Paradigmatische Fälle  

Bilder um ihrer selbst willen. Siegfried KracauersGrossaufnahmen

Paradigmatische Fälle - Konstruktion, Narration und Verallgemeinerung von Fall-Wissen in den Geistes- und SozialwissenschaftenBilder um ihrer selbst willen. Siegfried KracauersGrossaufnahmen10.24894/978-3-7965-4238-1 Ruben Hackler, Katherina KinzelBilder um ihrer selbst willen. Siegfried Kracauers Grossaufnahmen Stephanie Baumann Einen «Feind des Allgemeinen» 1 nennt Siegfried Kracauer seinen akademischen Lehrer Georg Simmel in einer frühen Abhandlung, die er unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg im Jahr 1919 verfasst und in der er sich erstmalig Fragestellungen widmet, die er in dem unvollendet gebliebenen Spätwerk History - The Last Things Before the Last (1969) 2 in einem anderen Kontext wieder aufgreifen wird: die Frage nach den Beziehungen zwischen «Totale» und Fragment in der Geschichtsschreibung. Es handelt sich bei History, Geschichte - Vor den letzten Dingen, so der deutsche Titel, um ein Werk, das posthum in den USA in englischer Sprache erschien und das, wie Jacques Revel in dem Vorwort zur französischen Übersetzung schreibt, unter Historikern eine Zeit lang als eine Art «Geheimtipp» gehandelt wurde. 3 Siegfried Kracauer setzt sich hier in acht, zum Teil Fragment gebliebenen Kapiteln mit Geschichte, Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie auseinander, wobei er seine medientheoretischen Reflexionen, die er in Theory of Film (1960) 4 ausarbeitet, auf die historiographische Theoriebildung überträgt, um seine «Philosophie des Vorläufigen» 5 zu entwickeln. Kracauers Meditationen über Geschichte wurden nicht nur von französischsprachigen, sondern auch von deutschsprachigen Historikern rezipiert. Dies zeigt etwa die lokalgeschichtliche, mikrohistorische Arbeit von Hans Medick, der sich in Weben und Überleben in Laichingen (1996) auf Kracauer beruft, wenn er Max Webers berühmte These über den Zusammenhang zwischen protestantischer Ethik und kapitalistischem Geist für eine kleine Region auf der schwäbischen Alb zu differenzie- 1 Siegfried Kracauer, Georg Simmel. Ein Beitrag zur Deutung des geistigen Lebens unserer Zeit [1919], in: Kracauer, Frühe Schriften aus dem Nachlass, Werke Bd. 9.2., Frankfurt a.M. 2004, S. 139-279, hier S. 225. 2 Siegfried Kracauer, History - The Last Things before the Last, mit einem Vorwort von Paul Oskar Kristeller, New York 1969. Zitiert wird aus der deutschen Werkausgabe Siegfried Kracauer, Geschichte - Vor den letzten Dingen, Werke Bd. 4, Frankfurt a.M. 2009. 3 Jacques Revel, Siegfried Kracauer et le monde d’en-bas, in: Siegfried Kracauer, L’Histoire. Des avant-dernières choses, Paris 2006, S. 7-42, hier S. 8f. 4 Siegfried Kracauer, Theory of Film. The Redemption of Physical Reality, New York, Oxford 1960. Zitiert wird aus der von Kracauer autorisierten deutschen Übersetzung: Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Werke Bd. 3, Frankfurt a.M. 2005. 5 Deutsches Literaturarchiv Marbach (künftig zitiert als DLM), 75.2535/ 5, Kracauer-Nachlass, Siegfried Kracauer, Vorarbeiten, Entwürfe, Materialien. Ich danke dem Suhrkamp-Verlag für die Zitiergenehmigung aus dem Kracauer-Nachlass. Ruben Hackler danke ich für seine kritische Lektüre. 28 Stephanie Baumann ren sucht. 6 Auch Carlo Ginzburg nennt Kracauer in seiner Ahnengalerie der italienischen microstoria, wenngleich er dessen Werk erst für sich entdeckte, als die microstoria den Kinderschuhen bereits entwachsen war. Nichtsdestoweniger betrachtet er Kracauer als eine Art Vordenker, finden sich doch bei diesem bereits einige von Ginzburgs späteren Überzeugungen und Referenzen. 7 In den Entwürfen zu Geschichte, die im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt werden, stellt Kracauer unter dem Stichwort «Our present» einen Zusammenhang zwischen der kulturellen Situation seiner Zeit und einer Abneigung gegen Synthesen und grosse Erzählungen her, die das geistige Klima der Weimarer Republik prägte, aber auch heute noch aktuell ist: «Even though it does not look this way, our very mastery of nature, our ubiquity, our ability to witness immediately what we experience, etc. may increase our aversion to systems and syntheses and make us concentrate on micro-analysis.» 8 Kracauers Gedanken über die Historiographie gehen aus Überlegungen zur Moderne hervor, die seiner Auffassung nach unter einem zu hohen Mass an Abstraktion und unter einem gebrochenen «Wirklichkeitsbezug» leidet. Eine kritische Geschichtsschreibung, die sich mit den «vorletzten Dingen» (anstatt mit den «letzten» Dingen der Philosophie und Theologie) befasst, soll dazu beitragen, neue Zugänge zu der von Kracauer anvisierten Wirklichkeit herzustellen. Er analysiert diesen geistig-kulturellen Moment in Soziologie als Wissenschaft (1922) als eine Konsequenz des Säkularisierungsprozesses, der sich in einem Stadium befände, in welchem die Erinnerung an ein religiös geprägtes und damit sinndurchdrungenes Universum noch präsent sei. Davon zeugten ungestillte Sinnbedürfnisse, wie sie etwa in der alten Streitfrage nach dem «Sinn der Geschichte» zum Ausdruck gebracht würden - so deutet Kracauer evolutionäre Geschichtskonzepte, universalgeschichtliche Analysen und das zeitgenössische Fortschrittsdenken. 9 Diesen Kontext gilt es zu bedenken, wenn man nach Kracauers Beitrag zur Diskussion über das Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem fragt, die in der aktuellen Debatte über Fallstudien erneut aufgeworfen wird. Auch wenn sich Kracauer in einem zu Lebzeiten nie veröffentlichten Diskussionspapier für die 6 Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte, Göttingen 1996, hier zu Kracauer S. 30-33. 7 Carlo Ginzburg, Mikro-Historie. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, in: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 169-192, hier S. 186. Ders., Détails, gros plan, microanalyse, in: Philippe Despoix, Peter Schöttler (Hg.), Siegfried Kracauer, penseur de l’histoire, Paris 2006, S. 45-64. 8 DLM, 75.2535/ 1, Kracauer-Nachlass, Siegfried Kracauer, Guide to History. Vgl. Dirk Oschmann, Kracauers Herausforderung der Phänomenologie. Vom Essay zur ‘Arbeit im Material’, in: Wolfgang Braungart, Kai Kauffmann (Hg.), Essayismus um 1900, Heidelberg 2006, S. 193-211, hier S. 204. 9 Kracauer, Soziologie als Wissenschaft; Der Detektiv-Roman; Die Angestellten, Werke Bd. 1, Inka Mülder-Bach unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel (Hg.), Frankfurt a.M. 2006, S. 12f. Vgl. ders., Geschichte, S. 43f. 29 Bilder um ihrer selbst willen Mitglieder des Bureau of Applied Social Research mit Fallstudien befasst, 10 spricht er in Geschichte nicht von «Fallstudien» oder «Fallgeschichten», sondern von «Grossaufnahmen», die eine ganz eigene Form der Erzählung darstellen. Eine Brücke findet sich bei Joachim Jakob, der Fallstudien «als eine Form der ‘Großaufnahme’» bezeichnet. 