Sieben Kapitel über Natur und Menschenleben 

II. St. Martin und die Möwen

Sieben Kapitel über Natur und MenschenlebenII. St. Martin und die Möwen10.24894/978-3-7965-4424-8Christian GnilkaII St. Martin und die Möwen* 1. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf ein kleines Stück aus dem Martinswerk des S u l p i c i u s S e v e r u s lenken. Der gewählte Titel mag vielleicht sonderbar anmuten - so als solle eine Nebensache zur Hauptsache gemacht werden, oder schlimmer noch: als solle ein Gegenstand christlicher Literatur und Frömmigkeit auf die Ebene des Antiquitätischen und Skurrilen herabgewürdigt werden. Von dieser Mode weiß ich mich jedoch frei, und Nebensächlichkeiten kann es in den Martinsschriften des Sulpicius überhaupt nicht geben. Richard Heinze leitete einen seiner Aufsätze mit der Bemerkung ein: »Es sind Kleinigkeiten, die ich bringe, und nicht alles ist neu; aber bei einem solchen in jedem Wort zugespitzten Meisterwerk soll man nicht ruhen, bis das volle und gesicherte Verständnis jedes Worts erreicht ist«. Da ging es freilich um Senecas Apocolocyntosis 1 , und kein größerer Unterschied läßt sich denken als der zwischen jener Spottschrift und einer christlichen Heiligenvita. Und dennoch: was der Menippea recht ist, ist dem Martinswerk billig. Denn auch Sulpicius bietet auf seine Art literarische Kunst, und zwar in allen Teilen des »dossier martinien«: in der noch zu Lebzeiten des Heiligen, also vor dem November 397, verfaßten Vita; in den drei Briefen, welche die Vita ergänzen; in den Dialogi, die das Bild Martins im Vergleich mit den Asketen des Ostens malen. Der Vita war sogleich nach ihrem Erscheinen ein gewaltiger Publikumserfolg beschieden, zur lebhaften Freude der Buchhändler 2 ; sie verbreitete sich rasch über alle Teile der christlichen Welt, so daß man sich fast wundern muß, daß nur ein einziger antiker Textzeuge, der von Ursicinus im Jahre 517 geschriebene Veronensis, auf uns gekommen ist. Auf der Grundlage der Vita und der Dialogi des Sulpicius stehen die beiden großen hexametrischen Gedichte De vita S. Martini des Paulinus v. Perigueux und Venantius Fortunatus mit ihren über dreitausendsechshundert bzw. über zweitausendzweihundert Versen; und die Verehrung Martins hatte zur Zeit des letzteren bereits * Ich habe der Darstellung den Charakter des Vortrags belassen, den ich am 27.9.1982 anläßlich der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft in Bonn hielt. 1 R. Heinze, Zu Senecas Apocolocyntosis, Hermes 61 (1926) 49/ 78, ebd. 49. 2 Sulp. dial. I 23, 3/ 7. 82 einen solchen Grad erreicht, daß sein Zeitgenosse, Gregor v. Tours, die vier Bücher De virtutibus S. Martini mit den Wundern füllen konnte, von denen frommer Glaube annahm, sie seien der Fürsprache dieses Heiligen zu verdanken. Wie ein starker Strom zieht sich die Martinsverehrung durch die christlichen Jahrhunderte, Kunst und Kultus der katholischen Kirche befruchtend, wirksam sogar noch im rheinischen Brauchtum unserer Tage und dieser Stadt, in der wir uns versammelt haben. Angesichts solcher Wirkung, die weit über das Gebiet des bloß Literarischen hinausreicht, dürfen die genannten Texte des Sulpicius mit besonderem Recht den Anspruch auf philologisch saubere und zugleich einfühlende Behandlung des Details erheben. Äußerlich scheint dieser Anspruch für einen Teil des Martinswerks erfüllt. In den Jahren 1967-1969 brachte Jacques Fontaine in der Reihe der Sources Chrétiennes N o 133-135 die große dreibändige Edition der Vita und der Briefe heraus. Sie enthält eine Einleitung, einen neu erstellten Text samt französischer Übersetzung, einen ausführlichen Kommentar in essayistischer Form und Indices - alles in allem sind das über eintausendvierhundert Seiten zur Darbietung und Aufbereitung lateinischer Texte, die in der Halmschen Ausgabe des Corpus Vindobonense (1866) etwa vierzig Seiten ausmachen. Durch Fontaines Kommentar belebte sich das gelehrte Interesse an der Vita Martini für kurze Zeit. Es erschienen von 1969 bis 1971 zahlreiche Besprechungen, darunter auch solche, die den Charakter selbständiger Aufsätze tragen 3 . Seitdem ist es um die Martinsvita wieder stiller geworden. Allerdings steht sie auch in der von Christine Mohrmann betreuten Reihe Vite dei Santi (Bd. IV, 1975): nebst italienischer Übersetzung von Luca Canali, einer kurzen Einleitung aus der Feder Christine Mohrmanns und einem knappen, aber nützlichen Kommentar von Jan W. Smit. Wenn ich eben bemerkte, dem Erfordernis exakter und zugleich liebevoller Interpretation sei ä u ß e r l i c h Genüge getan, so sollte damit nicht die bedeutende Leistung Fontaines im Ganzen herabgesetzt werden. Aber es muß um der Sache willen klar ausgesprochen werden, daß die gelehrten Beobachtungen und einfallsreichen Kombinationen dieses breit angelegten, essayhaften Kommentars durchsetzt sind mit höchst bedenklichen Interpretamenten. Dies festzustellen wäre vielleicht weniger nötig, wenn nicht bei Texten solcher Art interpretatorische Mängel bisweilen auch eine mangelhafte Beurteilung größerer Zusammenhänge christlicher Geistesgeschichte im Gefolge hätten. 