV organisiert hatte, nach Möglichkeiten zur Vergrösserung ihres Absatzmarktes. Neben der Bildung kantonaler Elektrizitätswerke, die ihr Zugang zu einer breiteren Bevölkerung zu verschaffen versprach, sah die Elektrizitätswirtschaft in der Elektrifizierung der Normalbahnen eine attraktive Option. Die Elektrifizierung der Normalbahnen bedurfte jedoch umfangreicher Versuche, deren Experimentier-, Organisations- und 42 Falls nicht anders vermerkt, folgt dieser Abschnitt: Gugerli 1997: 228-242. 43 Gugerli 1996: 308. 44 Falls nicht anders vermerkt, folgt dieser Abschnitt: Gugerli 1997: 228-242. Steinmann 2003: 38-46 erläutert die Studienkommission ebenfalls ausführlich. D I e e L e K T r I f I Z I e r u N g D e r e I S e N B A H N e N 1 5 9 Finanzierungskosten das Budget einer einzelnen Unternehmung überstiegen. Die Studienkommission vereinigte deshalb die an einer elektrischen Normalbahn interessierten Kreise wie Elektrizitätswirtschaft, Ausrüstungsgüterindustrie, Finanzierungsgesellschaften, Bundes- und Privatbahnen und Bundesbehörden. Der Bundesrat begnügte sich in der Frage nach der Elektrifizierung der Schweizer Bahnen mit einer Subvention an die Studienkommission, nachdem er innerhalb zweier Jahre zweimal aufgefordert worden war, sich der Frage aktiv anzunehmen. 1901 hatte Walter Wyssling, der «Doyen der universitären schweizerischen Elektrotechnik», den Bundesrat gebeten, als zukünftiger Besitzer der Bundesbahnen die Prüfung des elektrischen Betriebes auf Schweizer Bahnen zu unterstützen; ein Jahr später verlangte ein Postulat von Nationalrat Hans Dinkelmann, dem Direktor der elektrischen Burgdorf-Thun-Bahn, dasselbe. 45 Das erste Arbeitsprogramm der Studienkommission sah vor, theoretisch die Fragen zu beantworten, wie der elektrische Betrieb der Schweizer Bahnen technisch und finanziell befriedigend bewerkstelligt werden konnte und welche Vor- und Nachteile er hätte. Subkommissionen sollten detaillierte Fragen behandeln wie die Ausgestaltung des elektrischen Betriebes, die Technik und Finanzierung unterschiedlicher Systeme, Beschaffung und Kosten der nötigen Kraft, betriebswirtschaftliche Bedingungen für eine Umstellung von Dampf auf Strom bei Vollbahnen, Grundsätze und Standards für Konstruktionen, Spannungen, Stromzuführungen sowie für Rollmaterial und Lokomotiven. Um glaubwürdig zu sein, ging die Studienkommission gezielt vor. Erstens wollte sie das bestehende praktische und theoretische Wissen sammeln. Zweitens sollten mittels der Versuchsstrecken zwischen Seebach und Wettingen und am Simplon die skeptischen SBB - sie traten erst 1903 in die Studienkommission ein - und Bahnfachleute gewonnen werden. Dabei legte sie Wert auf die Wissenschaftlichkeit der Versuche, bei denen sie systematisch und experimentell vorging. Drittens publizierte sie die Versuchsergebnisse in Broschüren und besprach sie in der Fachpresse. So erschienen ab 1906 die Mitteilungen der schweizerischen Studienkommission als «permanentes öffentliches Forum von wissenschaftlichem Format». 1912 45 Steinmann 2003: 38-39, Zitat 38. 1 6 0 A N N A A M A c H e r H O P P L e r fassten Walter Wyssling und Walter Kummer alle Berichte in Die Systemfrage und die Kostenfrage für den hydro-elektrischen Betrieb der schweizerischen Eisenbahnen zusammen. 