11 Um zu erläutern, wie Kracauer die Beziehung zwischen Teil und Ganzem fasst, werde ich zunächst auf den medientheoretischen Aspekt seiner Theoriebildung eingehen, der ihm zufolge ein Moment der Verfremdung in die geschichtstheoretische Debatte einbringen soll. Anschliessend werde ich seine Kritik an der sogenannten Allgemeingeschichte und seine Sicht auf das Verhältnis von Makro- und Mikrohistorie darstellen. Fragen der Ästhetik und der historischen Darstellung kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. 12 Obgleich Kracauer die Veröffentlichung von Hayden Whites Metahistory nicht mehr erlebte, rezipierte er doch einen seiner frühen Aufsätze, dem er in manchen Aspekten zustimmt. White spielt eine wichtige Rolle in der Debatte um die historiographische Darstellbarkeit der Shoah. Diese Problematik ist bereits in Kracauers Geschichte wie auch in seiner Filmtheorie an manchen Stellen präsent. 13 So liegt es nahe, mit einigen Bemerkungen zu Saul Friedländers integrierten Geschichte der Shoah abzuschliessen, die als eine Umsetzung dessen erscheint, was Kracauer als Modell einer modernen Geschichtsschreibung vorschwebt, die mit Grossaufnahmen «um ihrer selbst willen» arbeitet. 14 Zu fragen ist dabei, inwiefern Friedländers Werk nicht auch selbst den Status eines «paradigmatischen Falles» innerhalb der Shoah-Geschichtsschreibung für sich beanspruchen kann. Mit der Kamera durch den Fluss des Lebens Kracauers Reflexionen über das Verhältnis vom Besonderen und Allgemeinen liegt zweierlei zugrunde: zum einen eine bestimmte Vorstellung von der Beschaffenheit des «historischen Universums», zum anderen die Idee von einer spezifischen Art des Historikers, sich in diesem Universum, das Kracauer auch als «Kamera-Reali- 10 Siegfried Kracauer, Zum Verhältnis von Analyse und Situationsfaktoren in Fallstudien, in: Ders., Studien zu Massenmedien und Propaganda, Werke Bd. 2.2., Berlin 2012, S. 572-594. Er kritisiert hier eine Reihe von Studien, die am Bureau of Applied Social Research durchgeführt wurden und bemängelt an manchen eine unzureichende Berücksichtigung sozialer Situationsfaktoren gegenüber psychologischen Komponenten. Ebd. bes. S. 588-591. 11 Joachim Jakob, Das Besondere des Falles. Zur ästhetischen Vorgeschichte der Fallstudie im 18. Jahrhundert, in: Johannes Süßmann, Susanne Scholz, Gisela Engel (Hg.), Fallstudien: Theorie - Geschichte - Methode, Berlin 2007, S. 251-264, hier S. 252. 12 Vgl. Jakob, Das Besondere des Falles, S. 253. 13 Vgl. dazu Stephanie Baumann, Im Vorraum der Geschichte. Siegfried Kracauers «History - The Last Things before the Last», Paderborn 2014, S. 235-243. 14 Vgl. Kracauer, Theorie des Films, S. 93. 30 Stephanie Baumann tät» bezeichnet, zu bewegen. 15 Diese hat mit der Realität, welche Filmemacher zur Anschauung bringen, erstaunlich viel gemein. Kracauer behauptet in Geschichte grundlegende Ähnlichkeiten zwischen den filmischen Medien und der Historiographie, eine Analogie, deren Angemessenheit mehrfach in Frage gestellt wurde. 16 Das «historische Universum» setzt sich, so Kracauer, aus Resten der Vergangenheit zusammen, welche die sogenannte «Grundschicht» der historischen Wirklichkeit bilden. Ein häufiges filmisches Motiv dieser Grundschicht, welche nicht mit Begriffen, sondern mit allen Sinnen erfasst wird, ist für Kracauer das immerzu bewegte «Geriesel» auf den Strassen der modernen Grossstädte. 17 Zufälligkeit, Endlosigkeit und Bedeutungsoffenheit kennzeichnen diese Wirklichkeit; das historische Universum setzt sich aus einem aus «Fasern» gewirkten Material zusammen, in dem sich, wenn nicht Gesetze, so doch «Muster» oder «Sequenzen» ausmachen lassen. Ist es unfertig, heterogen und von Zufälligkeiten geprägt, entbehrt es doch keinesfalls jeglicher Struktur, weshalb Kracauer es auch als «halbgar» bezeichnet. 18 In Theorie des Films gebraucht er die Metapher des «Flusses des Lebens», die einerseits auf die Offenheit der Bilder verweist (sie führen wie ein Strom mehr Bedeutungen mit sich, als sie «faktisch abbilden»), andererseits auf den Bezug zu einem Leben, «das noch, wie durch eine Nabelschnur, aufs engste mit den materiellen Phänomenen verbunden ist, aus denen seine emotionalen und intellektuellen Gehalte hervorgehen.» 19 Die Aufgabe des Historikers besteht darin, die Vergangenheit anhand des Materials aus dem Dunkel hervorzuholen, aus der «trüben Masse der Fakten» Relevantes zu bergen und das Geborgene mittels Erzählung verständlich zu machen. 20 Dazu muss er sich in einen Zustand «aktiver Passivität» versetzen, zwischen Rezeptivität und Spontaneität hin und her changieren, einmal aufzeichnen, ein anderes Mal enthüllen - genau wie die Kamera des Filmemachers. 21 Kracauer richtet 15 Dieses Konzept taucht erstmalig auf in Siegfried Kracauer, Warum die Franzosen unsere Filme mochten, in: ders., Kleine Schriften zum Film, Werke Bd. 6.3, S. 344-355, hier S. 347. [«New Movies», Mai 1942]. 16 Auf diese Ähnlichkeit verweist Kracauer nicht erst in Geschichte, sondern bereits 1927 in einem Aufsatz zur Fotografie. Siegfried Kracauer, Die Photographie, in: ders., Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 1977, S. 21-39. Vgl. auch Herta Wolf, Positivismus, Historismus, Fotografie. Zu verschiedenen Aspekten der Gleichsetzung on Geschichte und Fotografie, in: Fotogeschichte, Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 63 (1997), S. 31-44; Amália Kerekes Robnik, Katalin Teller (Hg.), Film als Loch in der Wand. Kino und Geschichte bei Siegfried Kracauer, Wien, Berlin 2013. 17 Umgekehrt vergleicht Kracauer die «leere Straße» im Film mit der «Pause in der Musik». Siegfried Kracauer, Marseiller Entwurf, in: ders., Theorie des Films, S. 521-779, hier S. 595 und S. 597. 18 Kracauer, Geschichte, S. 55f. 19 Kracauer, Theorie des Films, S. 129f. 20 Kracauer, Geschichte, S. 56f. 21 Kracauer, Geschichte, S. 57 und S. 60. Der Zustand der «aktiven Passivität» wird begleitet von einer Art mentalen «Heimatlosigkeit», die es dem Historiker ermöglicht, die (vergangene) Welt, welche die Quellen aufruft, «von innen her verstehen zu lernen». Ebd., S. 96. 31 Bilder um ihrer selbst willen sich sowohl gegen einen radikalen Konstruktivismus als auch gegen einen naiven Realismus, der in der Fotografie-Theorie, wie er schreibt, schon seit langem überholt sei, denn kein Fotograf sei je umhin gekommen, mit den vielen technischen Möglichkeiten sein Bild zu gestalten. 22 Dies gilt laut Kracauer im Bereich der Historiographie sogar für Rankes historische Darstellungen und seinen Anspruch auf angeblich interesselose Objektivität. 