Paradigmatische Fälle  

Tragik und Gericht. Eine kulturhistorische Analyse von Pierre Rivières Fall. Strafjustiz, Psychiatrie und das Memoire

Paradigmatische Fälle - Konstruktion, Narration und Verallgemeinerung von Fall-Wissen in den Geistes- und SozialwissenschaftenTragik und Gericht. Eine kulturhistorische Analyse von Pierre Rivières Fall. Strafjustiz, Psychiatrie und das Memoire10.24894/978-3-7965-4238-1 Ruben Hackler, Katherina KinzelTragik und Gericht. Eine kulturhistorische Analyse von Pierre Rivières Fall. Strafjustiz, Psychiatrie und das Memoire Maurice Cottier Am 3. Juni 1835 tötete der 20-jährige Bauer Pierre Rivière aus der Gemeinde Aunay in der Normandie mit einer Hippe 1 seine Mutter, seine jüngere Schwester und seinen jüngeren Bruder. Dieses Tötungsdelikt ist uns heute bekannt, weil sich ein Forscherteam um den französischen Philosophen und Historiker Michel Foucault in den frühen 1970er Jahren bemühte, möglichst alle schriftlichen Zeugnisse zusammenzutragen, die anlässlich des Tötungsdelikts verfasst worden waren. Die Dokumente wurden 1973 in einem Sammelband veröffentlicht, eine deutsche Übersetzung erfolgte bereits zwei Jahre später. 2 Die Publikation beinhaltet neben Kommentaren des Forschungsteams die Rapporte des Friedensrichters und der Gendarmerie, Untersuchungsakten des Gerichts mit Verhörprotokollen, das eigenhändig verfasste Memoire des Täters, gerichtsmedizinische Gutachten, Prozessakten, Briefe der Behörden und Zeitungsartikel. 1976 wurde die im Memoire enthaltende Geschichte in einem Spielfilm unter der Regie von René Allio verarbeitet, in dem neben anderen auch Foucault auftrat. 3 Dem Herausgeber Foucault wie auch den anderen Beiträgerinnen und Beiträgern ging es darum, anhand dieses Falls «die Geschichte der Beziehungen zwischen Psychiatrie und Strafjustiz [zu] studieren.» 4 Der Fall Rivière zeigt, wie die Psychiatrie als humanwissenschaftliche Disziplin in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann, in die Belange der Strafjustiz zu intervenieren. Es handelte sich 1 Bei einer Hippe handelt es sich um ein landwirtschaftliches Werkzeug mit sichelförmiger Klinge. 2 Michel Foucault (Hg.), Moi, Pierre Rivière, ayant égorgé ma mère, ma soeur et mon frère … un cas de parricide au XIXe siècle, Paris 1973. Michel Foucault (Hg.), Der Fall Rivière. Materialien zum Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz, Frankfurt a.M. 1975. Der Fall Rivière ist Teil von Foucaults Arbeiten zur Geschichte der Straftheorien und Strafinstitutionen des 19. Jahrhunderts. Die Beschäftigung des Herausgeberteams mit dem Falldossier Rivière geht auf die Jahre 1971/ 1972 zurück, als erste Dokumente des Falldossiers im Montags-Seminar zur Vorlesung Theorien und Institutionen des Strafvollzugs am Collège de France diskutiert und für eine Publikation vorgemerkt wurden. Nach Der Fall Rivière veröffentlichte Foucault 1978 im Rahmen seiner frühen Forschungen zur Sexualität eine weitere Fallstudie, um den medizinisch-politischen Umgang mit dem Phänomen des Hermaphrodismus im 19. Jahrhundert zu dokumentieren. Vgl. Michel Foucault, Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin, Frankfurt a.M. 1998. Französisches Original: Michel Foucault (Hg.), Herculine Barbin dite Alexine B, Paris 1978. 3 Moi, Pierre Rivière, ayant égorgé ma mère, ma soeur et mon frère … (F, 1976). 4 Michel Foucault, Einführung, in: ders. (Hg.), Der Fall Rivière. Materialien zum Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz, Frankfurt a.M. 1975, S. 7-13, hier S. 7. 138 Maurice Cottier um zwei unterschiedliche Systeme, die Verflechtung von Recht und Medizin gestaltete sich daher als spannungsreich. Auf der einen Seite stand die Frage nach der juristischen Schuld und der entsprechenden Strafe, auf der anderen die medizinische Diagnose einer Krankheit beziehungsweise Anomalie, um die Gefährlichkeit eines Straftäters für die Gesellschaft zu bestimmen. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert erhielt das medizinische Deutungsmuster von Verbrechen mithilfe und gleichzeitig auf Kosten des Strafrechts immer mehr an Bedeutung. Zentral für den institutionellen Einfluss der Psychiatrie auf die Strafjustiz war die Einführung der «mildernden Umstände» ins französische Strafrecht im Jahr 1832, drei Jahre vor Rivières Tat. Diese Neuregelung ermöglichte es, Straftäter und Straftäterinnen schuldig zu sprechen, auch wenn sie ärztlich als geisteskrank oder anormal galten. 5 Die konfliktreiche Infiltrierung der Justiz durch die Deutungsmacht der Psychiatrie vermag die Dokumentsammlung auf sehr anschauliche Weise zu illustrieren. Im Anschluss an und zum Teil auch mit Bezug auf den Fall Rivière wurden in der Geschichtswissenschaft Forschungsarbeiten publiziert, in denen anhand eines einzelnen Gerichtsfalls der medizinische, gerichtliche und mediale Umgang mit dem Verbrechen rekonstruiert wird. 6 Zudem hat Foucaults 1975 publizierte Studie Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses das Feld der Kriminalitätsgeschichtsschreibung entscheidend mitgeprägt. 7 Der Fall Rivière kann somit als ein paradigmatischer Fall der Geschichts- und Kulturwissenschaften gelten, da er als ein herausragendes Beispiel für weitere Forschungen gedient und im Zusam- 5 Die Beurteilung der mildernden Umstände sprengte die Dichotomie von Willensfähigkeit und Wahnsinn. Nach der Strafrechtslehre der Aufklärung galt ein Täter nur dann als schuldfähig, wenn er zum Zeitpunkt der Tat willensfähig war. War dies nicht der Fall, kam es zu keiner Verurteilung. Die Einführung der mildernden Umstände hob diese Logik auf. Neu konnte ein Täter schuldig sein, auch wenn seine Willensfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat nicht gänzlich vorhanden gewesen war. Allerdings musste die Strafe entsprechend gemildert werden. Für die Steigerung des Einflusses der Psychiatrie in der Strafjustiz war diese Neuerung entscheidend. Denn das Gericht konnte nun die ärztliche Expertise herbeiziehen, ohne zu riskieren, dass es einen Angeklagten wegen nicht (vollständig) vorhandener Willensfähigkeit freisprechen musste. Ein Angeklagter konnte fortan gleichzeitig krank und schuldig sein. Zu den mildernden Umständen vgl. den Beitrag von Patricia Moulin, Die mildernden Umstände, in: Foucault (Hg.), Der Fall Rivière, S. 242-248. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz vgl. den Beitrag von Robert Castel, Die Ärzte und die Richter, in: Foucault (Hg.), Der Fall Rivière, S. 279-296. Foucault selbst hat sich an anderer Stelle ausführlich mit dieser Thematik auseinandergesetzt: Michel Foucault, Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France 1974/ 1975, Frankfurt a.M. 2007, S. 13-75. 6 Vgl. beispielsweise Michel Porret, Le drame de la nuit. Enjeux médico-légaux du quadruple égorgement commis en 1885 à Genève par une mère sur ses enfants, in: Revue d’histoire du XIX siècle 26,27 (2003), S. 309-329; Philippe Artières, Dominique Kalifa, Vidal. Le tuer des femmes, une biographie sociale, Paris 2001; Michael Hagner, Der Hauslehrer. Die Geschichte eines Kriminalfalls. Erziehung, Sexualität und Medien um 1900, Berlin 2010; Briony Neilson, Youth, Literacy, and Social Emancipation in Third Republic France. The ‘Crime de Jully’, in: Crime, Histoire & Sociétés 18/ 1 (2014), S. 81-100. 