46 Die gegen aussen kommunizierte Wissenschaftlichkeit konnte in der Studienkommission selbst nicht immer aufrecht erhalten werden. So erreichte sie eine Einigung über die Periodenzahl 47 für Wechselstrom 1912 nach langem Feilschen nur noch per Abstimmung. Die grosse Hoffnung von 1902 erfüllte sich jedoch nicht: Trotz Vor- und Schlussbericht entschieden sich die SBB 1912 nicht zur vollständigen Elektrifizierung, 48 da Bund und SBB der von der Elektrizitätswirtschaft gewünschten Mitsprache in Sachen Elektrifizierung der schweizerischen (Bundes-)Bahnen eine Absage erteilt hatten. Dies veranlasste den SEV, mit dem Wasserwirtschaftsverband 1915 eine «grosse öffentliche Diskussionsveranstaltung» zu organisieren, um die Resultate «der weitgehend aristokratischen Vorgehensweise einer Expertenelite» einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und die Interessenallianz für die Bahnelektrifizierung zu verbreitern. Trotzdem löste sich mit dem Abschluss der theoretischen Arbeiten die Studienkommission 1916 auf. Die Verbindung der beiden Netzwerke Bahn und Elektrizität weckte offensichtlich Hoffnungen und mehr oder weniger starkes Engagement der wichtigen Akteure in Elektrizitätswirtschaft, Industrie und Behörden. Grosses Interesse zeigte insbesondere der Kanton Bern, der im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in beide Netze investierte. Durch die Verstaatlichung der Elektrizitätswirtschaft und mit dem Bau der BLS realisierte er zwei grosse, ausgesprochen langfristige Infrastrukturprojekte. Er machte sich damit zu einem ernst zu nehmenden Akteur auf dem schweizerischen Elektrizitätsmarkt. Mit dem Eintritt der Baudirektion des Kantons Bern am 21. Dezember 1907 als einziger (! ) Kantonsbehörde in die Studienkommission unterstrich der Kanton sein wirtschaftspolitisches Interesse an der Entwicklung der elektrischen Bahntraktion und nahm mit 46 Gugerli 1997: 233-236, Zitat 236. 47 Eine Periode beispielsweise eines Wechselstromes beschreibt die Zeit, in der die Stromstärke von null auf den Maximalwert (Amplitude) steigt, wieder gegen null fällt, den Minimalwert erreicht und dann wieder auf null steigt. Die Anzahl Perioden pro Sekunde drückt die Frequenz (in Hertz) aus. 48 Gemäss Steinmann 2003: 143 entschieden sich die SBB erst 1918 für ein Gesamtelektrifizierungsprogramm, 1912 schufen sie jedoch bereits eine «Abteilung für die Elektrifikation des Bundesbahnen» (S. 46). D I e e L e K T r I f I Z I e r u N g D e r e I S e N B A H N e N 1 6 1 der elektrischen BLS vorweg, was ein Jahrzehnt später auf nationaler Ebene mit der Elektrifizierung der Bundesbahnen verwirklicht werden sollte. 6.4.2 Die Elektrifizierung der SBB Die Elektrifizierung der SBB in der Zwischenkriegszeit war ein riesiges Investitionsprogramm, das nicht nur aus betriebswirtschaftlicher Notwendigkeit, sondern vor allem aus wirtschaftspolitischen Überlegungen und zugunsten der ganzen Schweizer Volkswirtschaft ausgeführt wurde. Zwar verkehrten die Züge durch den Simplontunnel seit seiner Eröffnung 1906 mit Strom, aber die SBB gehörten deswegen nicht zu den Vorreitern der Elektrifizierung in der Schweiz. 1920 betrug der Anteil der elektrifizierten Strecken der SBB rund 8 Prozent, während sich derjenige der Privatbahnen auf knapp 55 Prozent belief. Die Elektrifizierung in der Zwischenkriegszeit stellte einen regelrechten Modernisierungsschub dar, so dass bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges knapp 79 Prozent des gesamten Schweizerischen Streckennetzes elektrifiziert waren (Privatbahnen ca. 79 Prozent, SBB ca. 75 Prozent). 49 Der Entscheid zur Elektrifizierung der SBB ist vielmehr als in einem elektrotechnischen in einem wirtschaftspolitischen und nationalistischen Kontext anzusiedeln. Der Erste Weltkrieg führte der Schweiz ihre energetische Abhängigkeit vom Ausland drastisch vor Augen, insbesondere als nach 1917 die Kohlepreise stark anstiegen (vgl. dazu auch den Beitrag von Pfister zur Energie). 