3 P. Antin, Revue Mabillon (Ligugé Abbaye) 58, 1970, 25/ 36; P. Courcelle, Journal des Savants 1970, 53/ 58; Y. M. Duval, Caesarodunum 1969, 207/ 09; E. Griffe, Bulletin de Littérature Ecclésiastique 70 (1969) 184/ 98. Außerdem sind mir noch 25 Rezensionen bekannt. 83 2. Die Möwengeschichte bringt Sulpicius im dritten Brief. Er ist an die Schwiegermutter Bassula gerichtet und erzählt von der letzten Reise Martins nach Candes, von seinem Tode und Begräbnis. Die Reise von Tours nach Candes, einer Pfarrei seiner Diözese, unternahm der Bischof, des nahen Todes schon gewiß, um einen Streit zwischen den Klerikern jener Gemeinde zu schlichten. Unterwegs sah er die mergi auf der Loire. Ich schicke voraus, daß ich keinen Widerspruch erheben würde, falls jemand sich darauf versteifen wollte, mit den mergi seien nicht Möwen, sondern Taucher gemeint. Die Scheidung zwischen làroc und a“juia ist schon im Griechischen nicht möglich, und mergus kann beides sein 4 . Da nun zudem unser französischer Kollege sowohl Tauchvögel als auch Möwen auf der Loire beobachtet hat, außerdem darauf hinweist, mergus könne hier vielleicht den Eisvogel bedeuten, den man im Französischen einst »oisel saint-Martin« nannte und der heute noch »martin-pêcheur« heißt 5 , lasse ich die ornithologische Frage unentschieden. Ich gebe den Text und eine Übersetzung: Sulp. Sev. epist. 3, 7/ 8 (SC 133, 336/ 38 Fontaine; CSEL 1, 147 f Halm): 7. Ita profectus (sc. Martinus) cum suo illo, ut semper, frequentissimo discipulorum sanctissimoque comitatu mergos in flumine conspicatur piscium praedam sequi et rapacem ingluviem adsiduis urguere capturis. »F o r m a«, inquit, »haec daemonum est: insidiantur incautis, capiunt nescientes, captos devorant exsaturarique non queunt devoratis«. 8. Imperat deinde potenti verbo, ut eum, cui innatabant, gurgitem relinquentes aridas peterent desertasque regiones, eo nimirum circa aves illas usus imperio, quo daemonas fugare consueverat. Ita grege facto omnes in unum illae volucres congregatae, relicto flumine, montes silvasque petierunt, non sine admiratione multorum, qui tantam in Martino virtutem viderent, ut etiam avibus imperaret. Übersetzung: So machte er sich auf den Weg, begleitet, wie immer, von seiner großen frommen Schülerschar. Da erblickte er Möwen auf dem Fluß, wie sie auf Fische Jagd machten und ihren gierigen Schlund unaufhörlich mit Beute vollstopften. »Ein Bild der Dämonen ist das«, sagte er; »sie lauern den Unvorsichtigen auf, fangen die Ahnungslosen, die Gefangenen verschlingen sie und können sich nicht sättigen an den Verschlungenen«. Darauf befahl er mit machtvollem Wort, sie sollten das Gewässer, auf dem sie schwammen, verlassen und trockene Einöden aufsuchen, indem er den Vögeln gegenüber von der Befehlsgewalt Gebrauch machte, mit der 4 Vgl. Steier, Art. Möwe: PW 15, 2 (1932) 2412/ 18, bes. 2414. Über die Gefräßigkeit der mergi ebd. 2412, 37 ff.; 2416, 20 ff.; 2417, 35 ff.; 〈 s. auch Filippo Capponi, Ornithologia Latina, Genova 1979 = Pubblicazioni dell’ Istituto di Filologia Classica e Medievale 58, 326/ 30 s. v. mergus. 〉 5 Fontaine 3, 1293 f. 84 er Dämonen zu vertreiben pflegte. So sammelten sich jene Vögel, bildeten einen Zug, verließen den Fluß und suchten die Berge und Wälder auf - zur großen Verwunderung vieler, da sie an Martin solche Macht erkannten, daß ihm sogar die Vögel gehorchten. 3. In seinem hübschen Bändchen Heilige und Tiere (München 1937) bemerkt Joseph Bernhart zu einer der dort vorgelegten Tiergeschichten: »Das köstliche Stück deuten wollen, hieße an einer Rose sich vergreifen, auf der ein schöner Falter ruht« 6 . Einen ähnlichen Vorwurf brauchen wir nicht mehr zu fürchten, denn Fontaine hat der Deutung unseres Textes nicht weniger als zwölf Druckseiten gewidmet 7 und dabei zweifellos nicht nur jenen Falter verjagt, sondern auch die Rose selbst arg zerpflückt. Die Schwierigkeiten, die Fontaine sieht, hängen an dem Begriff forma. Wenn forma, wie man anzunehmen geneigt ist, »Bild«, »Zeichen«, »Symbol« bedeutet, wenn die Vögel also nichts weiter als Vögel sind, warum