7 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1976. 139 Tragik und Gericht menhang mit der Foucault-Rezeption ein Untersuchungsfeld geöffnet hat, das bis in die Gegenwart bearbeitet wird. In diesem Text geht es aber nur indirekt darum, wie Richter, Mediziner und Journalisten den Fall Rivière wahrnahmen. Das für das Forscherteam zentrale «Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz» steht vorerst nicht im Vordergrund. Im Zentrum der Betrachtung steht vielmehr das in der Untersuchungshaft selbstständig verfasste Memoire des Mörders Pierre Rivière, welches aus der Mitte der Aktensammlung herausragt und doch abseits liegt. 8 Der Umgang mit diesem Text fällt Foucault und seinem Herausgeberteam nicht leicht. Auffallend ist, dass sie ihn in erster Linie wegen seiner vermeintlichen «Schönheit» preisen. 9 Es mag sich bei dieser Huldigung ein Stück weit um Koketterie handeln. Indem Foucault dem Text eines Bauernjungen Schönheit zuschreibt, wertet er die Diskurse der gebildeten Juristen, Journalisten und Ärzte, die um die Person und die Tat Rivières kreisen, ab. Diese Wertung vermag aber den zurückhaltenden Umgang mit dem Memoire nicht gänzlich zu erklären. Denn die «Scheu» vor dem Memoire ist Teil der Methode. Der «Diskurs Rivières» dient den Herausgebern nämlich «als Punkt Null […] zur Eichung des Abstands zu den […] Diskursen [der Psychiatrie und der Strafjustiz] und der Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen». Nicht das Memoire soll analysiert werden, sondern vielmehr die Analyse des Memoires durch die Richter und Ärzte. Das Memoire zu «interpretieren», so die Herausgeber, hätte bedeutet, ihm einen «psychiatrischen oder psychopathologischen Kommentar überzustülpen». Die Herausgeber sind überzeugt: «[Wir hätten kaum vom Diskurs Rivières sprechen können,] ohne ihn in einem der anderen (medizinischen, juristischen, psychologischen kriminologischen) Diskurse wieder aufzunehmen, von denen wir aber gerade nur im Hinblick auf ihn sprechen wollten. Wir hätten ihn damit jenen Kräftevergleich aufgezwungen, dessen herabsetzende Wirkung wir gerade zeigen wollten - und wären selbst diesem Vergleich zum Opfer gefallen». 10 Durch die Handhabung des Memoires als «Punkt Null» verlieren die Herausgeber tendenziell das Memoire aus dem Blick und fokussieren auf die juristischen und medizinischen Texte. 8 Das ursprünglich handgeschriebene, aber bereits im Prozessjahr als Broschüre publizierte Manuskript füllte ursprünglich über fünfzig handgeschriebene Seiten und macht mit 64 Druckseiten ziemlich genau einen Drittel der ganzen Aktensammlung aus. Seine erste Zeile «Moi, Pierre Rivière, ayant égorgé ma mère, ma soeur et mon frère …» ist identisch ist mit dem Titel der französischen Originalausgabe von 1973. Foucault, Einführung, S. 13. 9 Ebd., S. 9, 12. 10 Ebd., S. 12. 140 Maurice Cottier Carlo Ginzburg, der mit Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600 selbst eine der bedeutendsten Fallstudien der Geschichtswissenschaft vorgelegt hat, bemängelt die methodische Vernachlässigung des Memoires durch Foucault und sein Team und kritisiert die Huldigung an das Schöne als «einen ästhetischen Irrationalismus». 11 Rivières Text sei ist nicht bloss als schöne Geschichte zu lesen, sondern müsse gleich wie die Dokumente der Juristen und Ärzte auf seine kulturellen Kontexte hin befragt werden. 12 Was ist das Memoire also für ein Text? Auf Ginzburgs Kritik aufbauend, soll in der Folge das Memoire des Mörders Rivière in den Vordergrund gestellt werden. Dabei wird gezeigt, dass entgegen den Befürchtungen des Herausgeberteams eine kulturhistorische Annäherung an das Memoire durchaus möglich ist, ohne diesem einen juristischen oder humanwissenschaftlichen Kommentar «überzustülpen». Allerdings darf bei der Analyse die schaurige «Schönheit» des Textes gerade nicht aus den Augen verloren werden, sondern muss als Ausgangspunkt der Analyse dienen. Es lässt sich nämlich aufzeigen, welche Stilmittel der Bauernjunge Pierre Rivière als Autor einsetzte, um den Leser Foucault derart zu berühren. Weiter kann gefragt werden, inwiefern diese Stilmittel typisch für das 19. Jahrhundert waren. Diese Perspektive lässt sich mithin auch auf Foucault stützen. Denn entgegen seiner Ansage in der Einführung, das Memoire keiner Analyse zu unterziehen, unternimmt er in seinem Kommentar durchaus gewinnbringende Versuche einer Historisierung von Rivières Text, von welchen noch ausführlicher die Rede sein wird. Ein zentraler Punkt von Foucaults Kommentar ist, dass Rivières Text an journalistisch-literarische Diskurse des 19. Jahrhunderts anschliesst. Die Annäherung an Rivières Text erfolgt hier deshalb, ähnlich wie bei einer literaturwissenschaftlichen Analyse, über den Erzählstil. Eine solche Betrachtungsweise öffnet den Weg für eine kulturhistorische Einbettung des Memoires. Das Memoire ist eine tragische Erzählung, in der Rivière die Rolle des Helden spielt. 13 Möglicherweise liegt in der Ästhetik des Tragischen auch der Grund, weshalb Foucault und sein Forschungsteam von der «Schönheit» des Memoires ge- 11 Carlo Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, Berlin 2007, S. 14. 12 Allerdings scheint Ginzburg übersehen zu haben, dass Foucault sehr wohl einige inspirierende Überlegungen zur Historisierung des Memoires anstellte, von denen noch die Rede sein wird. 13 Der Aspekt des Tragischen wurde in der Foucault-Forschung bereits diskutiert. Graham Longford erwähnt in seiner Gegenüberstellung von Michel Foucaults Konzept der Ästhetik der Existenz und Richard Rortys Konzept der «strong poetry» den tragischen Charakter von Rivières Memoire, allerdings nur nebenbei. Vgl. Graham Longford, Sensitive Killers, Cruel Aesthetes, and Pitiless Poets. Foucault, Rorty, and the Ethics of Self-Fashioning, in: Polity 33/ 4 (2001), S. 569-592, hier S. 581f. Carl R. Lovitt behandelt Rivières Memoire als Narrativ, in dem sich der Mörder zu einem Held stilisiert und seine Tat in den Dienst einer höheren Sache stellt. Allerdings schliesst Lovitt daraus, dass Rivère seine Handlung entkriminalisieren und sich von seiner Schuld entlasten wollte. Betrachtet man das Memoire indes nach Mark W. Roche als tragische Erzählung, macht es keinen Sinn, davon auszugehen, dass es dem Autor darum ging, seine Tat zu relativieren. Vgl. Carl R. Lovitt, The Rhetoric of 141 Tragik und Gericht rührt waren. Nach eigenen Angaben zog der Text die Forschenden in seinen Bann und löste «Betroffenheit» in ihnen aus. 14 Grundsätzlich lässt sich die Tragödie mit Mark W. Roche als «ein Werk [definieren], in welchem die Größe des Helden zwangsläufig schweres Leid heraufbeschwört. […] In der wahren Tragödie leidet der Held, weil er stark ist, und nicht, weil er schwach ist. Er verwickelt sich in Schuld nicht durch ein Laster, sondern durch eine Tugend.» 