23 Er formuliert dazu eine Art normative Gleichung, das sogenannte «ästhetische Grundprinzip», 24 wonach im Film wie in der Geschichtsschreibung bei der Erfassung der jeweils gegebenen Universen der formgebende Anteil des Autors kleiner oder maximal gleich dem «realistischen» Anteil sein müsse, wollten die Filmemacher beziehungsweise Historiker den Eigentümlichkeiten ihrer Genres gerecht werden. 25 Diese «realistische» Neigung bestünde in dem Verlangen, möglichst alle relevanten Daten zu erfassen, wohingegen die formgebende Tendenz nach der Erklärung selbiger Daten strebt. Hier geht es um Nuancen: Der Historiker solle dem vorgefundenen Material mit Behutsamkeit entgegentreten und nicht mit einer «Angriffslust», welche dazu tendiere, «die Vergangenheit zurück in die Vergangenheit zu scheuchen». 26 Die Geschichtsschreibung, so positioniert er sich in der Debatte um die Wissenschaftlichkeit der Historie, sei eine hybride Form der Wissenschaft, die auf schöpferische Elemente nicht verzichten könne. Allerdings ähnelte der Historiker in seinen Augen weniger einem «ausdruckvollen Künstler», als einem «phantasiebegabten Leser». 27 Die Sehnsucht nach Synthese Kracauer siedelt Geschichtsdarstellungen hinsichtlich ihres Grades an Allgemeinheit zwischen zwei Polen an: zwischen der Universalhistorie und einem atomgleichen Element der Geschichte. In seiner fotografischen Metaphorik spricht er von «Luftaufnahmen», welche das Geschehen «aus extremer Höhe betrachten», 28 sowie von «Großaufnahmen» 29 (sogenannten close-ups), welche einzelne Details in den Blick nehmen und vergrössern. Die Unterscheidung in eine Mikro- und Makro-Ebene nimmt Kracauer allerdings lediglich zur Vereinfachung des Sach- 22 Kracauer, Geschichte, S. 62. Vgl. dazu auch Dorothee Kimmich, Begrenzen ohne zu definieren. Kracauers Ästhetik der Aufmerksamkeit als ‘praktische Phänomenologie’, in: Frank Grunert, Dorothee Kimmich (Hg.), Denken durch die Dinge. Siegfried Kracauer im Kontext, München 2009, S. 85-100, hier S. 86. 23 Kracauer, Geschichte, S. 63. 24 Kracauer, Geschichte, S. 65. 25 Bereits in der Filmgeschichte macht Kracauer eine realistische (Louis Lumière) und eine formgebende Tendenz (Georges Méliès) aus. Vgl. Kracauer, Theorie des Films, S. 74-78. 26 Kracauer, Geschichte, S. 58 und S. 80. 27 Kracauer, Geschichte, S. 66. 28 Kracauer, Geschichte, S. 51. 29 Kracauer, Geschichte, S. 118. 32 Stephanie Baumann verhalts vor. Tatsächlich sind die Grenzen zwischen beiden Extremen fliessend, es existieren zahlreiche Zwischenstufen, wobei unterschiedliche Abstände der Betrachtung (wie etwa in Fernand Braudels La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II (1949), ein Werk, das Kracauer erstaunlicherweise nicht erwähnt) bestimmte «Gebiete» des historischen Universums abdecken und auf einen jeweils ähnlichen Gegenstandsbereich abzielen. 30 Auffällig ist, dass sich Kracauer, der in jungen Jahren ein Architekturstudium absolvierte, die historische Wirklichkeit räumlich vorstellt. Im fünften Kapitel von Geschichte über die Struktur des historischen Universums untersucht er dementsprechend die Prinzipien, welche die Bewegung innerhalb des materialen Raums organisieren. Sie werden von dem Gesetz der «Ebenen» (law of levels) sowie von dem Gesetz der «Perspektive» (law of perspective) regiert, die es Kracauer erlauben, die Frage nach der Standortgebundenheit des Historikers in das Bild der (photographischen) Tiefenschärfe zu wenden. Zunächst zu den sogenannten Luftaufnahmen. Im «Marseiller Entwurf» der Filmtheorie benutzt Kracauer auch den Begriff der Perspektive der «Totalen». 31 Es handelt sich um eine Perspektive, welche die Gesamtheit eines Bildes zur Anschauung zu bringen sucht. Es ist die Perspektive der Allgemeingeschichte. Wie Kracauer betont, vermag gerade der Film die materiale Welt aus «jeder Distanz und jeder Einstellung» aufzunehmen, es herrscht eine «Vielheit der Perspektiven» und Bedeutungen vor. 32 Während der Filmzuschauer durch die bewegten Filmbilder mit immer neuen Blickwinkeln konfrontiert wird, präsentiert sich das statische, an den Bühnenraum gebundene Theaterbild stets in der Totalen. 33 Kunstformen wie der Film oder das Theater vermitteln nach Kracauers Lesart aufgrund ihres Umgangs mit Perspektivität ideologische Stellungnahmen. Aufgrund der erwähnten statischen Natur des Theaterbildes etwa bewegt sich die theaterhafte Handlung (ebenso wie jene des theatralischen Filmes) hinsichtlich der von ihr vermittelten Bedeutung in der sogenannten intentionalen Dimension. Das heisst, dass ihr Sinn kein offener, sondern ein geschlossener ist - ein Vorwurf, den Kracauer auch gegenüber Allgemeingeschichte und mehr noch gegenüber Universalgeschichten erhebt, auf die er seine Überlegungen zu den ideologischen Implikationen der Kunstformen überträgt. Als Beispiele hebt er besonders zwei Autoren hervor: Oswald Spengler und Arnold Toynbee, die er aus unterschiedlichen Gründen ablehnt. 30 «Histories of the same magnitude show common traits [...]. They form a ‘class’ [...] are at the same level. Histories of the same class aspire to the same scope of intelligibility.» DLM, 72.3535/ 5, Kracauer-Nachlass, Kracauer, Konvolut Vorarbeiten, Entwürfe, Materialien, First Draft CH. 5 June 12-22, 1966. 31 Zu den unterschiedlichen Phasen der abstrahierenden Landschaftsfotografie vgl. Angelika Beckmann, Abstraktion von oben. Die Geometrisierung der Landschaft im Luftbild, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 45/ 46 (1992), S. 105-115, hier S. 105-111. 32 Kracauer, Marseiller Entwurf, S. 569. 33 Kracauer, Marseiller Entwurf, S. 567. 33 Bilder um ihrer selbst willen So ist es zuallererst Spenglers organologisches Geschichtsbild, die These von einem pflanzenhaften Wachstum der Kulturen, einem «Blühen» und «Welken» der Völker in Untergang des Abendlandes (1918/ 1922), die er verurteilt, seine Vorstellung von Geschichte als einer statischen Natur. Er kritisiert Spenglers Determinismus, der «die menschliche Freiheit» nicht nur «von Anfang an zunichte macht, sondern auch unerbittlich den Traum von dieser Freiheit erstickt». 34 Kracauer hatte Spenglers Werk und die in Fachkreisen geführte Diskussion in der Weimarer Republik als Journalist in mehreren Rezensionen kommentiert. 35 In einem Text aus dem Jahr 1923 mit dem Titel Untergang? spricht er allgemein von den «historischen Alleswissern», die Geschichte «aus der Vogelschau» betrachten, um dann «aus dem Kaffeesatz der Geschichte» zu orakeln: «Mit ausgezogenen Fernrohren stehen sie umher, errechnen den Zug des Geschehens und treffen geographische, politische und kulturelle Dispositionen auf lange Sicht.» 36 Damit leisteten sie wirklichkeitsfremden Ideologien Vorschub, den «theoretischen Unheilsverkündern» wie den «Erneuerungssüchtigen», die ihre leeren und abstrakten «Auferstehungsorgien» feierten. 