vertreibt sie dann St. Martin? Weswegen gebraucht er den unschuldigen Tieren gegenüber dieselbe Wundermacht, die er sonst gegen die Dämonen einsetzte? Fontaine ist mit dieser Frage nicht fertig geworden. Er versteht die Worte Martins einerseits als Gleichnis (»parabole«) nach der Art der Gleichnisreden Christi, wofür er sich ausdrücklich auf den Begriff forma beruft. Da es der Heilige aber eben nicht bei den Worten bewenden läßt, sondern gegenüber den mergi zur Tat schreitet, sieht Fontaine in den Wasservögeln andrerseits eine Erscheinungsform des Teufels. Er verweist hierzu auf die Vita Martini 22, 1: (diabolus) visibilem se ei formis diversissimis ingerebat. Ebenso wie dort sich der Teufel in die Gestalten heidnischer Götzen verwandele, erscheine er hier in der Gestalt der Möwen. Forma bedeute demnach: »aspect extérieur«. Freilich geht das eine nicht mit dem anderen zusammen, weder sprachlich noch sachlich: entweder wir haben es mit einem Gleichnis zu tun oder tatsächlich mit Dämonen in Vogelgestalt 8 . So gelangt denn auch Fontaine selbst zu dem Ergebnis, hier liege eine »curieuse simultanéité« zweier Vorstellungen vor 9 . Womit die Schuld an dem unklaren Resultat der Interpretation dem Autor selbst in die Schuhe geschoben wird. Aber es kommt noch besser. Der Deutung des französischen Gelehrten stellt sich im folgenden ein weiteres Hindernis in den Weg. Denn daß Martin in den Vögeln nicht wirklich Dämonen vertreibt, beweist die Bemerkung des Autors, der Heilige habe den Möwen geboten: eo nimirum circa a v e s illas usus imperio, quo d a e m o n a s fugare 6 Bernhart ebd. 223. 7 Fontaine 3, 1290/ 1303. 8 Die Verwirrung wird noch dadurch erhöht, daß Fontaine bis zum Ende seiner Erörterung den Begriff »parabole« beibehält. 9 Fontaine 1296 1 . 85 consueverat. Also: dieselbe Wundermacht, aber nicht derselbe Gegenstand! Vögel und Dämonen werden deutlich geschieden. Die Möwen sind nichts weiter als Möwen. Auch das sieht schließlich der Kommentator ein. Aber wie hilft er sich? Er konstruiert einen Bruch zwischen den Worten Martins und dem Bericht des Sulpicius 10 . Dieser habe das Martinswort absichtlich abgeschwächt, da er die Gegenwart der Dämonen nicht so grob gegenständlich habe fassen wollen: »Nous dirions aujourd’hui que Sulpice minimise l’anecdote«. Man stelle sich vor: der gewandte Stilist soll zunächst ein Apophthegma Martins wörtlich seinem Bericht eingepfropft haben, um es anschließend nach Kräften wieder auszuhöhlen! Welche Anhaltspunkte gibt der Text für eine solch kühne Hypothese? Gar keine! In dem Satz: (…), ut eum, cui innatabant, gurgitem relinquentes aridas peterent (…) regiones wird zu den Verben niemand ein anderes Subjekt ergänzen als mergi. Fontaines Beobachtung, hier werde eine gewisse Doppeldeutigkeit fühlbar, da daemonum das näherstehende Nomen sei, ist gekünstelt; seine Unterstellung, hieran offenbare sich die Verlegenheit des Sulpicius (»l’embarras de Sulpice«), ungerechtfertigt. Und überhaupt: weshalb denn hätten Dämonen in der Gestalt von mergi dem Biographen Martins peinlich sein sollen, da er sich doch zum Beispiel nicht geniert, von einer Kuh zu erzählen, die ein Dämon ritt (dial. II 9, 1/ 4)? 4. Doch wir wollen das Einfache nicht zerreden! Forma steht hier klärlich im Sinne von figura, signum, imago, wie so oft in der christlichen Latinität. Die Beutejagd der Möwen ist Bild, Zeichen des dämonischen Treibens. Fontaines sprachliche Bedenken, forma in solcher Bedeutung gehöre dem abstrakten Vokabular der Bibelexegese an und komme sonst bei Sulpicius nicht vor 11 , sind gegenstandslos. Forma = e-k∏n, s‘mbolon, t‘poc ist kein lebensferner Begriff theologisch-esoterischer Traktate, sondern begegnet auch in der Poesie, sogar in der lyrischen Dichtung des Prudentius 12 . Und wenn ein Begriff in allen Genera christlichen Schrifttums eingebürgert ist, darf nicht der Sprachgebrauch eines Autors gegen die Annahme eines solchen Sinnes ins Feld geführt werden. Was besagt es schon, daß forma von Sulpicius sonst so nicht gebraucht wird, da er die Sache zu erwähnen eben weniger Gelegenheit hatte? Immerhin verwendet er einmal species und imago im gleichen Sinne (dial. II 10, 4). In dem populären Buch von Walter Nigg, Martin von Tours ist die Möwengeschichte im Ganzen richtig erfaßt 13 , und man muß 10 Fontaine 1300. 11 Fontaine 1295 mit Anm. 3. 12 Vgl. Prud. cath. 1, 26; ferner: ham. 735; psych. 884; tit. 8. 60. 