15 Wie zu zeigen sein wird, erfüllt die Figur Rivière, wie sie im Memoire gezeichnet wird, diese Bedingungen. Der Autor Rivière referierte folglich innerhalb eines strafrechtlichen Verfahrens auf einen Diskurs, der eher dem Feld der Kunst als dem des Rechts zuzuordnen ist. Mit seiner Erzählweise war Rivière ein Kind seiner Zeit. Das Tragische erlebte im aufgeklärten Europa eine Renaissance und war im 19. und frühen 20. Jahrhundert Teil der westlich-europäischen Kultur, wie zuletzt mehrfach in den Literatur- und Theaterwissenschaften gezeigt wurde. 16 Daniel Fulda und Thorsten Valk verweisen darauf, dass das Tragische aufgrund seiner Eigenschaften in einem latenten Spannungsverhältnis zur Aufklärung stand. In einer aufgeklärten, fortschrittsgläubigen Gesellschaft sollten Tugend und Grösse nicht zum Untergang, sondern zu Weiterentwicklung und Erfolg führen. Seit Hegel galt das Tragische nicht mehr mit der aufgeklärten Vernunft vereinbar und daher als Relikt der Vormoderne. Laut Fulda und Valk zeugen aber gerade die ständigen Hinweise auf die Unzeitgemässheit des Tragischen, sei es bejahend wie bei Hegel oder bedauernd wie bei Nietzsche, von seiner anhaltenden Präsenz im 19. Jahrhundert. Das Tragische stellte eine der Kunst entstammende Alternative bereit, mit der die Erfolgsgeschichte der Vernunftmoral der Aufklärung in Frage gestellt werden konnte. Fulda und Valk plädieren deshalb dafür, das Tragische gerade in seiner Gegensätzlichkeit zum aufgeklärten Ideal der vernunftbezogenen Gesellschaftsordnung als integralen Bestandteil der westlich-modernen Kultur anzusehen. 17 In punkto Tragik stellt der Fall Rivière keine Ausnahme dar. Im Paris der 1870er Jahre erzählten Männer und Frauen, die meist aus der Arbeiterschaft und dem Kleinbürgertum stammten und gezielt ihre Ehepartner, Liebespartner oder die Murderers’ Confessional Narratives. The Model of Pierre Riviere’s Memoir, in: The Journal of Narrative Technique 22/ 1 (1992), S. 23-34. 14 Foucault, Einführung, S. 9, 12. 15 Mark W. Roche, Formen der Tragödie in der Moderne, in: Daniel Fulda, Thorsten Valk (Hg.), Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte - Kulturtheorie - Epochendiagnose, Berlin 2010, S. 339- 354, hier S. 339f. 16 Vgl. Johanna Canaris, Mythos Tragödie. Zur Aktualität und Geschichte einer theatralen Wirkungsweise, Bielefeld 2012. Rita Felski, Rethinking Tragedy, Baltimore 2008. Gerald Gillespie (Hg.), Romantic Drama, Amsterdam 1994. 17 Daniel Fulda, Thorsten Valk, Einleitung, in: dies. (Hg.), Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte - Kulturtheorie - Epochendiagnose, Berlin 2010, S. 1-20, hier. S. 2-5. 142 Maurice Cottier eigenen Kinder getötet hatten, ihre Taten vor Gericht als Tragödien, in denen sie die Hauptrolle spielten. Joëlle Guillais spricht ausgehend von der theatralischtragischen Erzählweise dieser Mörder von «commonplace Othellos». 18 Sie lebten in prekären Verhältnissen, die es ihnen erschwerten, dem Vorbild des souveränen Citoyens zu entsprechen. Zur tödlichen Gewalt kam es häufig nach persönlichen Krisen wie Trennungen, Scheidungen, gerichtlichen Verurteilungen, dem Entzug von Vormundschaft oder dem Verlust der Arbeitsstelle. Häufig kündigten die Angeklagten in solchen Fällen mit der Tat auch ihr eigenes Ableben an und versuchten sich selbst zu töten. Die Zeitgenossen rechneten diese «fatalistischen Gewalthandlungen» 19 zu den sogenannten crimes passionnels - dies ist ein journalistischer Begriff aus dem frühen 19. Jahrhundert -, die sich dadurch auszeichnen sollten, dass die Täter und Täterinnen ohne Vernunft und aus purer Leidenschaft handelten. Crime passionnels waren Gewaltverbrechen, die sowohl auf der Erzählals auch auf der Handlungsebene Ähnlichkeiten zum Fall Rivière aufweisen. Pieter Spierenburg macht darauf aufmerksam, dass solche Gewalttaten im Gegensatz zur allgemein rückläufigen tödlichen interpersonalen Gewalt zwischen dem 18. und dem frühen 20. Jahrhundert vor allem für diesen Zeitraum dokumentiert sind. 20 Auch etwa in der Schweizer Hauptstadt Bern, mit der ich mich im Rahmen meiner Dissertation befasst habe, nehmen die Gewalttaten, mit denen Täter und Täterinnen ein tragisches Schicksal inszenierten, im späten 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert zu. 21 In der tragischen Erzählweise dieser Mörder und Mörderinnen liegt der Schlüssel, um die Zunahme der crimes passionels im 19. Jahrhundert zu verstehen. Wichtig ist dabei, Tat und Text nicht unabhängig voneinander zu betrachten. Dies ist der zweite wichtige Hinweis in Foucaults Kommentar zu Rivières Memoire. Die Gewalttat und das tragische Erzählung verweisen aufeinander und verleihen sich gegenseitig Sinn. Obwohl die Dokumente mit den tragischen Erzählungen überwiegend erst nach der Tat entstanden, meist in Form von Verhörprotokollen, sollten diese nicht bloss als nachträgliche Rechtfertigung oder Sinnzuschreibung einer im 18 Joëlle Guillais, Crimes of Passion, New York 1990, S. 55-70. 19 Maurice Cottier, Raciti, Silvio, From Honour to Subjectivity. Interpersonal violence in Basel 1750- 1850 and Berne 1861-1944, in: Crime, Histoire & Sociétés 17/ 2 (2013), S. 101-125, hier S. 112-116. 20 Pieter Spierenburg, A history of murder. Personal violence in Europe from the Middle Ages to the present, Cambridge 2008, S. 136-142. Ähnliche Gewaltmuster können anhand der Auswertung von Gerichtsakten und Zeitungsartikeln aus dem 19. Jahrhundert für den industrialisierten Norden Frankreichs, für die Bundesstaaten im Nordosten der USA und Chicago festgestellt werden. Anne Parrella, Industrialization and Murder. Northern France 1815-1904, in: Journal of Interdisciplinary History 22/ 4 (1992), S. 627-654. Jeffrey S. Adler, First in Violence, Deepest in Dirt. Homicide in Chicago 1875-1920, Cambridge 2006, S. 45-84. Randolph Roth, American homicide, Cambridge 2009, S. 279-290. 21 Cottier, Raciti, From Honour to Subjectivity, S. 112-121. Vgl. dazu meine Dissertation: Fatale Gewalt. Ehre, Subjekt und Kriminalität am Übergang zur Moderne, die 2016 bei UVK erscheint. 143 Tragik und Gericht puren Affekt verübten Tat verstanden werden. 22 So gesehen war das Tragische nicht nur eine Erzähl-, sondern auch eine Handlungsweise. Man kann hier von einem Modus sprechen, der Text und Tat integriert. Durch den Modus des Tragischen forderten Rivière wie auch andere Zeitgenossen, die an den bürgerlichen Normen scheiterten oder zu scheitern drohten, die Gesellschaft heraus, in der sie sich bewegten und die ihnen das Leben schwer machte. Dem unterprivilegierten Bauernjungen eröffnete die tragische Selbstinszenierung einen, wenn nicht sogar den einzigen Weg, an der modernen Gesellschaft, an deren Rande er sich befand, aktiv teilzunehmen, sein Leid zu offenbaren, Grösse zu zeigen und genügend Aufsehen zu erregen, um in die Geschichte einzugehen. Wie zu zeigen sein wird, handelte und schrieb der Mörder Rivière nicht unabhängig von der Strafjustiz, die seine Tat sanktionierte. Um tragischer Held sein zu können, war er auf eine Schuldzuweisung und Verurteilung angewiesen. Die Strafgesetze waren so gesehen Bedingung für seine tragische Selbstinszenierung. Gleichzeitig beeinflusste die Art und Weise, in der das Memoire verfasst ist, wesentlich den psychiatrischen Blick auf den Mörder Pierre