37 Der Vorläufer der sogenannten Weltgeschichte, Arnold Toynbee, der in Geschichte noch stärker präsent ist als Spengler, erscheint Kracauer als ein typischer Vertreter moderner Ambivalenz: Trotz seines Glaubens an die Wissenschaft sei A Study of History (1934-61, 1972) von religiösen Sehnsüchten durchzogen und Toynbees Empirismus das Resultat einer Selbsttäuschung. Toynbee, der Spenglers Organizismus durch ein kausalgenetisches Erklärungsmodell ersetzt, übertrage lediglich ein Zerfallsmodell, das er für die griechisch-römische Zivilisation erarbeitet habe, auf alle anderen Zivilisationen. 38 So sieht Kracauer in Toynbee einen typischen Repräsentanten jener geistigen Situation, von der einleitend die Rede war: nämlich die einer säkularisierten Welt, in der die religiösen Glaubensinhalte noch als Erinnerungen präsent sind und dadurch uneingelöste Sinnbedürfnisse wecken. Mit Allgemeingeschichte (Kracauer nennt als Beispiel etwa Henri Pirennes History of Europe 1955) verhält es sich ein wenig anders. 39 Obwohl sie sich der Theorie nach auf Zeiträume von unterschiedlicher Grösse richten kann, bewegt sich tatsächlich zumeist auf der Makro-Ebene des historischen Geschehens. Laut Kracauer sucht dieses Genre alle Bereiche des historischen Universums (Politik, 34 Kracauer, Geschichte, S. 48f. 35 Vgl. Kracauer, Spengleriana, in: ders., Essays, Feuilletons, Rezensionen 1906-1923, Werke Bd. 5.1., S. 325-328 [FZ, 7.12.1921]; Kracauer, Untergang? , in: Ebd., S. 704-708 [FZ, 9.10.1923]. 36 Kracauer, Untergang? , S. 704f. 37 Kracauer, Untergang? , S. 707f. 38 Kracauer, Geschichte, S. 49. 39 Henri Pirenne, A History of Europe: From the Invasion to the XVI Century, New York 1955. Vgl. dazu Kracauer, Geschichte, S. 185 und 197. 34 Stephanie Baumann Wirtschaft, Kunst usw.) in einer einzigen Erzählung zu umfassen, weshalb Allgemeinhistoriker dazu tendierten, Widersprüche oder «Risse, Verluste, Fehlstarts» 40 im Geschichtsverlauf zugunsten der Vermittlung einer allgemeinen Idee zu glätten: «General histories want to follow all trains that arrive or depart at once. But this is not possible», schreibt Kracauer in den Vorarbeiten. 41 Die notwendigen inhaltlichen Glättungen würden noch dazu, so Kracauer polemisierend, durch manipulative Mittel der Rhetorik verschleiert. Sie zielten im Wesentlichen darauf ab, einen homogenen und kontinuierlichen Zeitfluss zu suggerieren. Dieser rhetorisch-erzählerischen Dimension ist das Kapitel «Allgemeingeschichte und ästhetischer Ansatz» gewidmet, das Kracauer 1966 in Lindau auf einer Tagung der Forschungsgruppe Poetik & Hermeneutik über «Grenzphänomene des Ästhetischen» vorlegt, zu der er über die Vermittlung von Jacob Taubes von Hans-Robert Jauss eingeladen wurde. Für Jauss Schrift über Marcel Proust interessierte sich Kracauer wegen der für ihn zentralen Frage der historischen Zeit, auf die unten noch eingegangen wird. 42 In der Sektion, in der er auf der Tagung sprach, ging es um die Frage nach den Methoden der historischen Konsistenzbildung, welche für die Allgemeingeschichte besonders bedeutsam ist. Während sich bei Herodot, so Christian Meier in seinem Beitrag, die Frage nach den ästhetischen Mitteln der Konsistenzbildung noch überhaupt nicht stellt, da hier der Sinn der Geschichte noch ganz im göttlichen Ratschluss verankert ist, wird bis ins 18. Jahrhundert Fortuna zur Erklärung des Unwahrscheinlichen herangezogen. Reinhard Koselleck skizziert in seinem Vortrag eine weitere Entwicklung, die bis zur historischen Schule des 19. Jahrhunderts reicht: Der Einfluss Fortunas wurde zunehmend in kausale Ursachen aufgelöst. Für das 20. Jahrhundert führt Kracauer zuletzt seine These aus, wonach Allgemeingeschichte aus theoretischen Gründen unmöglich wird. Der Geschichtsprozess, so Kracauer in Anlehnung an Webers Entzauberungsthese, entbehrt nun jeglicher bisher gültiger theologisch-philosophischer Fundierungen. Will der Allgemeinhistoriker die verschiedenen historischen Räume dennoch zu einem sinnvollen Bündel fassen, ergibt sich auf der Ebene der Darstellung ein Problem, denn er hat mit den jeweils eigentümlichen Zeitplänen dieser Räume zu kämpfen: «Günstige Winde mögen eine relativ ruhige Fahrt zulassen, wenn er fortfährt, den 40 Kracauer, Geschichte, S. 186. 41 DLM, 72.3525/ 1, Kracauer-Nachlass, Kracauer, Guide to history, S. 3. Eine solche Intention könnte der Nachweis von Ideen wie der des Fortschritts sein. Vgl. Kracauer, Geschichte, S. 186. 42 Hans Robert Jauss, Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts ‘A la recherche du temps perdu’, Ein Beitrag zur Theorie des Romans, Heidelberg 1955. War ihm Jauss’ einstige Mitgliedschaft bei der Waffen-SS nicht bekannt, merkte Kracauer in seinen Notizen zu einem Kolloquium doch an, die Atmosphäre innerhalb der Gruppe, der er eine Tendenz zum Eskapismus attestiert, habe in ihm klaustrophobische Gefühle ausgelöst. DLM, 72.3718/ 71, Kracauer, Konvolut Kolloquium Ebd., S. 704f. Nachahmung und Illusion. 35 Bilder um ihrer selbst willen allgemeinen Lauf der Dinge wiederzugeben und zu erklären. Andererseits wird er ständig behindert auf diesem Weg voranzukommen, weil die Ereignisse, die er zu verbinden sucht, verschiedenen Bereichen angehören und sich daher weigern, als Elemente einer gemeinsamen und sinnvollen zeitlichen Folge behandelt zu werden.» 43 So bedienen sie sich häufig - wie etwa Henri Pirenne - rhetorischer Mittel und «Tricks», Scheinüberleitungen und Glättungen, um das Bild einer Einheit zu schaffen, die der historischen Realität selten gerecht wird. Laut Kracauers Analyse verharren Allgemeinhistoriker hinsichtlich der ästhetischen Mittel, die sie zur Konsistenzbildung einsetzen, im 19. Jahrhundert, obgleich sie ihre Darstellungsprobleme in seinen Augen lösen könnten, wenn sie sich an moderneren Formen der Erzählkunst orientieren würden: «Die moderne Kunst fragmentarisiert, zerstört und löst gerade jene Einheit auf, die der allgemeinen Geschichte als Ziel der Erkenntnis immer noch vorschwebt.» 44 Kracauer zitiert in diesem Zusammenhang einen frühen Aufsatz von Hayden White mit dem Titel «The Burden of History», der einige Thesen von Metahistory (1973) bereits vorwegnimmt, wobei er betont, dass sich dessen Ansatz erheblich von seinem eigenen unterscheidet. 45 Zeitgenössische Historiker, so schreibt White, setzten allzu häufig Kunst mit der romantischen Kunst und Wissenschaft mit der positivistischen Wissenschaft gleich. Sie hingen einem überholten Objektivitätskonzept an, wenn sie Fakten als gegeben behandelten, ohne anzuerkennen, dass sie nicht so sehr gefunden, sondern konstruiert seien. 