50 Bereits der Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte der Schweiz ihre Dependenz vom Import von Kohle als ihrem wichtigsten Energieträger vor Augen geführt. Die schweizerischen Wasserkräfte sollten deshalb «rationell genutzt» werden, indem die Energieversorgung zentral, sprich auf nationaler Ebene geregelt wurde. 51 Das Wasserrechtsgesetz von 1916 sicherte den SBB daher ein Recht auf den Erwerb von Wasserrechtskonzessionen zu. 52 Die hohen Kosten einer Elektrifizierung 49 Alle Zahlen in diesem Abschnitt entstammen Steinmann 2010: 93. 50 Siehe dazu Steinmann 2003: 77-79. 51 Gugerli 1996: 297. 52 Paquier 1998: 945. 1 6 2 A N N A A M A c H e r H O P P L e r und die tiefen Kohlepreise liessen die SBB bis dahin jedoch zögern und begründeten die im Vergleich mit den elektrifizierten Privatbahnen spät einsetzende Elektrifizierung des Netzes der Bundesbahnen. 53 Die SBB-Leitung widerstand der Elektrifizierung des Netzes also so lange, weil sie die hohen Kosten fürchtete und weil die Auswirkungen des hohen Kohlepreises erst 1918 spürbar wurden. Ihre Bedenken bestätigten sich: Zwischen 1918 und 1935 investierten die SBB rund 5.8 Milliarden Franken 54 in elektrische Lokomotiven, Oberleitungen sowie in die Verstärkung des Unter- und Oberbaus. 55 Finanziert wurden die Investitionen durch festverzinsliche Anleihen, die bis zum Zweiten Weltkrieg auf ungef ähr einen Viertel der Gesamtschulden der SBB anwuchsen. 56 Die Elektrifizierung trug somit massgeblich zu einer Vergrösserung der Schuldenlast der SBB bei. Allerdings verfolgten die SBB damit auch volkswirtschaftliche Ziele. Im Zuge der unsteten Konjunktur der 1920er Jahre und der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre bediente sich der Bund der SBB als Mittel zur Arbeitsbeschaffung. Aber auch die Schweizer Industrie sollte davon profitieren: Aus Sicht der Schweizer Maschinenindustrie stellte das Projekt «‹Elektrifizierung der SBB›» 57 einen neuen, grossen Absatzmarkt dar. Nachdem Kohlemangel und horrende Kohlepreise gegen Ende des Ersten Weltkrieges zu einer Reduktion der üblichen Personenzüge um einen Viertel geführt hatten, entschlossen sich die SBB 1918, ihr Netz innerhalb von 30 Jahren zu elektrifizieren. 58 Dies stellte eine grundlegende Veränderung des Inlandmarktes der schweizerischen Maschinenindustrie dar. 59 Gemäss Martin Pally verhinderte die Elektrifizierung der SBB etwa, dass die Maschinenfabrik Oerlikon (MFO) in eine Nachkriegskrise schlitterte. 60 Nachdem die BBC und die MFO den Markt an erwarteten Elektrifizierungsaufträgen unter sich aufgeteilt und damit de facto ein Kartell geschaffen hatten, 61 kam der Schweizer Maschinenindustrie die bundesrätliche Praxis in den frühen 1920er Jahren, nur bei inländischen Unter- 53 Steinmann 2010: 92-94. 54 Rund 717 Millionen Franken (1935), die Werte im Text sind auf 2014 umgerechnet. 55 Steinmann 2010: 94. 56 Steinmann 2010: 97. 57 Steinmann 2010: 97. 58 Pally 2008: 145-146. 59 Pally 2008: 140. 60 Pally 2008: 147. 61 Pally 2008: 144-145. D I e e L e K T r I f I Z I e r u N g D e r e I S e N B A H N e N 1 6 3 nehmen zu bestellen, zugute. Diese Praxis diente vorwiegend der Arbeitsbeschaffung, welche die grassierende Arbeitslosigkeit eindämmen sollte. Die MFO, die BBC und die S.A. des Ateliers de Sécheron mussten zwar garantieren, dass ein Teil eines Serienauftrages in den beiden anderen Unternehmungen ausgeführt werden konnte, 62 aber die ausländische Konkurrenz war damit ausgeschaltet. 