Rivière. Die Psychiater stützten sich nämlich bei ihren Diagnosen auf Rivières Text, dessen tragische Struktur sie aufgriffen und für ihre Zwecke modellierten. Mein Text soll Folgendes zeigen: Der Fall Rivière bietet aufgrund des ausführlichen und detaillierten Selbstzeugnisses des Angeklagten ein anschauliches Beispiel für die tragische Selbstinszenierung, welche typisch für das 19. und frühe 20. Jahrhundert war. Gleichzeitig hilft die Analyse von Rivières dabei, das «Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz» im 19. Jahrhundert tiefer auszuleuchten. Denn während die aufgeklärte Strafjustiz Rivière nichts entgegenzusetzen hatte als den Tod, den er herbeiwünschte und der als Bühne für seine tragische Selbstinszenierung diente, hielt die psychiatrische Deutung des Mordes Möglichkeiten bereit, um dem Mörder den selbsternannten Heldenstatus abzusprechen. Pierre Rivière dürfte daher ungewollt mit seinem Text und seiner Tat, wie viele andere tragische Mörder im 19. Jahrhundert, zum Siegeszug der medizinischen Deutung des Verbrechens beigetragen haben. 22 Würden nur die Narrative, nicht aber die Tat als tragische Selbstinszenierung verstanden, bestünde das Problem, dass die Tat auf andere Faktoren zurückgeführt werden müsste, etwa auf einen Affekt oder eine psychische Störung. Damit würden aber nicht nur - wie Foucault und die Herausgeber befürchten - psychologische oder psychopathologische Erklärungen verwendet, auch die Zunahme dieser Delikte im 19. und 20. Jahrhundert liesse sich nicht schlüssig herleiten. Offensichtlicher ist der Zusammenhang zwischen dem tragischen Erzählstil und der Gewalttat, wenn in den Gerichtakten Abschiedsbriefe zu finden sind, die vor der Tat verfasst wurden. Dies zeigt, dass das Tragische bereits vor der Tat die Handlungs-, Denk- und Wahrnehmungsweise der Gewalttäter anleitete. Im Fall Rivière liegt kein Abschiedsbrief vor. Allerdings steht im Memoire geschrieben, dass Rivière seine Erzählung bereits vor der Tat teilweise niederschreiben und dann erst dann die Morde begehen wollte. Dieser Punkt wird im nächsten Kapitel genauer besprochen. 144 Maurice Cottier Durch den Miteinbezug der Schrift und der Tat des Mörders in die Analyse des diskursiven Geflechts, welches der Fall Rivière darstellt, soll gezeigt werden, dass sich mediale, medizinische und juristische Diskurse nicht unabhängig von den Akteuren und Geschichten, auf die diese Bezug nahmen, entfalten. Der Mord und das Memoire von Pierre Rivère waren nicht bloss Auslöser für die Kommentare der Zeitungsreporter, Ärzte und Juristen, sondern nahmen einen einflussreichen Platz innerhalb eines komplexen Zusammenspiels ein. Stärker als Foucault und sein Team, aber auch stärker als die aktuellen Forschungen zu einzelnen Gerichtsfällen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert dies tun, plädiert mein Beitrag daher im Sinne von Carlo Ginzburg für eine historische Verortung der Akteure, Wahrnehmungen und Handlungen, von denen der ‘Fall’ handelt. Der Text ist folgendermassen aufgebaut: Bevor ich mit der Analyse des Memoires beginne, möchte ich auf Foucaults Kommentar zum Memoire eingehen, der trotz der oben beschriebenen Zurückhaltung des Herausgeberteams im Umgang mit Rivières Memoire zwei wichtige Anhaltspunkte für meine Argumentation liefert. Im letzten Kapitel soll dargestellt werden, wie sich das tragische Memoire in das von den Herausgebern des Falls Rivière analysierte Zusammenspiel zwischen Strafjustiz und Psychiatrie einreihen lässt. Michel Foucaults Kommentar zum Memoire In seinem Kommentar zum Memoire betont Foucault noch einmal die «Schönheit» dieses «sonderbare[n] Text[es]». 23 Er belässt es allerdings nicht bei diesem Geschmacksurteil, sondern unternimmt einen Versuch, den Text historisch einzuordnen. Foucaults Überlegungen hierzu bleiben skizzenhaft und unvollständig. Trotzdem beinhalten sie zwei Punkte, die für eine kulturhistorische Situierung von Rivières Narrativ aufgegriffen und weiter verfolgt werden können. Foucault ordnet Rivières Memoire in einen «Diskurs» ein, der, wie er beobachtet, zurzeit von Rivières Tat in den französischen «Zeitungen und Bücher» präsent war. 24 So ähnelt der Titel des Memoires Vollständiger Bericht nebst Erläuterungen des Ereignisses, welches sich zugetragen hat am 3ten Juni zu Aunay, Village de La Fauctrie, aufgeschrieben von Pierre Rivère, dem Urheber der Tat den Überschriften unzähliger Zeitungsberichte. Das ist der erste interessante Punkt in Foucaults Kommentar: Das Memoire ist Teil und Ausdruck eines journalistisch-literarischen Diskurses, der gleichermassen von den grossen Ereignissen der jüngeren Geschichte, der Revolution und der Kaiserzeit berichtet wie über aktuelle Verbrechen, was 23 Michel Foucault, Der Mord, den man erzählt, in: ders. (Hg.), Der Fall Rivière, S. 231. 24 Ebd., S. 235. 145 Tragik und Gericht dazu führt, dass die Grenzen zwischen Politik und (Il-)Legalität verschwimmen. 25 Durch Verzerrungen und Übertreibungen werden Letztere in die Nähe der Ersten gebracht. Der Mord nimmt in dieser Angleichung des «Historische[n] und [des] Alltägliche[n]» eine Schlüsselrolle ein, 26 denn er überschreitet die Grenze des «Gesetzlichen und des Ungesetzlichen». Foucault folgert daraus: «Der Bericht über den Mord findet seinen Platz in dieser gefährlichen Region, deren Reversibilität er sich zunutze macht: er verbindet das Verbotene mit der Unterwerfung, die Anonymität mit dem Heldentum; durch ihn rührt die Niedertracht an die Ewigkeit.» 27 Der zweite wichtige Punkt, den Foucault heraushebt, besteht darin, dass Rivières Mord und Text «konsubstaniell» waren. 28 Foucault spricht deshalb von einem «Mord-Bericht» oder «Mord-Memoire» 29 . Zwischen Mord und Text besteht eine enge Wechselbeziehung, in der beide sich gegenseitig Sinn verleihen und damit die Abgrenzung von Geschichte und Literatur perforieren. Verbindet man die Einheit von Text und Tat damit, dass das Memoire ein literarisches Zeugnis darstellt, dann bedeutet dies, dass Pierre Rivière sich in einem Zug literarisch als Held stilisierte und als solcher auch handelte, indem er tatsächlich mordete. Der literarisch-ästhetische Aspekt beschränkte sich daher nicht nur auf die schriftliche Repräsentation ex post, er war auch ex ante vorgegebener Handlungsmodus. Pierre tötete als Held. Der Mord geschah nicht unabhängig von der literarischen Darstellung im Memoire. Der Mörder erhielt durch diese Art der Berichterstattung über seine Tat die Möglichkeit, zum historischen Helden zu werden. Für Foucault haftet durch die literarische Ästhetisierung sowohl Rivières Memoire wie auch seiner Mordtat etwas Rebellisches und Subversives an. 30 Foucault erkennt darin, «eine Geschichte unterhalb der Mächtigen, die gegen das Gesetz ankämpft». 31 Das «Mord-Memoire» als tragischer Modus Aufbauend auf Foucaults Kommentar soll in diesem Kapitel das «Mord-Memoire» als literarisch-ästhetischer Text und Handlung analysiert und historisiert werden. 25 Foucault rückt das «Mord-Memoire» zudem in die Nähe von zeitgenössischen Flugschriften über Verbrechen, die neben einem kurzen Bericht über das Verbrechen auch eine in der ersten Person Singular verfasste Lyrik enthalten, mit denen sich der Verbrecher direkt an das Publikum richtet. Foucault, Mord, S. 238-240. 