46 Dieses Objektivitätsideal binde sie an den unkritischen Gebrauch von Chronologie sowie an ästhetische Formen, die in der Literatur des 19. Jahrhunderts aktuell gewesen seien. Kracauer stimmt in diesem Punkt White zu, ohne die klassischen Topoi der Historismuskritik zu übernehmen, die White voraussetzt. Für Kracauer ist Geschichte «um ihrer selbst willen» keinesfalls eine Form kultureller «Nekrophilie». 47 Im Gegenteil sollen gerade historische Grossaufnahmen ganz für sich selbst stehen dürfen und der Historiker auch einem antiquarischen Interesse folgen. Moderne Modelle, an denen sich Historiker orientieren könnten, sind für ihn wie auch für White, James Joyce, Marcel Proust oder Virginia Woolf, die dem ausschliesslichen Gebrauch des chronologischen Paradigmas eine klare Absage erteilen und «entschlossen (fiktive) Kontinuität in der Zeit» zerlegen. 48 43 Kracauer, Geschichte, S. 184. 44 Diskussion «Das Ästhetische als Grenzerscheinung der Historie», in: Kracauer, Geschichte, S. 394- 430, hier S. 399. 45 Kracauer, Geschichte, S. 200. 46 Hayden White, The Burden of History, in: Theory & History 5 (1966), Nr. 2, S. 111-134, hier S.127. 47 White, The Burden of History, S. 125. 48 Kracauer, Geschichte, S. 199. 36 Stephanie Baumann Hinter diesem Argument, das Kracauer in Auseinandersetzung mit Walter Benjamins «Über den Begriff der Geschichte» entwickelt, steht Kracauers Ablehnung eines nur chronologisch gedachten Geschichtsverlaufs, der auf dem Fortschrittsparadigma gründet. 49 Anders als Benjamin, der seinen Text während des Zweiten Weltkriegs verfasste, differenziert Kracauer in den 1960er Jahren dessen Kritik an einem linear fortschreitend gedachten Geschichtsverlauf durch seine antinomische Zeitvorstellung: Chronologie wie Antichronologie haben für ihn ihre eigene Berechtigung, wenn es darum geht, einen heterogenen, zeitlich vielschichtigen und von Brüchen gekennzeichnetem Geschichtsverlauf zu beschreiben. Die Metapher der «Katarakte der Zeit» 50 steht für diese morphologische Zeitvorstellung: Kracauer geht von der Existenz unterschiedlicher, unverbundener Zeiträume aus, zwischen denen Kluften bestehen, die allein durch «Sprünge» überwunden werden können. An manchen Stellen finden sich unerklärliche «Strudel», an denen sich die Ereignisschicht plötzlich verdichtet. 51 Historische Zeit ist einmal gedehnt, ein anderes Mal gestaucht und entwickelt sich nicht homogen, wie es Allgemeinhistoriker ihren Lesern nahelegen. 52 Kracauer geht es um die «Errettung» der verborgenen oder verpassten Möglichkeiten im Geschichtsverlauf, und so plädiert er für ein abduktives Vorgehen, um auf historische Erkenntnisse zu stossen, die in den «Lücken» der Vergangenheit aufbewahrt sind und darauf warten geborgen zu werden. Eine gelungene Darstellung könnte das sein, was er als found story bezeichnet - eine episodische Erzählung, die auf Entdeckungen im Material gründet. Die Vieldeutigkeit gewöhnlich unsichtbarer Dinge Nicht durch die Totale, sondern durch das «Fragment», das die Grossaufnahme zur Anschauung bringt, vermag sich der Historiker der historischen Wirklichkeit anzunähern. In Theorie des Films erläutert Kracauer die Besonderheit der Gross- oder Nahaufnahmen, die der D.W. Griffith in After many years (1908) inszenierte. Er zeigt auf diese Weise gewöhnlich unsichtbare Dinge. Sei es ein Detail im Gesicht der Hauptfigur Annie, das ihr innerstes Seelenleben offenlegt, sei es ein Körperteil, wie etwa die Hände von Mae Marsh in Intolerance (1916), die in ihrer Verkrampfung das ganze Leid der Figur ausdrücken, als ihr unschuldiger Geliebter zum Tode 49 Kracauer, Geschichte, S. 186. Zu der Auseinandersetzung mit Focillon und Kubler vgl. Stephanie Baumann, ‘Here goes B. wrong’. Kracauers Anmerkungen zu Walter Benjamins ‘Über den Begriff der Geschichte’, in: Daniel Weidner, Sigrid Weigel (Hg.), Benjamin-Studien 3, 2014, S. 31-46. 50 Kracauer, Geschichte, S. 184. 51 Kracauer, Geschichte, S. 141. 52 Kracauer entwickelt diese Zeitauffassung auf der Grundlage von Konzeptionen, die in der Kunstgeschichte erarbeitet wurden, insbesondere von George Kubler in The Shape of Time. Remarks on the History of Things (1962). Vgl. dazu Im Vorraum der Geschichte, S. 131-160. 37 Bilder um ihrer selbst willen verurteilt wird. Für Kracauer haben diese Grossaufnahmen nicht nur die Funktion einer Sinngebung, welche sich aus dem Zusammenhang der Bilderfolge ergibt. Er betont besonders die vieldeutige Qualität eines vergrösserten Bildes, welches «um seiner selbst willen» vom Zuschauer rezipiert werden soll. 53 Durch solche Aufnahmen wird mehr zur Anschauung gebracht als nur die Qualen der erwähnten Figur. Es geht um Zusätzliches, Einzigartiges: Das Bild «enthüllt, wie ihre Hände sich unter dem Druck äusserster Verzweiflung verhalten.» 54 Kracauer betont also weniger einen Zusammenhang zwischen Detail und Ganzem, als vielmehr die Besonderheit und Mehrdeutigkeit der Grossaufnahmen. Sie ermöglichen «Entdeckungen neuer Aspekte der physischen Realität» und zeigen Ungewohntes, indem sie durch die Vergrösserung das «Gefängnis konventioneller Realität» sprengen. Dies geschieht etwa, wenn im Fall der Hände von Mae Marsh das Hautgewebe unerwartet als Landschaft wahrgenommen wird oder wenn sich die Augen eines Gesichts «in Seen oder vulkanische Krater» verwandeln. 55 Laut Kracauer teilt der Film das Interesse für das Kleine mit den Naturwissenschaften. 56 Im Bereich der Geschichtsschreibung ähneln Grossaufnahmen Monographien, da sie sich beide auf einen einzigen Gegenstand beschränken. Ihre Besonderheit liegt jedoch in einer einzigartigen Bedeutungsfülle, die entsteht, wenn der Historiker sein Material «nach allen Richtungen» hinsichtlich der verschiedenen Sinnangebote auszuschöpfen sucht. 57 Kracauer führt in Geschichte zwei Autoren an, die sich auf der Mikro-Ebene des historischen Universums bewegen: Leo Tolstoi und Lewis Bernstein Namier. 58 Für beide ist diese Dimension der eigentliche «Sitz» der historischen Wirklichkeit, wie auch für Aby Warburg, dessen Diktum «God is in the detail» Kracauer zitiert. 59 Zwar kritisiert Kracauer Tolstoi für sein deterministisches Geschichtsbild, aber gleichzeitig betont er auch dessen «unvergleichliche Empfänglichkeit für die Verzweigungen und Ausstrahlungen jedes einzelnen Phänomens». Tolstoi sehe den Antrieb des geschichtlichen Wandels in den «unzähligen Tätigkeiten aller Individuen, die am historischen Prozess beteiligt sind» und nicht so sehr in der Wirkmächtigkeit von Ideen. 60 Lewis Namier wiederum praktiziert in seiner Unter- 53 Kracauer, Theorie des Films, S. 93. 54 Kracauer, Theorie des Films, S. 93. 55 Kracauer, Theorie des Films, S. 94f. 56 Kracauer, Theorie des Films, S. 97. 57 Kracauer, Geschichte, S. 129. 