13 Martin von Tours. Leben und Bedeutung des großen Heiligen … Mit einem Essay von Walter Nigg, 48 Farbtafeln von H. N. Loose und Auszügen aus den biographischen Schriften des Sulpicius Severus (Freiburg/ Basel/ Wien: Herder 1977) 30: »(Martin) beobachtete einmal Tauchervögel und sah darin ein Bild 86 sich wundern, daß keiner der etwa dreißig Gelehrten, die sich mit Fontaines Ausgabe rezensorisch beschäftigten, an dem verwirrenden Hin und Her seiner Interpretation Anstoß nahm 14 . Aber e i n Gutes haben Fontaines Auslassungen doch. Sie beweisen, daß es unmöglich ist, die Sache allein vom einzelnen Wort her zu begreifen. Es genügt auch nicht, die Ausdrücke »symbole«, »symbolisme« in die Darstellung einzustreuen 15 : man muß Verständnis für das Wesen christlichen Analogiedenkens aufbringen. Fehlt dieses Verständnis, dann kann die Interpretation ganzer Werke der christlichen Literatur in Mitleidenschaft gezogen werden, wie die moderne Betrachtung der Tageslieder des Prudentius erkennen läßt 16 . Denn der Schaden, den wir hier im Kleinen feststellen, zeigt sich dort im Großen, weil die prudentianischen Hymnen wesentlich auf der analogischen Naturbetrachtung aufbauen. Andrerseits: faßt man den Kern solcher Naturanschauung fest ins Auge, lösen sich Probleme wie jenes, das dem französischen Erklärer bei Behandlung unserer Stelle zu schaffen machte, leicht auf. 5. Für den Christen ist die sichtbare Welt erfüllt von Zeichen, die auf höhere, unsichtbare Tatsachen hinweisen. Diese Zeichen harren der Entdeckung durch den Menschen, sie sind aber unabhängig vom erkennenden Subjekt. Sie sind selbst von Gott geschaffene Realitäten, gehören zur objektiven Struktur der Schöpfung. Das Zeichen steht zu jener höheren Tatsache, auf die es hingeordnet ist, im Verhältnis einer tiefen Ähnlichkeit, einer wesenhaften Analogie. Deshalb kann das Zeichen auch eine gewisse Wirkung ausüben, und umgekehrt: die Wirkung beweist die Existenz des Zeichens. Mit Magie hat das nichts zu tun. Hier zunächst zwei Beispiele aus Prudentius! Wie bei Tagesanbruch das Dunkel weicht und die Dinge wieder Farbe annehmen, so werden einst im Lichte des Jüngsten Gerichts die verborgenen Geheimnisse unserer sündigen Seelen zutage treten 17 . Daß dies für den Dichter mehr ist als ein literarischer Vergleich, zeigt die analogische Wirkung, die er in dem natürlichen Vorgang erkennt. Das Morgenlicht verhindert Schandtaten, ja mehr noch: es ruft selbst beim Sünder Scham, Ekel, des furchtbaren Streits, der sich unsichtbar, aber real im Hintergrund des Lebens abspielte«. Irreführend ist dann das folgende: »Sulpicius Severus meinte: ›Es mag uns rätselhaft [! ] vorkommen, warum Gott dem Teufel solche Gewalt eingeräumt hat‹ «. Davon steht nichts im Text, und derlei dürfte einem Sulpicius kaum »rätselhaft« gewesen sein. 14 Ausdrückliches Lob spenden ihr J. M.-F. Marique, Classical Folia 23 (1969) 265, teilweise auch Y. M. Duval, Latomus 29 (1970) 512 f. und P. Antin (wie oben Anm. 3) 33. 15 Fontaine 1295. 1297. 16 Ich habe versucht, die Dinge zurechtzurücken: »Die Natursymbolik in den Tagesliedern des Prudentius«, Pietas. Festschr. B. Kötting = JbAC Erg.-Bd. 8 (1980) 411/ 46 〈 = Prudentiana II (wie oben S. 50) 92/ 141 〉 . 17 Prud. cath. 2, 1/ 36. Beide Beispiele sind eingehender behandelt in dem genannten Aufsatz (s. die vorige Anmerkung) 426 f. bzw. 431/ 35 〈 = Prudentiana II 112/ 14 bzw. 119/ 25 〉 . 87 Reue hervor. Prudentius meint: solche Wirkung könnte das Licht nicht zeitigen, wenn es nicht gottgewolltes Çnàlogon wäre; die Wirkung beweist seinen Zeichencharakter. Das zweite Beispiel ist anderer Art und steht unserer Möwengeschichte in gewisser Beziehung näher. Einem Volksglauben zufolge, der zur Zeit des Prudentius offenbar verbreitet war, fliehen die nachts umherschweifenden Dämonen beim Krähen des Hahns. Prudentius greift diesen Volksglauben auf 18 . Er findet darin eine Bestätigung jener Analogie, auf der sein Hymnus Ad galli cantum beruht: der Hahnenschrei, der das Licht ankündet, ist Symbol des Weckrufs Christi, der an seine baldige Wiederkunft erinnert. Natürlich fliehen die Dämonen nach Ansicht des Dichters nicht etwa vor dem Hahn! Sie fliehen, weil sie die Bedeutung des Hahnenschreies kennen und weil ihnen all das verhaßt ist, wofür das Zeichen steht: die Nähe des (ewigen) Lichts, des Heils, Gottes. Sie fliehen also tatsächlich vor dem Zeichen, dem Abbild des höheren Geschehens. Und deswegen ist das Beispiel so lehrreich: es zeigt - selbstverständlich unabhängig davon, wie man jenen Volksglauben einst beurteilte oder heute beurteilt -, welche Auffassung der Christ im allgemeinen vom Wesen eines Natursymbols hat. Die Möwengeschichte bei Sulpicius mag auf den ersten Blick recht ungleichartig anmuten, sie ist jedoch, wie