26 Ebd., S. 235. 27 Ebd., S. 237. 28 Ebd., S. 232. 29 Ebd., S. 234, 240. 30 Auf den widersprüchlichen Umgang Foucaults mit dem Literarischen als subversiver Kraft hat Achim Geisenhanslüke jüngst hingewiesen. Vgl. Achim Geisenhanslüke, Foucault, die Infamie und die Literatur, in: ders., Martin Löhnig (Hg.), Infamie. Ehre und Ehrverlust in literarischen und juristischen Diskursen, Regenstauf 2012, S. 21-35. 31 Foucault, Mord, S. 236. 146 Maurice Cottier Im Fokus stehen dabei die Handlung selbst, die Charakterisierung der Figuren, die darin vorkommen, und der Plot. Achtet man mehr auf die Form denn auf einzelne Aussagen der Erzählung, wird klar, dass das Memoire nicht nur inhaltlich an eine Serie von Zeitungsreportagen anknüpft, in denen das Alltägliche dem Historischen gleichgestellt wird. Es zeigt sich auch, dass die Transformation vom Alltäglichen zum Historischen in einer tragischen Form vollzogen wird. Durch seine Erzählung und seinen Mord stilisierte sich der einfache Bauernjunge Pierre Rivière als vermeintlich grossen Helden, der auf ruhmreiche Weise untergeht. Die Erzählung ist vierteilig gegliedert. Der erste Teil mit Ausführungen zum Eheleben von Pierres Eltern füllt rund zwei Drittel der Erzählung. Anfänglich erklärt Pierre, wie seine Eltern sich kennenlernten und bald daraufhin heirateten. Der Hauptgrund für die Vermählung ist, dass Pierres Vater aufgrund des neuen Zivilstands nicht mehr ins Militär eingezogen werden kann. Die Schwiegereltern sind zuerst für und dann gegen die Verheiratung ihrer Tochter. Bei der Auseinandersetzung um die Heirat ergreift die Mutter die Partei des Vaters, und wie der «Vater sie weinen sah, dachte er: sie liebt mich, denn sie weint, und schliesslich willigten ihre Eltern ein und man schloss dann den Ehevertrag […]». 32 Es folgt interessanterweise eine detaillierte Auflistung der Regelungen der Besitzverhältnisse, der Mitgift und des Erbes im Ehevertrag. Die rechtliche Situation in der Ehe Rivière ist durch den Code civil von 1832 geregelt. 33 Die einführenden Passagen deuten es bereits an: Die Ehe von Pierres Eltern ist entgegen der anfänglichen Hoffnung des Vaters im Moment der Eheschliessung von Beginn an eine unglückliche. Die Mutter weigert sich, einige Tage nach der zivilrechtlichen Heirat ihrem Mann auch in der Kirche das Ja-Wort zu geben. Eine Hochzeitsnacht findet laut Pierre nie statt. Mutter und Vater leben nicht als Ehepaar zusammen, sondern getrennt auf den Höfen ihrer Eltern, wobei der Vater das ihm vertraglich zustehende Land auf dem Hof der Mutter bewirtschaftet. Auf den nächsten Seiten beschreibt Pierre mehrere Episoden, die alle auf ähnliche Weise die Misere der elterlichen Ehe illustrieren. Dabei zeichnen sich die Grundzüge eines Konflikts ab. Der Vater gibt sich Mühe, eine gute und ordentliche Ehe zu führen, kommt der Mutter in allen möglichen Belangen entgegen. Die Mutter wiederum widersetzt sich dem Vater, wo und wie sie nur kann und reagiert auf seine Annäherungsversuche mit Verachtung, Hohn und Spott. 32 Vollständiger Bericht nebst Erläuterung des Ereignisses, welches sich zugetragen hat am 3. Juni zu Aunay, Village de la Fauctrie, aufgeschrieben vom Urheber dieser Tat, S. 65. 33 Ausführlich geht Fréderic Deshusses auf die Darstellung der zivilrechtlichen Streitigkeiten ein, die im Memoire geschildert werden. Vgl. Fréderic Deshusses, Etre son propre juge - éléments pour un nouveau dossier Pierre Rivière, in: Carnets de bord 9 (2005), S. 35-42. 147 Tragik und Gericht Es handelt sich bei diesen Ausführungen um eine Art Exposition, die den Leser in die Erzählung einführt und die Linien für den tragischen Konflikt vorzeichnet. Der Vater sucht die Nähe der Mutter, diese geht auf Distanz. Die Ehe der Eltern steht von Anfang an unter einem schlechten Stern. Sie ist zwar rechtlich gültig, aber ansonsten nicht existent, was sich laut dem Memoire daran zeigt, dass keine kirchliche Hochzeit gefeiert wurde, keine Hochzeitsnacht stattfand und die Eltern nicht zusammenleben. Damit wird auch die negative Rolle des Zivilrechts angedeutet, die für den tragischen Konflikt bedeutsam sein wird. In mehreren Episoden wird deutlich, dass sich der Konflikt in stereotyper Weise zwischen dem guten, rechtschaffenen, fürsorglichen, treuen und grosszügigen Vater und der bösen, streitsüchtigen, verlogenen, lieblosen, geldgierigen und ehebrecherischen Mutter abspielt. Die Jahre vergehen, trotz der ehelichen Misere werden Kinder geboren, aber an der Konfliktkonstellation verändert sich nichts. Als die ältesten Kinder Victoire und Pierre heranwachsen, nehmen sie ebenfalls am Konflikt zwischen ihren Eltern teil. Während Victoire sich der Partei der Mutter anschliesst, steht Pierre fest hinter dem Vater. Mit dem Tod von Pierres Grossmutter mütterlicherseits 1833, also ungefähr zwei Jahre vor Pierres Morden, setzt die eigentliche Handlung ein, die daraus besteht, dass sich der Gemütszustand des Vaters immer mehr trübt. Die Leiden des Vaters sind grundlegend für die Tragik. Sie werden durch retardierende Momente akzentuiert. Mehrere Male hat es den Anschein, als käme es zwischen den Eltern zu einer Annäherung. Auf diese Hoffnungsschimmer folgen aber immer herbere Rückschläge, die dem Vater noch mehr zusetzen. Die Auseinandersetzung zwischen dem Vater und der Mutter drehte sich um die Bewirtschaftung und die Verpachtung des mütterlichen Hofes, das Zusammenleben auf dem väterlichen Hof sowie das Schuldenmachen durch die Mutter und die Schwester Victorie und den Krankheitstod eines Bruders, für den die Mutter den Vater verantwortlich macht. Sowohl der Vater als auch die Mutter wenden sich bei diesen Konflikten an Pfarrer, Anwälte und Friedensrichter und begegnen sich mehrmals vor Schiedsgerichten. Wichtig an diesen Episoden ist, dass weder die Juristen noch die Geistlichen den Vater gegen die Gemeinheiten der Mutter schützen wollen oder können. Das Recht vermag, so die Erzählperspektive, keine Gerechtigkeit zu stiften und trägt daher wesentlich zu den Leiden des Vaters bei. Dem geht zunehmend schlechter, so dass er krank wird und offen Todeswünsche äussert. Pierre schliesst den ersten Teil mit dem Vermerk: «Ende der Zusammenfassung der Leiden meines Vater.» 34 34 Vollständiger Bericht nebst Erläuterung des Ereignisses, welches sich zugetragen hat am 3. Juni zu Aunay, Village de la Fauctrie, aufgeschrieben vom Urheber dieser Tat, S. 106. 148 Maurice Cottier Das Leid ist laut Mark W. Roche eine wichtige Voraussetzung des Tragischen. Allerdings genügt es für sich alleine nicht. Die Figur des Vaters, die über keinen erkennbaren Willen verfügt, seine Situation zu ändern, ist nicht tragisch, sondern eher bemitleidenswert. Zur Tragik fehlt dem Vater die Grösse, sich vehement gegen sein Leid zu erheben. Damit aus dem Ehekonflikt ein tragischer Konflikt wird, braucht es einen tragischen Helden. Diesen Part übernimmt Pierre, wie im zweiten Teil der Erzählung deutlich wird. 35 Nach der langen Erzählzeit des ersten Teils macht sich Pierre im zweiten Teil daran, in verhältnismässig kurzen Ausführungen seinen «Charakter zu erklären», wie es ihm die Richter aufgetragen hatten. 