58 Ersteren zitiert auch Ginzburg, Mikro-Historie, S. 183. Kracauer wie Ginzburg beziehen sich bei ihrer Tolstoi Lektüre auf Isaiah Berlins The Hedgehog and the Fox. An Essay von Tolstoy’s View of History (1953), in: Henry Hary, Aileen Kelly (Hg.), Russian Thinkers, London 1978, S. 22-81. 59 Kracauer, Geschichte, S. 119. DLM, 75.2535/ 5, Kracauer-Nachlass, Kracauer, Konvolut History, Vorarbeiten, Entwürfe, Materialien. Ein Vergleich der Ansätze Kracauers und Aby Warburgs findet sich bei Detlev Schöttker, Bild, Kultur und Theorie. Siegfried Kracauer und der Warburg-Kreis, in: Grunert u.a. (Hg.), Denken durch die Dinge, S. 207-224. 60 Kracauer, Geschichte, S. 120. 38 Stephanie Baumann suchung von The House of Commons 1754-1790 (1964) einen Ansatz, der von der Psychoanalyse inspiriert ist, wenn er versucht, die Motivationen der Parlamentsmitglieder durch biographische Detailstudien freizulegen. 61 Überzeugend ist für Kracauer allerdings weniger der Glaube an die Aussagekraft biographischer Studien, als vielmehr Namiers Vorliebe für die abseitigen Wege des Geschichtsverlaufs. Die Wertschätzung des Abseitigen und Kleinen ist ein Topos, der sich an vielen Stellen in Kracauers Werken findet. Zu nennen wäre etwa das David und Goliath-Motiv, das für Kracauer eine besondere Affinität zur Nahaufnahme unterhält. Wenn David Goliath mit seiner Schleuder besiegt, zeigt dies, so Kracauer in Theorie des Films, dass Grösse und Stärke nicht zwangsläufig in einem proportionalen Verhältnis zueinander stehen und dass das scheinbar Kleine der plumpen Grösse oftmals überlegen ist. 62 Kracauer unterstreicht, dass auch auf der Makroebene relevante Erkenntnisse zu gewinnen sind, jedoch besteht ein substantieller Unterschied zwischen den verschiedenen Bereichen, da in den oberen Höhenlagen des historischen Universums aus der Masse der Fakten diejenigen herausgegriffen werden, die dem Betrachter wichtig erscheinen. Folglich ist die Subjektivität des Historikers umso grösseren Gefahren ausgesetzt, je höher die Abstraktionsebene liegt, auf der er argumentiert. 63 Henri Irénée Marrou hatte in diesem Sinne bereits festgehalten: «[N]atürlich lassen die gegebenen Fakten, dehnbar wie sie sind, selten einen Historiker im Stich, der auf der Suche nach Belegen für seine Vermutungen ist. Im Übrigen ist die geschichtliche Welt so reich an vielfältigen Daten, dass man durch sie fast alles belegen kann, was man beweisen will.» 64 Die «bindende Macht» des Materials nimmt in den luftigen Höhen der Allgemeingeschichte zunehmend ab, so dass Ma- 61 Lewis Namier, The House of Commons 1754-1790, 3 Bde., London 1964. Kracauer notiert: «The psychological continuum ist nearly identical with Tolstoy’s continuum.» DLM, 75.2535/ 1, Kracauer- Nachlass, Kracauer, Guide to History, S. 1. 62 In der Theorie des Films heisst es unter Verweis auf die Vorrede von Adalbert Stifters Bunte Steine: «Jede Nahaufnahme gibt uns zu verstehen, daß das Kleine alles andere als unwesentlich ist, daß es an Wucht die großen Dinge und Ereignisse, die das Auge fesseln, zu erreichen, ja zu überbieten vermag. Im Prinzip ist dies die Moral der Geschichte vom kleinen David, der Goliath mit seiner Schleuder tötet.» Vgl. Kracauer, Theorie des Films, S. 433f. Im Zusammenhang mit der erwähnten Mikrostudie Die Angestellten wurde auch auf Affinitäten zur Chicagoer Tradition der Soziologie hingewiesen. Vgl. Olivier Agard, Siegfried Kracauer. Le chiffonnier mélancolique, Paris 2010, S. 79-83. Zu Kracauers mikrologischer Studie Die Angestellten vgl. ausserdem Ethel Matala de Maza, Winzige Differenzen. Zur Kleinarbeit am Politischen bei Siegfried Kracauer, in: Thomas Bedorf und Kurt Röttgers, Das Politische und die Politik, Berlin 2010, S. 105-124; Axel Honneth, Der destruktive Realist. Zum sozialphilosophischen Erbe Siegfried Kracauers, in: ders.: Vivisektionen eines Zeitalters, Berlin 2014, S. 120-142, bes. S. 122-128. 63 «Mit anderen Worten, die Wirkung perspektivischer Behandlung nimmt in direktem Verhältnis zum Abstand des Historikers von seinem Material zu.» Kracauer, Geschichte, S. 137. 64 Kracauer, Geschichte, S. 134. Kracauer zitiert Henri Irénées Marrous De la connaissance historique (1954), vgl. Pierre Riché, Henri Irénée Marrou, Historien engagé, Paris 2003, S. 167-188. 39 Bilder um ihrer selbst willen krohistoriker dazu verleitet werden, Informationen auszublenden, wollen sie ihre eigene Perspektive auf die Vergangenheit verfolgen. 65 Im letzten Kapitel von Geschichte widmet sich Kracauer dem Verhältnis von Geschichte und Philosophie als dem Bereich allgemeiner Wahrheiten. Kracauer macht die Stossrichtung seiner Argumentation deutlich, wenn er betont, dass «philosophische Wahrheiten nur unzulänglich die Erfahrungen und Vorfälle ab[decken], die sie verallgemeinern.» 66 Die Denkbewegung von den Allgemeinheiten zu den Einzeldingen erscheint ihm jedoch «illegitim», da sich auf dem Weg von oben nach unten Stellungnahmen und Wertungen radikalisierten, sich Probleme in «Entweder-Oder-Entscheidungen» präsentierten und zu Dogmen verhärteten: «In der höchsten Höhe weicht die Wirklichkeit zurück und ist der Mensch mit sich allein.» 67 Einmal mehr sucht er auch hier zu nuancieren, wenn er Johan Huizingas Kritik an Jakob Burckhardts Idee von dem erwachenden Individuum als Prototyp der Renaissance als nicht ganz fair bezeichnet. Huizinga weist die Verallgemeinerung von dem Menschen der Renaissance unter dem Signum des Individualismus zurück: «Die zahlreichen Typen, die jener reiche Zeitraum bereitstellt, sind in anderen Merkmalen so grundsätzlich verschieden, dass kein Individualismus sie je zusammenbrächte.» 68 Kracauer kommentiert jedoch, dass diese Argumentation Huizingas den Abstand zum Gegenstand verändere und Mikro-Fakten gegen «wohlbegründete Makro-Hypothesen» ausspiele. 69 Tatsächlich gebe es keine Verallgemeinerungen, die nicht durch Elemente der Mikro-Ebene widerlegt werden könnten. 70 Was folgt daraus für die Diskussion über Fallgeschichten? Akzeptiert man Jochen Jakobs Vorschlag, die Kracauer’schen Grossaufnahmen als eine Art Fallstudie zu betrachten, läge eine wichtige Funktion darin, mit ihrer Hilfe makrohistorische Thesen zu überprüfen und durch das Neue und Andere, das sie sichtbar machen, Verallgemeinerungen zu modifizieren, zu ergänzen und zu bereichern. So rezipiert Hans Medick Kracauers Position, wenn er auf der Grundlage seiner mikrohistorischen Studie zur Proto-Industrialisierung Laichingens, Weben und Über- 65 Kracauer, Geschichte, S. 137f. 66 Ebd., S. 223. 67 Ebd., S. 225. Ein abschreckendes Beispiel ist für Kracauer Charles Tillys sozialwissenschaftliche Untersuchung über den Aufstand der Vendée von 1793. Er wirft ihm vor, zu einer «verschwommenen allgemeinen Vorstellung» von einer Konterrevolution zu gelangen, ohne etwas zu dieser im Speziellen auszusagen. Charles Tilly, The Analysis of a Counter Revolution, in: History and Theory 3 (1963), Nr. 1, S. 30-58. Kracauer, Geschichte, S. 38f. 68 Zit. nach Kracauer, Geschichte, S. 113. 