63 Der betriebswirtschaftliche Vorteil der Elektrifizierung der SBB trat erst in der Kriegswirtschaft des Zweiten Weltkrieges zu Tage: Mit einem erneuten Anstieg der Kohlepreise und beinahe versiegenden Kohleimporten ab 1944 konfrontiert, wurden die Ersparnisse offensichtlich, welche die SBB machten. Steinmann berechnete eine summierte hypothetische Einsparung für die Jahre von 1939 bis 1945 von rund 2.4 Milliarden Franken. 64 Angesichts der Steigerung der Transportleistung während des Zweiten Weltkrieges avancierte die Elektrifizierung der SBB zu einem nationalen Verdienst, das in der nationalistisch aufgeladenen Zeit als positive Projektionsfläche der Schweizer Bevölkerung und der politischen Eliten diente. 65 Dass die SBB für ihren elektrischen Betrieb sogar ein eigenes Stromnetz mit eigenen Kraftwerken auf baute, 66 steht sinnbildlich für die energetische Unabhängigkeit, über die die Schweiz im Zweiten Weltkrieg (im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg) dank der Elektrifizierung verfügte. Der Schuldenberg der SBB musste trotz aller nationalistischen Verklärung abgetragen werden. Eine Revision des SBB-Gesetzes brachte 1944 eine Sanierung der SBB, und Investitionsprogramme wie die Elektrifizierung wurden unterbunden. Interessanterweise legitimierte aber gerade die Elektrifizierung der SBB die Sanierung im Umfange von rund 6.5 Milliarden Franken, 67 da die Sanierung als nachträgliche Kompensation für die Elektrifizierung verstanden wurde, welche die Schweiz vor einer Transportkrise im Zweiten Weltkrieg verschont habe. 68 62 Pally 2008: 146. 63 Pally 2008: 145. 64 Rund 321 Millionen Franken (1945). Steinmann 2010: 98-99. 65 Steinmann 2010: 100. 66 Steinmann 2010: 94. 67 Rund 1.3 Milliarden Franken (1944). 68 Steinmann 2010: 77-78. 1 6 4 A N N A A M A c H e r H O P P L e r 6.5 Die Elektrifizierung der Privatbahnen Im Gegensatz zu den SBB war der Bestand der elektrischen Strecken am Streckennetz der Privatbahnen mit 55 Prozent am Vorabend des Ersten Weltkrieges beachtlich. Viele Privatbahnen wurden von Anfang an elektrisch betrieben, der Rest in der Zwischenkriegszeit umgerüstet. Mithilfe des Bundesgesetzes über die Unterstützung von privaten Eisenbahn- und Dampfschiffunternehmungen zum Zwecke der Einführung des elektrischen Betriebes vom 2. Oktober 1919 versuchte der Bundesrat die Elektrifizierung der Privatbahnen mittels einer Verbilligung der nötigen Kredite zu fördern, um in Zukunft ähnliche Transportkrisen wie während des Ersten Weltkrieges zu vermeiden. 69 Bis dahin hatte die Politik situativ auf Fehlbeträge der Privatbahnen reagiert: Basierend auf dem Bundesgesetz über Verpf ändung und Zwangsliquidation von Eisenbahn- und Schiffahrtsunternehmungen vom 25. September 1917, das eine ausserordentliche Stundung in Kriegszeiten oder anderen ausserordentlichen Verhältnissen für die Privatbahnen vorsah, konnten sie ihren Betrieb weiterführen, obwohl sie es eigentlich nicht mehr vermochten. 70 Die verbilligten Kredite trieben allerdings den Teufel mit dem Beelzebub aus: Einige Privatbahnen mussten sich so stark verschulden, dass ihr Fortbestehen gef ährdet war. 71 Deshalb wurde 1939 ein Privatbahnhilfegesetz (PHG) nötig, das rund 1.1 Millionen Franken 72 aus der Bundeskasse - und mindestens ebensoviel aus den Kantonskassen - für Bilanzsanierungen und technische Verbesserungen derjenigen Privatbahnen vorsah, die danach lebensf ähig sein sollten; der Rest wurde ihrem Schicksal und den Kantonen überlassen. 