36 Da Pierre das erste Kind der Familien war, verläuft die Erzählung über Pierres Leben parallel zur Darstellung der Ehe- und Familienstreitigkeiten, ohne sich jedoch vorerst mit diesem Erzählstrang zu kreuzen. Das unglückliche Ehe- und Familienleben des Vaters spielt also in der Schilderung von Pierres Leben keine Rolle. Die Charakterisierung des Ich-Erzählers und der Hauptfigur stellt wiederum eine Art Exposition dar, bei der mit aller Deutlichkeit auf die Grösse des Helden hingewiesen wird. Damit wird eine wichtige Grundlage für den tragischen Charakter des Texts gelegt. Pierre sieht sich von Beginn seines Lebens als herausragender Aussenseiter. «Als ich klein war, das heisst mit 7, 8 Jahren, war ich ganz fromm. Ich zog mich zurück und hielt mich abseits, um zu Gott zu beten […] Später änderten sich meine Ideen, und ich dachte, dass ich wie die anderen Menschen wäre. Indes zeigte ich Eigenheiten.» 37 Die Besonderheit stellt sich über die Lektüre von Büchern ein: «Das, was ich schon gelesen hatte, gab mir diese Gedanken ein […]». Pierre liest laut eigenen Angaben die Bibel und andere christliche Texte, zudem «Kalender», ein «Geographiebuch» sowie «etliche Geschichtsbücher», darunter «das von Bonaparte» und die «römische Geschichte». Die Auseinandersetzung mit der «Astronomie» nimmt ihm, drei Jahre vor der Tat und der Niederschrift des Memoires, «den Glauben». Der Aussenseiterstatus, den sich Pierre selbst zuschreibt, ist eng verbunden mit der Vision von herausragender Grösse. «Damals [ungefähr im Jahr 1832] und schon früher war ich verzerrt vom Gedanken an Grösse und Unsterblichkeit, ich hielt mich für viel bedeutender als die anderen, und ich habe mich geschämt, es zu sagen, ich dachte, dass ich mich über meinen Stand erheben würde.» 38 Mit Erfindungen neuer Geräten will sich Pierre «unterscheiden». So fertigt er ein 35 Auf den narrativen Zusammenhang zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Memoires verweist auch Lovitt, The Rhetoric of Murderers’ Confessional Narratives. 36 Vollständiger Bericht nebst Erläuterung des Ereignisses, welches sich zugetragen hat am 3. Juni zu Aunay, Village de la Fauctrie, aufgeschrieben vom Urheber dieser Tat, S. 106. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 107 149 Tragik und Gericht «Gerät zum Vogelschiessen» an, welchem er «den Namen Kaliben» gibt. 39 Er will «immer etwas lernen und sich bilden.» Wenn er einmal über genügend Geld verfügen würde, kaufte er sich den «vollständigen Unterweisungskurs von Abbé Gaultier». Sein Ziel ist es, «höher hinaus [zu] kommen.» 40 An diesen Ausführungen wird deutlich erkennbar, dass die Figur Pierre Rivière, wie sie im Memoire gezeichnet wird, nicht vollständig der bäurischen Welt zuzurechnen ist, in der sie lebt. Diese Welt ist der Figur Rivière eher fremd. Obwohl Rivière in der Landwirtschaft arbeitet, beschäftigt er sich lieber mit grossen Fragen der Menschheit und wollte durch Erfindungen den technischen Fortschritt befördern. Die Figur des heranwachsenden Pierre Rivières, wie sie im Memoire gezeichnet wird, ist ein nach Grösse und Ruhm strebender Protagonist des fortschrittsgläubigen 19. Jahrhunderts. Im dritten Teil der Erzählung, die den Mord zum Gegenstand hat, verbinden sich die Erzählstränge zu den Leiden des Vaters und der Grösse Pierres. An dieser Stelle lohnt es sich, eine längere Textpassage aus dem Memoire, die das Tragische deutlich macht, vollständig wiederzugeben: Trotz diesem Verlangen nach Ruhm, das ich hatte, liebte ich meinen Vater sehr und seine Pein traf mich sehr empfindlich. […] Ich fasste den schrecklichen Plan, den ich ausgeführt, ich habe etwa einen Monat vorher daran gedacht. […] [Mein] Vater schien mir rasenden Hunden oder Barbaren in die Hände gefallen, gegen die ich die Waffen zu erheben hatte, die Religion verbot solche Dinge, aber ich vergass ihre Gebote, es schien mir sogar, dass Gott mich dafür ausersehen hatte und dass ich sein Urteil vollstrecken sollte, ich kannte die menschlichen Gesetze, die Gesetze der Polizei, aber ich hielt mich für weiser als sie, ich erachtete sie für niederträchtig und schändlich. Ich hatte die römische Geschichte gelesen, und ich hatte gesehen, dass die Gesetze der Römer dem Manne das Recht über Leben und Tod seiner Frau und seiner Kinder gaben. Ich wollte den Gesetzen trotzen, es schien mir, dass das ruhmvoll für mich wäre, dass ich dadurch, dass ich für meinen Vater starb, unsterblich würde […]. 41 Diese Passagen bringt das Tragische der Erzählung deutlich zum Vorschein. Die Leiden des Vaters werden zu Pierres Leiden. Anders als der bemitleidenswerte Vater ist dieser gewillt, sich gegen das Schicksal zu erheben. Dies führte unweigerlich in eine ausweglose Situation. Seine Grösse verbietet es Pierre, die Erniedrigungen des Vaters tatenlos hinzunehmen. Um den Leiden ein Ende zu setzen, muss er zwingend gegen die geltenden religiösen und weltlichen Gesetze verstossen und sich gleich den «Römern» in Selbstjustiz üben. Dies tut er in der Annahme, dass es ihm den sicheren Untergang, aber auch unsterblichen Ruhm bringen würde. 39 Ebd., S. 108. Kursiv im Original. 40 Ebd., S. 109. 41 Ebd., S. 109f. 150 Maurice Cottier Pierre fasst den Plan, die Mutter, die Schwester Victoire sowie den Bruder Jules, der mit Mutter und Schwerster zusammenlebt, zu töten. Mutter und Schwester sollen sterben, weil sie den Vater peinigen. Mit dem Mord am jüngeren Bruder Jules will Pierre hingegen verhindern, dass sein Vater nach der Tat mit ihm Mitleid hätte. Dies hätte seinen tragischen Heldenstatus gefährdet. Nach der Tat will Pierre sich selbst umbringen. Gleichzeitig beschliesst er, vor der Tat «das ganze Leben [s] eines Vaters und [s]einer Mutter aufzuschreiben […]». 42 Es handelt sich um die Episode, an der Foucault, wie weiter oben gezeigt, die Einheit von Pierres Tat und Text demonstriert. 43 Pierre ändert seinen Plan. Er will nun die Tat begehen und sich dann der Justiz stellen: [Erst] dann wollte ich eine Erklärung abgeben, dass ich für meinen Vater sterben würde, dass man vergebens auf der Seite der Frauen ist, dass diese da nicht triumphieren würde, dass mein Vater fortan in Ruhe und Glück leben könnte; ich wollte auch dieses sagen: einst sah man Jael gegen Sirara, Judith gegen Holophernes, Charlotte Corday gegen Marat; jetzt müssen die Männer einmal den Spiess herumdrehen, jetzt regieren ja die Frauen, dieses schöne Jahrhundert, das sich Jahrhundert der Aufklärung nennt, diese Nation, die scheinbar die Freiheit und den Ruhm so sehr schätzt, gehorcht den Frauen, die Römer waren da weit kultivierter, die Huronen und die Hottentot[t]en, die Alkongins, diese Völker, die man blödsinnig nennt, sind es sogar viel mehr, sie haben noch niemals die Stärke herabgewürdigt, es waren immer die körperlich Stärkeren, die immer bei ihnen das Gesetz gemacht haben. Ich dachte, dass es für mich ruhmvoll wäre, wenn meine Gedanken denen aller meiner Richter entgegen gesetzt wären, wenn ich gegen die ganze Welt antreten würde; ich stellte mir Bonaparte im Jahr 1815 vor. Ich sagte mir auch: dieser Mann hat Tausende von Menschen umkommen lassen, um eitle Launen zu befriedigen, es ist also nicht gerecht, dass ich eine Frau am Leben lasse, die den Frieden und das Glück meines Vaters stört. Ich glaubte, die Gelegenheit gekommen, um mich zu erheben, dass mein Name in der Welt Aufsehen erregen würde, dass ich mich durch meinen Tod mit Ruhm bedecken würde und das in künftigen Zeiten meine Gedanken Zustimmung finden würden und das man mich verherrlichen würde. 