69 Kracauer, Geschichte, S. 113. 70 Kracauer, Geschichte, S. 113. Jacob Burckhardt schätzt er hingegen trotz vieler Kritikpunkte, weil es diesem vortrefflich gelinge, zwischen den verschiedenen Zeitebenen hin und her zu wechseln, ohne sich von der Vorstellung eines homogenen Zeitflusses behindern zu lassen. Vgl. Kracauer, Geschichte, S. 167f. 40 Stephanie Baumann leben, allgemeingeschichtliche Einsichten zu gewinnen sucht. 71 Hinsichtlich der Weber’schen These über den Zusammenhang zwischen protestantischer Ethik und kapitalistischem Geist sieht er die Ortschaft Laichingen als Ausnahmefall. Hier galt nicht wie andernorts in Mitteleuropa der unternehmerische Erfolg als ein Zeichen der Heiligung, sondern das schlichte Überleben unter widrigsten Umständen. Medick erklärt diesen besonderen Fall als regelhaft für einen Modernisierungsprozess, der sich durch Vielschichtigkeit auszeichnet, und fordert daher, dass «die Annahme eines vereinheitlichenden oder gar einheitlichen historischen Prozesses im Übergang zur Moderne» aufgrund ähnlicher Untersuchungen wie der seinigen «konsequent de-konstruiert werden sollte, bevor sie tentativ wieder rekonstruiert wird.» 72 In diesem Sinne möchte auch Kracauer den Sinn seiner Grossaufnahmen verstanden wissen. In den Vorarbeiten notiert er dazu: «Purpose: to supplement, test, qualify etc. macrohist’s». 73 Detailstudien sollten aber vor allem um ihrer selbst willen betrieben werden und nicht der Bestätigung übergeordneter Thesen dienen. Denn wenn sie auf der Makroebene nach Anerkennung suchen, müssen stets einige ihrer Bedeutungen aufgegeben werden, und für Kracauer liegt gerade in der Vieldeutigkeit ihr besonderer Wert. 74 Idealerweise sollte der Historiker seine Forschungen auf der Mikro- Ebene beginnen, und sich dann zwischen den verschiedenen Ebenen hin und her bewegen, um so die auf der Mikro-Ebene gewonnenen Einsichten in die Makro- Ebene gleichsam «einzublenden». Kracauer imaginiert diese Methode als eine Art «Guerillataktik», er plädiert für leichte Scharmützel, die eher auf die Spuren der historischen Wirklichkeit führten als «schwere Frontalangriffe», wie sie Universalhistoriker vornähmen. Wo aber zieht Kracauer die Grenze zwischen unzulässigen und zulässigen Verallgemeinerungen? Er beruft sich hier lediglich auf das vorsichtige und sensible Abwägen, auf die vage Kategorie des «Taktes». Besser noch, man begnüge sich mit einem Nebeneinander der Perspektiven: allgemeine Wahrheit und konkrete Vorstellungen gehen nicht ineinander auf, sie befruchten und korrigieren sich aber gegenseitig. Hans Medick nennt dies die «Schärfe- und Unschärfe- Relation» jeder Perspektive. 75 71 Vgl. Medick, Weben und Überleben, S. 16. 72 Vgl. Hans Medick, Mikro-Historie, in: Winfried Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie: eine Diskussion, Göttingen 1994, S. 40-53, hier S. 48. 73 DLM, 75.2535/ 5, Kracauer-Nachlass, Kracauer, Konvolut History, Vorarbeiten, Entwürfe, Materialien. 74 Kracauer, Geschichte, S. 140f. 75 Medick, Mikro-Historie, S. 49. 41 Bilder um ihrer selbst willen Ausblick: Saul Friedländers «individuelle Stimmen» Zwei Jahrzehnte nach der von Saul Friedländer organisierten Tagung Probing the Limits of Representation (1990), welche aus den gegensätzlichen Positionen von Hayden White und Carlo Ginzburg zur Darstellbarkeit der Shoah erwuchs, wurde in Jena mit Den Holocaust erzählen im Jahr 2011 die Diskussion über das Verhältnis von literarischem und historischem Erzählen fortgesetzt. 76 Saul Friedländers The Years of Extermination 77 wurde dabei jener modernistische Stil attestiert, für den Siegfried Kracauer plädiert. Was die Thematik der Shoah anbelangt, unterstreicht Kracauer in Geschichte die Auffassung Herbert Butterfields, wonach der von ihm sogenannte technische oder tatsachenorientierte Historiker die Sache der Moralität unterstütze, wenn er detailliert «ein gewaltiges Massaker, die Folgen religiöser Vertreibung oder die Vorgänge in einem Konzentrationslager beschreibt.» 78 Mit Blick auf die Frage der historiographischen Form heisst es weiter, zur Annäherung an die Darstellung menschlichen Leidens seien stilistisch vor allem Schlichtheit und Nüchternheit geboten. Friedländers Erläuterungen zur Erzählweise seiner integrierten Geschichte der Shoah reichen sehr viel weiter als Kracauers Bemerkungen zu diesem von ihm nur selten explizit angesprochenen Thema. Jedoch hat Friedländers Ansatz viel mit Kracauers Reflexionen zum Allgemeinen und Besonderen in der Historiographie gemein. 79 Um eine allgemeine Geschichte handelt es sich bei The Years of Extermination insofern, als Friedländer nicht nur die Geschehnisse verschiedener geographischer Räume in einer Erzählung zusammenführt, sondern auch die Geschichte einer Vielzahl unterschiedlicher Institutionen, Akteure und Ideologien berücksichtigt. 80 Er stellt die Beschreibung einer Photographie aus dem Jahr 1942 an den Anfang seines Textes: Sie zeigt David Moffie, den letzten jüdischen Studenten der Universität Amsterdam kurz vor seiner Deportation nach Auschwitz-Birkenau bei seiner Promotionsfeier zum Doktor der Medizin. Dieses einzelne Bild vermittelt, so Friedländer, «eine Ahnung von der Vielzahl an Interaktionen zwischen deutschen ideologischen Halluzinationen und ausgeklügelten Verwaltungsmassnahmen, niederländischen Einrichtungen und individuel- 76 Saul Friedländer (Hg.), Probing the Limits of Representation. Nazism and the «Final Solution», Cambridge, Massachusetts 1992. 77 Saul Friedländer, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945, Bd. 2, München 2006. 78 Kracauer, Geschichte, S. 103. 79 Saul Friedländer, Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen 2007, S. 7-27. 80 Friedländer, Den Holocaust beschreiben, S. 18. Wulf Kantsteiner zählt in seiner Analyse 40 Ortsangaben auf fünfeinhalb Seiten. Vgl. Wulf Kansteiner, Gefühlte Wahrheit und ästhetischer Relativismus. Über die Annäherung von Holocaust-Geschichtsschreibung und Geschichtstheorie, in: Norbert Frei, Wulf Kansteiner (Hg.), Den Holocaust erzählen. Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität, Göttingen 2013, S. 12-50, hier S. 22. 42 Stephanie Baumann len Entscheidungen, jüdischen Institutionen und im Mittelpunkt von allem dem Schicksal eines einzelnen Juden.» 