73 Dass sich nicht nur kleine Bahnunternehmungen oder solche, die spät mit der Elektrifizierung begonnen hatten, mit einer Sanierung befassen mussten, zeigt das Beispiel der BLS. 69 Steinmann 2010: 92-94. 70 Steinmann 2010: 68. 71 Steinmann 2010: 98. 72 140 Millionen Franken (1939). 73 Steinmann 2010: 68-69. D I e e L e K T r I f I Z I e r u N g D e r e I S e N B A H N e N 1 6 5 6.5.1 Das Fallbeispiel Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn (BLS) 74 Mit ihren 115 Kilometern stellte die BLS zusammen mit der Rhätischen Bahn (RhB, 390 Kilometer) hinsichtlich Schienenlänge eine Ausnahme unter den Privatbahnen dar, deren Sektor strukturell von Kleinunternehmen geprägt war. 75 Beide elektrifizierten ihre Linien vor den SBB - die BLS fuhr seit Betriebsbeginn 1913 ausschliesslich mit Strom, die RhB elektrifizierte ihr Netz ab 1913 76 - und beide wandten von Anfang an den einphasigen Wechselstrom an, den die Studienkommission 1912 nach langem Ringen empfohlen hatte. Die Betriebsaufnahme der BLS mit Einphasen-Wechselstrom im Juni 1913 zeigte, dass die Vollbahntraktion nicht nur theoretisch gelöst war, wie dies die Arbeiten der Studienkommission suggerierten, sondern auch den Praxistest erfolgreich bestand. Ihre Anwendung in der Fläche, namentlich auf dem SBB-Netz, stand allerdings noch aus. Auch die jährlichen Einsparungen der BLS betrugen dank des elektrischen Antriebs nur gut 2 Prozent der jährlichen Betriebskosten. 77 Wieso also setzte die BLS von Beginn an auf Strom als Antriebsenergie? Die elektrische BLS basierte auf dem Zusammentreffen von verschiedenen Faktoren. Im Februar 1902 initiierte und gründete die Regierung des Kantons Bern ein «Bernisches Initiativkomitee für die Lötschbergbahn», das an ihrer Stelle die Lobbyarbeit, die Geldbeschaffung und die organisatorischen Aufgaben übernahm. Der leitende Ausschuss dieses Komitees setzte sich entsprechend der Präferenzen und der Zusammensetzung der Kantonsregierung vorwiegend aus Freisinnigen zusammen, der stärksten Partei im Kanton Bern um die Jahrhundertwende. Seine erste erfolgreiche Tätigkeit bestand im Lobbyieren für das dritte Eisenbahnsubventionsdekret, das der Lötschbergbahn eine namhafte finanzielle Anstossfinanzierung versprach und von einer überwältigenden Mehrheit der Stimmberechtigten im Kanton Bern angenommen wurde. Dem Prestigeprojekt des Freisinns drohte jedoch von internationaler Seite das Aus, als 1904 drei internationale Experten ihr Konkurrenzprojekt, das 74 Sofern nicht anders vermerkt, basieren die beiden folgenden Unterkapitel vollständig auf Amacher 2007: 77-150. 75 Steinmann 2010: 54. 76 Wägli 1998: 65-75. 77 Amacher 2006: 97. 1 6 6 A N N A A M A c H e r H O P P L e r Wildstrubelprojekt, empfahlen, das die aufstrebenden Sozialdemokraten unterstützten. Um seine Glaubwürdigkeit zu retten und angesichts massiver Interessensvertretung aus dem Kandertal durch den radikalen Grossrat Gottlieb Arnold Bühler, sah sich der leitende Ausschuss des Initiativkomitees gezwungen, ein überzeugendes Argument zugunsten des Lötschbergs zu finden. Der in Argumentationsnotstand gekommene Freisinn trat deshalb die Flucht nach vorne an und setzte auf die einzige, aber unsichere Karte des elektrischen Betriebs. Wenn dieser tatsächlich - wie aufgrund einiger, aber nicht vergleichbarer Erfahrungen am Gotthard oder von der Burgdorf-Thun-Bahn zu vermuten war - tiefere Betriebskosten als der damals übliche Dampf betrieb