gesagt, in bestimmter Hinsicht durchaus ähnlich. Die mergi sind nicht mit den Dämonen identisch, sie bleiben aves, Tiere. Aber sie dienen dem Heiligen auch nicht bloß zur Illustration seiner Lehre nach Art eines frei erfundenen Vergleichs. Sie sind reales Çnàlogon des Bösen in der Natur. Dieses Çnàlogon wird von Martin erkannt und erklärt, aber nicht von ihm ausgedacht. Es ist objektiv vorhanden und besitzt eine wesenhafte Ähnlichkeit mit der geistigen Realität, auf die es deutet. Allein deswegen kann es auch auf den Heiligen eine abstoßende Wirkung ausüben. Er erträgt nicht den Anblick des Symbols des Bösen und verbannt es aus seinem Gesichtskreis. Er schaudert vor dem Symbol der Dämonen ebenso zurück wie - bei Prudentius - die Dämonenschar vor dem Symbol Christi. Es wäre spitzfindig, wollte man gegen St. Martin oder gegen seinen Biographen einwenden, das Bild der Möwen sei ja um der Belehrung willen da, dürfe also nicht beseitigt werden. Hier muß man gerade die lehrhafte Absicht des Bischofs ins Gewicht fallen lassen, der sich mit der Erklärung des Bildes an seine Schüler wendet. Durch seine Tat bekräftigt er die Wahrheit seiner Erklärung. Im übrigen bewirkt Martin ja nicht etwa eine allgemeine naturwidrige Metamorphose der mergi in Landtiere. So darf der Schluß nicht mißverstanden werden. Martin verändert nicht insgesamt das Bild der Natur. Es bleibt dem Menschen allenthalben sichtbar. 18 Prud. cath. 1, 37/ 48. 88 6. Als eines der Fundamente christlichen Analogiedenkens darf gelten, was der Apostel im Römerbrief schreibt (Rom. 1,20): tÄ gÄr ÇÏrata aŒto‹ (sc. Jeo‹) Çp‰ kt-sewc kÏsmou toÿc poi†masin noo‘mena kajorêtai, ° te ÇÚdioc aŒto‹ d‘namic ka» jeiÏthc 19 . Unter den alttestamentlichen Äußerungen über die natürliche Gotteserkenntnis (z. B. Ps. 18,2; Iob 12,7/ 9) hebe ich hier Sap. Sal. 13,5 LXX hervor: ‚k gÄr megËjouc ka» kallon®c ktismàtwn Ç n alÏ g w c  genesiourg‰c aŒt¿n jewreÿtai, weil hier in einem Text, den die Väter als inspiriert oder doch den kanonischen Texten nahestehend ansahen, jener Schlüsselbegriff vorkommt 20 . Freilich hätte sich die analogische Betrachtung der Welt in der frühen Kirche nicht so rasch und reich entfalten können, wenn nicht Gedankensysteme der vorchristlichen Kultur, vor allem Platonismus 21 und Stoa 22 , Elemente bereitgestellt hätten, deren sich die christlichen Denker bedienen konnten. Die Symbolik, gerade auch die Tiersymbolik, entwickelte sich stark innerhalb der jüdisch-christlichen Bibelexegese, durch Philon, Clemens v. Alexandrien, Origenes u. a. 23 Überhaupt durchdringen die spirituelle Erklärung der Schrift und die der Natur einander. Das berühmte Handbuch christlicher Natursym- 19 Vgl. Act. 14,17: ka-toi oŒk Çmàrturon aÕt‰n Çf®ken Çgajourg¿n. Die Keime des Analogiedenkens im Neuen Testament mögen darüber hinaus vielfältiger Art sein. Auch wenn Christus auf die Vögel des Himmels und die Lilien des Feldes hinweist (Mt. 6,26/ 30), ist dies eine Aufforderung zum Lernen aus der Natur: ‚mblËyate e-c tÄ peteinÄ to‹ oŒrano‹ … k a t a m àj e t e tÄ kr-na to‹ Çgro‹ … ktl. Ph. Rech in ihrem unten (S. 95) genannten Werk (20 f.) legt Nachdruck auf Col. 1,16: tÄ pànta di+ aŒto‹ ka» e-c aŒtÏn (sc. QristÏn) Íktistai (»ist auf Ihn hin erschaffen«). 20 Zitiert wird Sap. Sal. 13,5 in passendem Kontext bei Athan. c. gentes 44, 31/ 34 (p. 122 Thomson); Euseb. dem. IV 8,2 (GCS 23, Euseb. 6,161); Hilar. trin. 1,7 (CCL 62,7 f.); Cyr. Alex. in Ps. 13, v. 3 (PG 69, 801 C). Vgl. Orig. in Ioh. I (26) 167 (GCS 10, Orig. 4,31): d‘natai gÄr Çnalog-an Íqein t‰ a-sjht‰n pr‰c t‰ nohtÏn … ktl. 〈 Vgl. ferner Ulrike Gantz, Gregor von Nyssa: Oratio consolatoria in Pulcheriam, Basel 1999 = Chrêsis VI 272/ 74. 〉 21 Am Anfang steht Plat. rep. 508 B/ C: die Sonne ist der Sproß des Guten, Án (sc. t‰n °lion) tÇgaj‰n ‚gËnnhsen Çnàlogon ·autƒ (was die Sonne für die Sehkraft und die sichtbaren Dinge ist, das ist das Gute für den Geist und das Geistige). Zur Entwicklung des Analogie-Begriffs s. W. Kluxen, Art. Analogie, Histor. Wb. der Philosophie 1 (1971) 213/ 227 mit Lit.; ferner: W. Schulze, Zahl, Proportion, Analogie. Eine Unters. zur Metaphysik (…) des Nikolaus v. Kues, Münster 1978, bes. 8 5 (Lit.); 18/ 23; W. Fiedler, Analogiemodelle bei Aristoteles, Amsterdam 1978 mit Lit. (8 1 ); M. N. Esper, Allegorie und Analogie bei Gregor v. Nyssa, Bonn 1979, 113/ 116 〈 und Gantz (wie vorige Anm.) mit weiterer Literatur. 〉 22 Vgl. M. Pohlenz, Die Stoa 1, 94 f. und dazu R. Lorenz, »Die Wissenschaftslehre Augustins II«, Zeitschr. f. Kirchengesch. 