81 Die Analyse der Photographie erklärt seinen Ansatz, der sich nicht auf die Aktionen der Nationalsozialisten beschränkt, nicht auf die Einstellungen und Reaktionen der Verwaltungen oder Bevölkerungen der von den Deutschen besetzten Ländern und Satellitenstaaten. Friedländer wollte ausserdem der Perspektive der Opfer und ihren individuellen Stimmen Gehör verschaffen; entscheidend sind ihre Handlungen, Wahrnehmungsweisen und Reaktionen auf die Verfolgung und Vernichtung. Dabei verbindet er grosse bekannte Ereignisse und noch nie Gehörtes, Alltägliches, zu einem immer komplexeren Bild, das auch Widersprüchliches nicht ausschliesst. Individuelle jüdische Stimmen «bestätigen Ahnungen wie Blitzlichter, die Teile einer Landschaft erhellen, die uns vor vorschnellen Verallgemeinerungen warnen und die Selbstgefälligkeit wissenschaftlicher Distanziertheit durchbrechen.» 82 Der Gedanke an Kracauer drängt sich hier nicht nur aufgrund der Formulierung dieses Passus auf, den eine Landschaft erhellenden «Blitzlichtern», die auch bei ihm zu finden sind. 83 Friedländer verwendet überdies Kracauers medialen Vergleich, wenn er betont, seine Schreibweise habe den Einsatz von Schnitten und Perspektivwechseln erfordert, die in der Historiographie nur selten vorkommen, im Film jedoch vollkommen üblich sind. 84 Die Zeitkonzeption, die Friedländers Erzählung zugrunde liegt, ist der von Kracauer ebenfalls sehr nahe, weist sie doch sowohl chronologische als auch antichronologische Strukturen auf. Einerseits werden die Ereignisse von Friedländer in einen linearen Gesamtrahmen eingeordnet, dessen Eckpfeiler der 1. September 1939 und der 2. Mai 1945 sind, mit denen die Darstellung beginnt beziehungsweise endet. Andererseits wird dieser chronologische Rahmen durch ein Nebeneinander «völlig verschiedener Ebenen der Realität» in den einzelnen Kapiteln beständig durchkreuzt, so dass der Zeitablauf hier gleichsam «oszilliert», wenn die einzelnen Episoden, die Friedländer gegeneinander stellt, einander zeitlich überlagern. 85 Schliesslich praktiziert Friedländer das von Kracauer geforderte Changieren des Historikers zwischen unterschiedlichen Abstraktionsebenen. Die Chronik der Ereignisse wird immer wieder von Momenten der Kontextualisierung unterbrochen und abgelöst. Dabei geht es Friedländer nicht nur darum, ein komplexes Gesche- 81 Friedländer, Den Holocaust beschreiben, S. 10f. 82 Ebd., S. 15f. 83 Sie ähnelt tatsächlich Kracauers Ausdrucksweise, wenn dieser von historischen Ideen spricht. «Historische Ideen scheinen von anhaltender Bedeutung zu sein, weil sie das Besondere mit dem Allgemeinen auf wahrhaft einzigartige und artikulierte Weise verbinden. Da jede Verbindung dieser Art ein ungewisses Wagnis ist, ähneln sie Blitzen, die die Nacht erhellen.» Kracauer, Geschichte, S. 114. 84 Friedländer, Den Holocaust beschreiben, S. 18. 85 Saul Friedländer, Die Jahre der Verfolgung, Das Dritte Reich und die Juden 1933-1939, Bd. 1, München 1998, S. 15. Laut Kansteiner umfasst der längste geradlinig-chronologisch erzählte Passus lediglich 10 Seiten des Werkes. Kansteiner, Gefühlte Wahrheit, S. 23f. 43 Bilder um ihrer selbst willen hen unter Berücksichtigung vielfältiger Perspektiven darzustellen, sondern um jenen inhaltlichen Aspekt, den auch Kracauer andeutet: Menschliches Leid stellt besondere Anforderungen an seine Darstellung. Friedländer suchte nach einer erzählerischen Form, die zugleich «erklärt und verstört», die in der Lage wäre, die Fassungslosigkeit angesichts des Holocaust auszudrücken. 86 Auf der Mikro-Ebene, die einer Collage gleicht, wird die Orientierungslosigkeit und Unsicherheit der Opfer spürbar. 87 Ein gemeinsamer Nenner der erwähnten literarischen wie historiographischen Darstellungsformen, so Wulf Kansteiner, ist die Suche nach «neue[n] kulturelle[n] Ausdruckformen für den Umgang mit Erfahrungen von Verlust und Trauer, ohne sich dabei traditioneller religiöser, philosophischer, kultureller oder historiographischer Rituale der Sinngebung zu bedienen.» 88 Friedländers Werk erscheint als ein ebenso eindrucksvolles wie spezifisches Beispiel für das, was sich Kracauer unter einer modernen Historiographie im besten Sinne vorgestellt haben mag. Zu den found stories zitiert er den französischen Kritiker Henri Agel mit einem Kommentar über den episodischen Film I Vitelloni (1953), der die Funktion von Kracauers historiographischen Grossaufnahmen treffend beschreibt: Die Chronik dieses Films hat laut Agel die Form einer «Proposition». Sie «gestattet uns [von den Dingen, die wir sehen] unvollständige Begriffe zu hegen». 89 So kann Friedländers Ansatz schliesslich selbst als Beispiel eines «paradigmatischen Falls» betrachtet werden, erfüllt sein Werk durchaus die Funktion eines Korrektivs gegenüber bisherigen Gesamtdarstellungen der Shoah. 90 Dies trifft vor allem in Hinblick auf das mehrmals aktualisierte Standardwerk von Raul Hilberg, The Destruction of the European Jews (1961) zu, der sich der Shoah gleichsam «von oben» annähert, indem er den Blick auf Dokumente und Archivmaterialien der Exekutoren richtet, deren Funktionieren er untersucht, ebenso wie auf die Organisation des Massenmords. Hilberg, welcher den Zeugnissen von Überlebenden wie Tagebüchern oder Briefen hinsichtlich ihrer Exaktheit misstraut und dessen Kapitel über die Reaktionen der jüdischen Gemeinschaft in der deutschen Ausgabe von 1982 gerade einmal zwölf Seiten umfasst, verfolgt mit seiner Herangehensweise nichtsdestoweniger den Anspruch, ein «Gesamtbild» der Shoah zu entwickeln. Es handele sich um eine Realität, welche die einzelnen Opfer mit ihrer indi- 86 Friedländer, Die Jahre der Vernichtung, S. 25. 87 Kansteiner, Gefühlte Wahrheit, S. 24. 88 Kansteiner, Gefühlte Wahrheit, S. 31. Vgl. dazu Hayden White, Historical Discourse and Literary Theory. On Saul Friedländer’s Years of Extermination, in: Frei u.a. (Hg.), Den Holocaust erzählen, S. 51-78. 89 Kracauer, Theorie des Films, S. 398. 90 Vgl. dazu die Einleitung in diesem Buch, S. 15f. 44 Stephanie Baumann viduellen Perspektive nicht hätten wahrnehmen können. 91 Zwar sind die Opfer in seiner Darstellung durchaus nicht abwesend, doch bezieht er die meisten Informationen über sie aus Quellen, die von den Tätern stammen. Ganz im Gegensatz dazu verweist Friedländers integrierte Geschichte der Shoah auf die Tatsache, dass eine Gesamtsicht auf die Ereignisse nur dann möglich ist, wenn man auch die vielen fragmentarischen Realitäten jener zur Anschauung bringt, die der Verfolgung und Vernichtung ausgesetzt waren, die versuchten, Widerstand zu leisten oder zu entkommen. 92 91 Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1982, hier S. 698-709. 92 Zwar betont Friedländer, der bewaffnete jüdische Widerstand sei vor allem von symbolischer Bedeutung gewesen, habe kein Leben gerettet und die Deportationen letztlich sogar noch beschleunigt. Aber er zeichnet dennoch ein genaueres Bild des Geschehens, wenn er Darstellungen korrigiert, die diesem Widerstand keine hinreichende Beachtung schenken. Friedländer, Die Jahre der Vernichtung, S. 586.