aufweisen sollte, war der Lötschberg dem Wildstrubel gegenüber mehr als legitimiert. Einige Mitglieder des leitenden Ausschusses hatten bereits Erfahrungen mit elektrischem Bahnbetrieb gesammelt, wenn auch nicht unter Bedingungen, wie sie eine Bahn durch den Lötschberg zu bewältigen haben würde. Diese Herausforderung beziehungsweise ein solches Investitionsobjekt für Risikokapital suchte jedoch ein französisch-schweizerisches Bauunternehmungs- und Bankenkonsortium, das, nachdem es sich am Bau des Suezkanals beteiligt hatte, 1904 einen Ersatz für sein unterlassenes Engagement am Panamakanal (Bauzeit 1904-1914) suchte. Aufgrund seiner Vorstudien schlug das Konsortium den Lötschberg à 27 Promille Maximalsteigung mit elektrischem Betrieb vor, was der Grosse Rat des Kantons Bern am 27. Juni 1906 annahm. Damit war der Weg frei für die Gründung der Berner Alpenbahngesellschaft Bern-Lötschberg-Simplon einen Monat später, in die das Initiativkomitee überging, und mit der das Konsortium, ab 1906 als Generalunternehmung bezeichnet, sogleich den Bauvertrag abschloss. 6.5.2 Wechselstatt Drehstrom am Lötschberg Der Entscheid zum elektrischen Betrieb spielte der jungen kantonalen Elektrizitätsunternehmung in die Hand: Ihr kam in ihrer Anfangszeit eine Grosskundin ausgesprochen gelegen, weil diese einen sicheren Absatz garantierte. So tätigte die VKHW/ BKW Investitionen, um ihren Drehin den von der Bahn gewünschten Wechselstrom umzuformen. Denn die BLS hatte sich 1908 auf Anraten ihres Elektrifizierungsveranwortlichen, Ludwig Thormann, erneut für ein Wagnis entschieden: Die Lötschberg- D I e e L e K T r I f I Z I e r u N g D e r e I S e N B A H N e N 1 6 7 bahn sollte mit dem umstrittenen und relativ unerprobten Einphasen- Wechselstromsystem betrieben werden, weil es technisch und energetisch am ökonomischsten war und es im Vergleich mit Gleich- und Drehstrom die tiefsten Energiekosten aufwies. Dies schloss Thormann aus seinen theoretischen Arbeiten, die er für die Studienkommission zwischen 1904 und 1907 verfasst hatte. Obwohl diese den Systemstreit (Gleichvs. Drehvs. Wechselstrom) noch heftig führte und das Einphasen-Wechselstromsystem erst 1912 offiziell empfahl, war sich Thormann seiner Erkenntnis bereits 1908 genug sicher, um die BLS darüber entscheiden zu lassen - auch wenn bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Lokomotivmotoren, welche die 27 Promille steile Strecke zu bewältigen vermochten, konstruiert worden waren! Dass dies möglich werden würde, hatte der BLS gegenüber besonders die MFO angetönt, deren Direktor, Emil Huber-Stockar, persönliche und berufliche Kontakte mit Thormann pflegte. Auf Drängen der BLS entwickelte die MFO die damals stärkste Lokomotive der Welt, wobei betont werden muss, dass die MFO nicht nur seitens der BLS unter Innovationsdruck stand, sondern sich auch in einer Konkurrenzsituation mit der BBC befand, die bereits den von den SBB betriebenen Simplon elektrifiziert hatte. Die BBC vermochte vorderhand die SBB von dem von ihr propagierten Drehstrom zu überzeugen. Nicht zuletzt deshalb liessen die SBB die von der MFO betriebene Versuchsstrecke Seebach-Wettingen, auf der die MFO mit Einphasen-Wechselstrom experimentierte, abbrechen. Dieser Rückschlag entpuppte sich für die MFO 1910 allerdings als Glücksfall, als die BLS die elektrischen Anlagen der obgenannten Versuchsstrecke zwischen Spiez und Frutigen installierte, um selbst Erfahrungswerte sammeln zu können. Für den Erfolg der elektrischen BLS spielte diese eine wichtige Rolle, weil