67 (1955/ 56) 229/ 32. Einige Bemerkungen sind auch in der Pietas (oben Anm. 16) 415 〈 = Prudentiana II 97 f. 〉 gemacht. 23 C. Siegfried, Philo von Alexandria als Ausleger des Alten Testaments, Jena 1875, 182/ 85; P. Heinisch, Der Einfluß Philos auf die älteste christliche Exegese, Münster 1908, 94/ 96. Vgl. z. B. Clem. Alex. strom. V 27, 1/ 4; 51, 2 ff. (Auslegung der Speiseverbote des AT); Ruf. Orig. comm. in Rom. IX 1 (PG 14, 1204 A). Euseb. ecl. proph. IV 8 (PG 22, 1212 A) sagt, Wölfe, Panther, Löwen usw. nenne der Prophet (Is. 11,6 ff.) die bösen Menschen kat+ Çnalog-an t®c ‚n ·kàst˙ poik-lhc kak-ac te ka» ponhr-ac. 89 bolik, der Physiologus, liefert Schriftzitate zur Bestätigung seiner Deutungen 24 . Diese Entwicklung auch nur skizzenhaft nachzuzeichnen, ist hier unmöglich. Es kommt nur darauf an, sich gegenwärtig zu halten, daß Analogie keine Sache nur der Gelehrten und Bücher ist, sondern auf einer lebensvollen, vielfältigen und doch zugleich einheitlichen Anschauung der Welt beruht. Ich finde, daß eine Stelle aus Augustinus, De ordine die Lebendigkeit jener Anschauung schön zum Ausdruck bringt. Augustinus erzählt, wie er vor dem Eingang eines Badehauses einen Hahnenkampf beobachtete. Er bemerkt 25 : »Für den Menschen, der die Schöpfung liebt, enthüllt sich überall, wo er sich umsieht, die Schönheit der Vernunft, unter deren Maß und Leitung alles steht …«. Und weiter: »Wir hatten uns vielerlei zu fragen. Warum handeln alle Tiere so …, wo ist kein Gesetz, wo gebührt nicht dem Besseren die Gewalt, wo ist kein Zeichen der Folgerichtigkeit, wo kein Abbild jener wahrhaftigsten Schönheit, wo kein Maß? Und von hier kam uns die Warnung, daß auch dem Betrachter Grenzen gesetzt sind«. Gewiß ist zwischen der Reflexion Augustins und dem Bericht des Sulpicius ein gewisser Abstand fühlbar, aber doch nicht in dem wesentlichen Punkte, der uns beschäftigt. Im übrigen folgt schon aus der textimmanenten Interpretation der e i n e n Stelle bei Sulpicius, wie selbstverständlich ihm analogisches Denken war. Nicht eigentlich um das Bild der Möwen zu erläutern, schiebt er den Bericht ein. Daß die Vögel dem Befehl Martins folgten, erscheint ihm wichtig, die virtus Martins also. Warum der Heilige das Wunder wirkt, weshalb er analogisch denkt und sogar dementsprechend handelt, wird gar nicht erörtert. Das Verständnis solcher Naturbetrachtung setzt er voraus. 7. Aber uns ist solche Art der Naturbetrachtung nicht mehr vertraut, und deswegen gehört es zur Aufgabe des Interpreten, die geschilderten Verhältnisse durch passendes Vergleichsmaterial zu verdeutlichen. Ich entnehme es der mittelalterlichen Hagiographie, da auf die Grenzen der Epochen bei solcher Sache nicht viel ankommt 26 . 24 Hierzu s. B. E. Perry, Art. Physiologus: PW 20, 1 (1941) 1074/ 1129. 〈 Reich ausgebildet haben die Tiersymbolik Basilius und Ambrosius in ihren Predigten zum Hexaëmeron, s. Rainer Henke, Basilius und Ambrosius über das Sechstagewerk, Basel 2000 = Chrêsis VII passim. 〉 25 Aug. ord. I 25 f. (CSEL 63, 137 f.). Übersetzung nach C. J. Perl, Augustinus. Die Ordnung, Paderborn 1947, 24. 26 Außer der schon erwähnten Textsammlung von Bernhart erweist sich vor allem die Arbeit von Liselotte Junge als förderlich: Die Tierlegenden des hl. Franz von Assisi. Studien über ihre Voraussetzungen und ihre Eigenart, Leipzig 1932 = Königsberger Historische Forschungen 4. Zur notwendigen Kritik an dieser Darstellung s. unten S. 94 f. Für unsere Zwecke weniger ergiebig ist das Buch von Sister Mary Donatus, Beasts and Birds in the Lives of the Early Irish Saints (Diss. Philadelphia 1934). Nur am Rande wird Christliches bei U. Dierauer berührt: Tier und Mensch im Denken der Antike, Amsterdam 1977 = Studien zur antiken Philosophie 6. Vgl. auch unten Anm. 57 (Ende). 90 a. Der hl. Launomar († um 590) lebte als Einsiedler im Walde zwischen Chartres und Le Mans. Beim Anblick einer Hirschkuh, die von Wölfen verfolgt wird, erfaßt ihn Mitleid. Er befiehlt den Wölfen, von der Verfolgung abzulassen, dann fügt er hinzu alludens ad significationem: »Da sieh, diese böse, gefährliche Tierart! Wie die Wölfe da niemals das Rauben lassen, sondern immerfort fremdes Fleisch reißen und verschlingen, so schweift der Teufel, der wildeste Wolf, täglich umher und sucht sich aus der Kirche Christi seine Opfer, um sie zu vernichten und zu würgen«. Die Hirschkuh bleibt eine Zeitlang bei Launomar, der sie streichelt und dann wieder entläßt. Der Bericht endet mit den Worten: »O Herr Jesus! Auch hierin hast Du durch den Geist seiner Milde Deinen Heiligen verherrlicht, so daß ihm sogar die Wildheit der Tiere unter dem Schauer Deines Namens