44 Diese Ausführungen zeigen, dass es Pierre nicht bloss darum geht, den Leiden seines Vaters ein Ende zu setzen. Seine Mordtat soll den Ausschlag geben zu einer Rückkehr zu einer neuen alten Ordnung, in der wieder das Recht der Stärkeren gel- 42 Ebd., S. 111. 43 Dem Lebenslauf der Eltern will Pierre eine «Anzeige der Tat stellen und an das Ende [s]eine Gründe, sie zu begehen […]». Bevor er die Tat begehen will, sollten ihre Gründe also schriftlich dokumentiert sein. Der Plan war der folgende: Pierre schreibt den Text auf, begeht die Tat, bringt den Text zur Post und erschiesst sich dann mit einem eigens dafür bereitgestellten Gewehr. Pierre hat aber Schwierigkeiten, das Vorhaben umzusetzen. Er beginnt zwar die ‘Anzeige’ aufzusetzen, wird aber immer wieder beim Schreiben gestört oder schläft ein. Schliesslich verbrennt er den unfertigen Text «[a]us der Furcht», er könne gelesen werden. Ebd., S. 112. 44 Ebd., S. 113. 151 Tragik und Gericht ten würde. Pierre, der aufgrund seiner Grösse den Missständen nicht länger untätig beiwohnen kann, opfert sich also nicht nur für seinen Vater, sondern auch für eine bessere Welt. Der Mord richtet sich in Rivières Augen gegen die aufklärerische Gesellschaft mit ihren vermeintlich falschen Vorstellungen von «Freiheit» und «Ruhm», in der Frauen über die Männer regieren. 45 Pierres Streben nach Ruhm zeigt sich auch bei den Schilderungen der Tat. Zur Mittagszeit des 3. Juni 1835 greift er zu einer Hippe und erschlägt damit seine Mutter, seine Schwester Victoire und seinen Bruder Jules und erklärt den herbeieilenden Nachbarn: «[I]ch sterbe, damit [die Grossmutter und der Vater] wieder Ruhe und Frieden haben.» 46 Danach macht sich Pierre auf den Weg nach Vire, wo er sich, «weil [er] für sich den Ruhm haben wollte», selbst die Behörden über seine Tat informieren wollte. Auf dem Weg überkommen ihn aber Zweifel: «Unterwegs fühlte ich den Mut und meine Begierde nach Ruhm, die mich beseelten, schwächer werden, und als ich ein gut Stück Weg gegangen war, gelangte ich in die Wälder und kam wieder zur Vernunft, ist es möglich, sagte ich mir, was bin ich für ein Ungeheuer! » 47 Im vierten Teil zieht Pierre im Anschluss an den Mord während eines Monats durch die Normandie. Für die Zukunft bestehen drei Möglichkeiten: Entweder Pierre tötet sich selbst, lebt abseits der Gesellschaft als Einsiedler in den Wäldern oder er lässt sich verhaften. Aufgrund des entbehrlichen Lebens abseits der Gesellschaft glaubt Pierre, dass er «auf diese Art und Weise nicht durchkommen würde», und beschliesst, sich dem Gericht zu stellen. 48 Allerdings hat er «Angst, wirklich ganz die Wahrheit zu sagen», 49 weshalb er sich ein «Sistem [sic]» 50 ausdenkt: [I]ch wollte sagen, dass ich durch Gesichte dazu gebracht worden wäre, dass ich von all den Leiden meines Vater so durchdrungen gewesen wäre, dass ich Geister und Engel gesehen hätte, die mir gesagt hätte, auf Geheiss Gottes zu handeln, dass ich schon immer dazu ausersehen gewesen sei und dass sie mich in den Himmel empor heben würde. 51 Nach einer weiteren Zeit in den Wäldern wird Pierre schliesslich von einem Gendarm aufgegriffen. In der Haft nimmt er sich vor, die «Wahrheit zu sagen», befolgt aber dennoch im ersten Verhör sein «Sistem». Schliesslich kann er sich aber durch- 45 Rivière schrieb: «[J]etzt müssen die Männer einmal den Spieß herumdrehen, jetzt regieren ja die Frauen, dieses schöne Jahrhundert, das sich das Jahrhundert der Aufklärung, diese Nation, die scheinbar die Freiheit und den Ruhm so sehr schätzt, gehorcht den Frauen […]». Ebd. 46 Ebd., S. 117. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 120. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 123. 51 Ebd., S. 120. 152 Maurice Cottier ringen, die Wahrheit zu gestehen: «Da bekannte ich alles, was mich zu dem Verbrechen getrieben hatte, ohne etwas zu verbergen. Man sagte mir, ich solle all das schriftlich niederlegen, und hier habe ich alles niedergelegt […]». Das Memoire endet mit den folgenden Worten: «[E]s bleibt mir nichts [als meinen Opfern] zu folgen; so erwarte ich denn die Strafe, die ich verdiene, und den Tag, der all meiner Bitterkeit eine Ende bereiten wird.» 52 Der vierte Teil ist vor allem deshalb interessant, weil er zeigt, dass Rivière zuerst vom Modus des Tragischen abweicht und sich nicht wie vorgenommen dem Gericht stellt. Stattdessen treibt er sich zaghaft in den Wäldern umher und überlegt, ob er sich als Geisteskranker ausgeben soll. Dies hätte ihm aufgrund von Unzurechnungsfähigkeit Straffreiheit gewährt. Diese Variante hätte ihn allerdings auch um den Heldenruhm gebracht. Schliesslich entscheidet er sich, die Wahrheit zu sagen. Der Modus des Tragischen im Verhältnis zwischen Strafjustiz und Psychiatrie Zu den Tötungen in Aunay im Juni 1835 kam es nicht unabhängig von der Strafjustiz, die darüber zu urteilen hatte. Wie jetzt zu zeigen sein wird, stand das tragische «Mord-Memoire» in einem doppelten Bezug zur aufgeklärten Strafjustiz. Rivière stellte sich durch seine tragische Selbstinszenierung bewusst über das Justizsystem, welches als Institution die Prinzipien der Moralphilosophie der Aufklärung verkörperte, aber nach Rivières Vorstellungen unfähig war, Gerechtigkeit zu stiften. 53 Der Dreifachmord kam einer radikalen Kritik an der bürgerlich-modernen Gesellschaft gleich. Rivière begriff seine Morde als revolutionären Dienst an der Menschheit. Das «Mord-Memoire» kann daher mit Fulda und Valk als Ausdruck einer Kultur des Tragischen verstanden werden, die eine Alternative zur vernunftbezogenen und fortschrittsgläubigen Moralphilosophie der Aufklärung darstellte. Die Strafjustiz stellte mit ihrer öffentlichen Gerichtsverhandlungen die nötige Bühne für Rivières tragische Selbstinszenierung zur Verfügung. Wie Foucault analysiert, verband der Mord im 19. Jahrhundert die «Anonymität mit dem Heldentum», «durch ihn rührt die Niedertracht an die Ewigkeit.» In einem gewissen Sinn war die Strafjustiz dem Treiben Rivières hilflos ausgesetzt. Durch die absolute Unterscheidung zwischen Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähig musste sie den Mörder Rivière entweder freisprechen oder ihn zum Tode verurteilen. 52 Ebd., S. 126. 53 Ausführlich zu den moralphilosophischen Grundlagen der aufgeklärten Strafjustiz siehe Regula Ludi, Die Fabrikation des Verbrechens. Zur Geschichte der modernen Kriminalpolitik, Tübingen 1999. 153 Tragik und Gericht Vor Gericht traf der Modus des Tragischen im 19. Jahrhundert zunehmend auf ein «anderes Spiel», wie Foucault in seinem Kommentar feststellt: dasjenige der forensischen Psychiatrie. 