die Bahnangestellten darauf den Umgang mit dem elektrischen Betrieb lernten. Die SBB und die BLS zogen aus ihren jeweiligen Versuchsstrecken, die de facto aus denselben technischen Anlagen bestanden, allerdings unterschiedliche Schlüsse. Im Gegensatz zu den SBB erkannte die BLS das wirtschaftliche und technische Potenzial leistungsstarker elektrischer Traktion mittels Einphasen- Wechselstrom früher, wobei ihren realen Erfolg die unter Innovationsdruck stehende MFO ermöglichte. Schneller als der Bund sicherte sich somit der Kanton Bern für die Entwicklung seines Bahnnetzes eine technische und gleichzeitig wirtschaftliche Lösung, welche die SBB erst ein knappes Jahrzehnt später applizierte. 1 6 8 A N N A A M A c H e r H O P P L e r 6.6 Fazit Am Vorabend des Ersten Weltkrieges stellte der elektrische Bahnbetrieb kein technisches Problem mehr dar. Während Bahnen erfolgreich mit Drehstrom durch den Simplontunnel fuhren, betrieb die BLS ihre gesamte Strecke mit Einphasen-Wechselstrom. Trotzdem verkehrten zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz noch etliche Bahnen mit Dampfantrieb, auch weite Strecken des SBB-Netzes wurden noch von Dampf bahnen befahren. Das Ansteigen des Kohlepreises im Ersten Weltkrieg verteuerte die Kohle als Antriebsmittel allerdings dermassen, dass diese Dampfbahnen so schnell wie möglich elektrifiziert werden mussten, das heisst mit Wasserkraft angetrieben werden sollten. Der Krieg wirkte dabei wie ein Katalysator: Mit der Elektrifizierung der schweizerischen Bahnen sollte nicht nur der Abhängigkeit von ausländischer Kohle Einhalt geboten, sondern auch die wirtschaftliche Belastung der Bahnunternehmen reduziert werden. Denn mit Wasser reich gesegnet, war die Schweiz plötzlich reich an eigener Energie, was sich auch in der Gesetzgebung niederschlug: 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, stellte die Schweiz die Nutzung der landeseigenen Gewässer mit dem Bundesgesetz über die Nutzbarmachung der Wasserkräfte unter die Oberaufsicht des Bundes. Die Nationalisierung der Wasserkräfte stand im Zeichen des herrschenden Nationalismus und versprach eine rationelle Nutzung, die der öffentlichen Wohlfahrt, dem Gemeinwohl und somit den Interessen des Landes dienen sollte. Ebenso im Dienste der Schweizer Bevölkerung stand die Elektrifizierung der SBB, wie sie 1918 an die Hand genommen wurde. Sie diente nicht nur der Modernisierung der SBB, sondern wurde auch zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Auftragssicherung für die schweizerische Maschinenindustrie eingesetzt. Dass sich die SBB dabei massiv verschuldeten, nahm die Schweizer Öffentlichkeit angesichts der ausgebliebenen Transportkrise während des Zweiten Weltkrieges später billigend in Kauf. Die elektrifizierte SBB stieg, nationalistisch überhöht, zu einem Symbol für die energetische Unabhängigkeit vom Ausland auf. Im Gegensatz zu einigen Privatbahnen elektrifizierten die SBB allerdings erst spät und nur auf äussersten wirtschaftlichen Druck hin ihr Netz. Die Elektrifizierung der schweizerischen Bahnen einzig als Resultat von Krieg und Krise zu interpretieren, greift aber zu kurz; es bedurfte auch der wirtschaftlichen Not der Nachkriegsjahre, um ihre Umsetzung D I e e L e K T r I f I Z I e r u N g D e r e I S e N B A H N e N 1 6 9 in der Fläche voranzutreiben. Die katalytische Funktion des Ersten Krieges führte jedoch dazu, dass bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges knapp vier Fünftel des Schweizer Schienennetzes elektrifiziert waren.