gehorchte« 27 . Wohlgemerkt: bestiarum ferocitas! Aber der Heilige blickt durch das natürliche Geschehen hindurch auf dessen geistlichen Grund, ganz wie St. Martin. Und wie dieser läßt er dem Wort die bekräftigende Wundertat folgen. Die Parallele spricht jetzt gleichsam für sich selber. Was bei Sulpicius fehlt, ist das Moment des Mitleids. Martin wird allein durch das zweite Motiv Launomars bewegt: durch die Zeichenhaftigkeit der Beutejagd. Das liegt natürlich an der jeweiligen Besonderheit des Erlebnisses: Hindin und Fische sind nicht einerlei; die Not des verfolgten Wilds ist ein sichtbarer Vorgang und ein bewegender Eindruck. Wo sich solcher Eindruck dem hl. Martin bietet - wie anläßlich einer Hasenjagd (Sulp. dial. II 9, 6) -, zeigt er gleiches Empfinden für das verfolgte Tier 28 . b. Im Jahre 1097 reitet der hl. Anselm vom Hofe König Wilhelms II. (des Roten) heim auf sein Gut Hayes. Unterwegs flüchtet ein Hase, von Hunden verfolgt, unter sein Pferd. Der Heilige hält das Roß an und deckt den Hasen, so daß die Hunde nicht zuzupacken wagen. Einige Begleiter lachen über das Mißgeschick des gefangenen Hasen. Da bricht St. Anselm in Tränen aus: »Ihr lacht? Aber der Arme hat nichts zu lachen, 27 Acta Sanctorum O.S.B. I, 19. Jan., p. 337, cap. 12 = ASS Jan. II (19.) p. 232 f. cap. 3, n. 14. Übersetzt und besprochen bei Bernhart (wie S. 85) 102 bzw. 26. Vgl. Junge (wie Anm. 26) 102. 28 Beiwege sei angemerkt, daß in dem großen geistigen Zusammenhang christlichen Analogiedenkens auch einzelne Stellen der Literatur, die wir als bloße Vergleiche anzusehen uns gewöhnt haben, tieferen Glanz erhalten können. In einem seiner Märtyrerlieder sagt Prudentius (per. 1, 97 ff.): Cerne, quam palam feroces hic domentur daemones, œ quae lupino capta ritu (v.l. rictu) devorant praecordia, œ strangulant mentes et ipsas, seque miscent sensibus. Auch hier haben wir wohl mehr vor uns als eine bloß literarische Veranschaulichung. Wenn Prudentius feststellt, die Dämonen rauben und reißen die Seelen »nach Art der Wölfe«, dann gebraucht er das Bild, weil es in der Natur realiter diesen Sinn trägt. Und erst so erhellt die Vorzüglichkeit der Lesart ritu gegenüber rictu vollständig. Das Analogische liegt darin. 91 nichts zu spaßen. Seine Feinde sind um ihn her (…) Und geradeso ist’s mit der Seele des Menschen. Wenn sie aus dem Leibe fährt - gleich sind auch ihre Feinde da, die bösen Geister, und wollen sie nach all den krummen Hetzen auf den Lasterwegen erbarmungslos packen und ins ewige Verderben reißen. In ihrer Angst aber sieht sie hierhin und dorthin, und wer beschreibt ihr Verlangen nach einer Hand, die sich ausstreckt, um ihr zu helfen! Die Teufel aber sind’s, die lachen. Was für ein Vergnügen, daß die Arme keinen Retter findet! «. Anselm gebietet den Hunden Einhalt, und der Hase entkommt 29 . Die Parallelen zur Möwengeschichte treten wiederum deutlich hervor. Auch der Rahmen ist ähnlich: St. Anselm befindet sich wie St. Martin auf Reisen und wendet sich belehrend an seine Begleiter. Aber das Analogische wird hier noch weiter ausgedehnt, insofern auch der Heilige selbst, der den Hasen schützt, und die lachenden Leute seiner Begleitung daran Anteil haben. Die Gesamtsituation ist analogisch aufgefaßt. Außerdem fällt die starke Erschütterung des Heiligen auf. Da die anderen lachen, vollendet sich ihm das Bild, und er kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Das heißt: St. Anselm weint nicht des Tieres wegen, sondern weil er tief die Analogie empfindet, die das Ereignis ausdrückt. Er weint, weil er in dem sichtbaren Bilde das Unsichtbare: die Bedrohung der menschlichen Seele erkennt. Ein andermal beobachtet er einen Jungen, der mit einem kleinen Vogel ein grausames Spiel treibt. Der Junge hat den Vogel an einem Fuß festgebunden, und immer, wenn er fortfliegen will, zieht er ihn an dem Faden zurück. Der Heilige hat Mitleid mit dem Tier, und da er wünscht, der Faden möge reißen, reißt er tatsächlich. Der Knabe weint, St. Anselm freut sich, ruft seine Schüler herbei und erklärt: »Habt ihr den Spaß dieses Jungen gesehen? … So macht es auch der Teufel, wenn er mit den Menschen spielt …« usw. 30 . Es läßt sich nicht bestreiten, daß in solchen Berichten das Persönliche und Erlebnishafte stärker hervortritt als etwa in der Möwengeschichte. Die Jagd der Möwen bildet einen stets sich wiederholenden Vorgang der Natur, jedermann kann das Zeichen sehen. Dagegen beruht das Çnàlogon in den beiden zuletzt erwähnten Geschichten jeweils auf einer besonderen Situation, die sich in genau gleicher Weise nicht allenthalben wiederholt. Dennoch wäre es verkehrt, diese Beispiele von den anderen abzutrennen und als Darstellungen bloß subjektiver Eindrücke abzutun. Wir müssen uns daran erinnern, daß sich das christliche Analogiedenken nicht nur auf naturgesetzlich geregelte Abläufe 29 Eadmeri … vita Sancti Anselmi (ed. R. W. Southern [London 1962]) II 18, p. 89. Ich folge der deutschen Übersetzung von Bernhart (wie S. 85) 158/ 60. 