54 Die Aktensammlung enthält drei verschiedene psychiatrische Gutachten. Im Unterschied zum Provinzarzt Bouchard erklärten sowohl Vastel, ein Psychiater aus Caen, als auch die Pariser Spezialisten um Jean-Étienne Esquirol Rivière für geisteskrank. Vastel und die Pariser Spezialisten stützten ihre Diagnosen zu wesentlichen Teilen auf das Memoire. Anders als die Juristen behandelten die Ärzte das Memoire weniger als Schuldeingeständnis, sondern schlossen davon ausgehend auf Rivières Geisteszustand. Diesen Interpretationsansatz, der für die Strafjustiz im Verlauf des 19. Jahrhundert immer wichtiger wurde, stellen Foucault und das Forscherteam in den Vordergrund ihrer Analyse. Im Fall Rivière kam der tragischen Erzählung des Mörders für dieses «andere Spiel» eine grundlegende Bedeutung zu. Auffallend ist nämlich, dass Vastel und die Pariser Ärzte die tragische Struktur des Memoires nicht offenlegten und dekonstruierten, sondern in abgewandelter Form für ihre Diagnose nutzten. Dies lässt sich anschaulich am Gutachten von Vastel zeigen, das ebenfalls als Erzählung analysiert werden kann: Wie im Memoire geht der Autor auf die Missstände im Hause Rivière ein. Das Leid des Vaters ist auch hier unbestritten, allerdings rührt es nicht mehr von der behaupteten Gemeinheit und Bösartigkeit der Mutter her, sondern von ihrer schweren Geisteskrankheit. Vor dem Hintergrund der Hereditätslehre 55 verbinden sich besonders in Vastels Narrativ die Ausführungen zum Ehe- und Familienkonflikt der Rivières mit der Tat. Pierre reagiert mit der Tat nicht länger empfindlich und grossartig auf das unerträgliche Leid des Vaters, sondern er tötet, weil er an einer von der Mutter vererbten Geisteskrankheit leidet. Die jugendlichen Anzeichen von Besonderheit, mit denen Pierre in der Exposition des Memoires seine heldenhafte und erhabene Grösse andeutet, modellieren sowohl Vastel als auch die Pariser Ärzte zu frühen Symptomen von Geisteskrankheit. Während der Mord im Memoire den Heldenstatus Pierres sichert, liefert er in den Gutachten den endgültigen Beweis für Pierres gestörte psychische Konstitution. Durch diese Umdeutungen nehmen die Psychiater der Hauptfigur die Grösse. Rivière ist nicht län- 54 Foucault, Mord, S. 240. 55 Zum Stellenwert der Hereditätslehre und Eugenik in den Humanwissenschaften des 19. und vor allem frühen 20. Jahrhunderts vgl. Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen eugenischen Bewegung im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2014; Regina Wecker, Sabine Braunschweig, Gabriela Imboden, Hans Jakob Ritter (Hg.), Eugenik und Sexualität. Die Regulierung reproduktiven Verhaltens in der Schweiz 1900-1960, Zürich 2013; Thomas Kailer, Vermessung des Verbrechers. Die kriminalbiologische Untersuchung in Bayern, 1923-1945, Bielefeld 2011; Richard F. Wetzell, Inventing the criminal. A history of German criminology, 1880-1945, Chapel Hill 2000. 154 Maurice Cottier ger ein tragischer Held, der sich gegen eine ungerechte Ordnung erhebt, sondern ein Geisteskranker. Unter Mitberücksichtigung des Tragischen wird Foucaults Feststellung besser verständlich, dass das Memoire, mit dem Rivière den Richtern seine Schuldfähigkeit demonstrieren und so seine ruhmbringende Hinrichtung provozieren wollte, diesen nun selbst «narrte». 56 Indem Vastel und die Pariser Grössen die Erzählstruktur des Texts für ihre Gutachten übernahmen, modellierten sie den tragischen Held Rivière zu einem Geisteskranken, der zwar zum Schutz der Gesellschaft weggesperrt gehört, aber aufgrund geminderter Zurechnungsfähigkeit nicht hingerichtet werden darf. Die tragische Struktur des Memoires ist für die humanwissenschaftliche Deutung von Rivières Morden konstitutiv. Ähnlich wie Rivière sich die aufgeklärte Strafjustiz für seine tragische Selbstinszenierung zunutze machte, griffen die Ärzte auf seine Selbstdarstellung zurück, um ihr Konzept des anormalen oder geisteskranken Verbrechers durchzusetzen. Schluss Im 19. Jahrhundert stellte das Tragische ein Gegennarrativ zum vernunftbezogenen Erfolgsnarrativ der Aufklärung dar. Als solches eröffnete es alternative Wege, um im «Jahrhundert der Aufklärung», wie Rivière die Zeit, in der er lebte, verächtlich nannte, zu Ruhm und Ehre zu gelangen. 57 Für einen jungen Bauern, wie für andere unterprivilegierte Zeitgenossen, die sich am Rand der Gesellschaftsordnung befanden, stellte das Tragische beim Streben nach Erfolg und Grösse den wohl einzigen kulturellen Modus dar, um von sich Reden zu machen. Voraussetzung dafür war die Begehung eines Mordes. Dies bedeutet auch, dass der Modus des Tragischen nicht unabhängig von der Strafjustiz existierte. Die Strafjustiz war gewissermassen die Voraussetzung für Rivières tragische Selbstinszenierung. Die öffentliche Gerichtsverhandlung bot sich als Bühne für sein Streben nach Ruhm an. Darum machte sich der Modus des Tragischen die Institution der Strafjustiz zunutze. Umgekehrt war die Beziehung des Tragischen zur forensischen Psychiatrie, welche die narrative Struktur von Rivières Memoire aufgriff und modellierte. In den Gutachten zeugt das Vorleben Rivières nicht mehr für die heldenhafte Grösse eines Helden, der die Welt verändern wollte, sondern von der gefährlichen Geisteskrankheit eines Anormalen. In den psychiatrischen Gutachten erscheint Rivière nicht mehr als Held, sondern als geisteskranker Anormaler. Die Psychiater sprachen aber nicht nur Rivière die von ihm selbst proklamierte Grösse ab. Im Unter- 56 Foucault, Einführung, S. 12. 57 Vollständiger Bericht nebst Erläuterung des Ereignisses, welches sich zugetragen hat am 3. Juni zu Aunay, Village de la Fauctrie, aufgeschrieben vom Urheber dieser Tat, S. 113. 155 Tragik und Gericht schied zu den Juristen griffen sie in ihren Gutachten Rivières tragische Erzählweise auf und verwendeten sie für ihre eigene Darstellung. Der Modus des Tragischen legte folglich einen Grundstein für die humanwissenschaftliche Deutung des Verbrechens im 19. Jahrhundert. 58 Im diskursiven «Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz» nahmen die Schrift und die Tat Rivières folglich einen wichtigen Stellenwert ein. Um dies zu erkennen, reicht es nicht aus, sich bei der Fallanalyse bloss auf die kulturhistorische Verortung der Texte der Richter und Ärzte zu konzentrieren. Rivières «Mord-Memoire» war als tragische Selbstinszenierung ebenso Teil der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts wie die strafrechtlichen und psychiatrischen Diskurse, die es aufgriffen. 58 An anderer Stelle zeige ich anhand von Texten des Schweizer Psychiaters Auguste Forel, dass der humanwissenschaftliche Diskurs über die sexuelle «Entartung» oder «Degeneration» um 1900 tragisch strukturiert war. Maurice Cottier, Tragische Verhängnisse. Erzählstile und sexuelle Gewalt im Amtsbezirk Bern um 1900, in: Oliver Böni, Japhet Johnstone (Hg.), Crimes of Passion. Repräsentationen der Sexualpathologie im Frühen 20. Jahrhundert, Berlin 2015, S. 301-322, hier S. 317-320. Allgemein aus kulturhistorischer Perspektive zum Degenerationsdiskurs vgl. Daniel Pick, Faces of degeneration. A European disorder, c.1848-c.1918, Cambridge 1993.