〈 Vgl. Aug. conf. 10,35,57: wenn Augustinus sah, wie auf dem Felde ein Hund einen Hasen hetzte, fühlte er sich bisweilen durch Gottes Gnade angeregt, ex ipsa visione per aliquam considerationem in te (sc. in Deum) adsurgere, und welcher Art solche Betrachtung sein konnte, lehrt das Stück Vitae patr. 5,7,35 (PL 73, 901 D). 〉 30 Eadmer. l. c. II 19 (p. 90) = De S. Anselmi similitudinibus 190 (PL 159, 701 A/ C). Aus den »Gleichnissen« Anselms wäre noch mancherlei beizubringen, vgl. z. B. simil. 99 (PL 159, 664 f.): Quod superbia sit vallis maxima bestiis vitiorum plena. Was hier gelehrt wird, kann man sich erlebt denken. Man braucht sich nur vorzustellen, wie der Heilige, durch ein wildes Waldtal schreitend, das Çnàlogon erkennt und des zeichenhaften Charakters dieses Orts inne wird. 92 erstreckt, sondern viel weiter sich dehnt, etwa auch gewisse menschliche Verrichtungen und bestimmte Ereignisse der Geschichte, und zwar nicht nur der biblischen, umfaßt, vor allem aber: daß ein Geist, der gewöhnt ist, durch die Dinge gleichsam hindurchzusehen, auf Schritt und Tritt tiefere Strukturen entdecken wird, ohne daß er damit den objektiven Grund und Boden seiner Weltsicht verläßt. Dazu gehört die hl. Schrift. Die Analogie des grausamen Kinderspiels mit dem Vogel dürfte dem hl. Anselm deswegen ins Auge gesprungen sein, weil ihm dabei der Psalmvers einfiel: Anima nostra sicut passer erepta est de laqueo venantium; laqueus contritus est, et nos liberati sumus (Ps. 123,7) 31 . c. Unter den vielen Tiergeschichten, die das Leben des hl. Franz v. Assisi umranken, findet sich gar manche, die für unsere Zwecke passend ist. Bei ihm zeigt sich besonders klar die enge Verbindung von Bibel und Natur. Die Kenntnis der hl. Schrift, der ständige, lebensvolle Umgang mit ihr und die fromme Naturbetrachtung verschmelzen zu einer unauflöslichen Einheit, so daß Schriftworte die Entdeckung natürlicher Symbole anregen und zugleich bestätigen. Thomas v. Celano schreibt in seiner ersten Vita des hl. Franziskus: »Unter allen Arten der Tiere (…) war er mit besonderer Liebe und großer Zärtlichkeit den Lämmlein zugetan, weil die Demut unseres Herrn Jesus Christus in der Heiligen Schrift häufig mit der eines Lammes verglichen und passend damit in Verbindung gebracht wird 32 . So umfing er auch alles andere, besonders wenn er damit eine sinnbildliche Ähnlichkeit mit dem Sohne Gottes finden konnte (aliqua similitudo allegorica), mit großer Liebe und sah es mit noch größerer Freude« 33 . Thomas berichtet weiter 34 , wie der Heilige einst ein Schaf loskaufte, das in einer Herde von Ziegen und Böcken dahinzog. Franziskus wurde bei diesem Anblick von tiefem Schmerz erfaßt; er ertrug es nicht, das Schaf so zu sehen, weil er darin ein Bild Christi erblickte, der sanftmütig und demütig zwischen Pharisäern und Hohen Priestern wandelte 35 . Ein andermal hörte er davon, daß ein neugeborenes Lamm von einem Schwein getötet worden sei. Er wurde von Mitleid gerührt und verfluchte das Schwein. Der Biograph bemerkt dazu 36 : »Er erinnerte sich an ein anderes Lamm …« usw. In 31 Vgl. Junge (wie Anm. 26) 103. 32 Vgl. Joh. 1,29.36; Apc. 5,6.8 etc.; Is. 53,7; Act. 8,32. 33 Thomas de Celano, Vita I 28, 77 (Analecta Franciscana 10, 57). Übersetzung nach E. Grau, Thomas v. Celano. Leben u. Wunder des hl. Franziskus v. Assisi (Werl/ Westf. 1955) = Franziskanische Quellenschriften 5, 150. 34 Vita I 28, 77 f. (a. O. 57/ 59). 35 Vgl. Mt. 25,32 f.; 11,29. 36 Vita II 77, 111 (a. O. 196). 93 den Fioretti steht die Erzählung von den Turteltauben. Der Heilige begegnete einem jungen Manne, der Turteltauben zu Markte trug: »(Franziskus) sah die Turteltauben mit milden Augen an und sprach zu dem Jüngling: ›Guter Jüngling, gib mir diese sanftmütigen Turteltauben, denen in der Heiligen Schrift die keuschen, demütigen und getreuen Seelen verglichen werden 37 , auf daß sie nicht in die Hände der Grausamen fallen, die sie töten‹! « 38 . Die Reihe ähnlicher Berichte ließe sich leicht fortsetzen. Sie bezeugen die besondere Tierliebe des Heiligen, lassen aber wiederum auch erkennen, daß seine Empfindungen des Schmerzes, der Freude, des Mitleids nicht eigentlich durch die Creatur hervorgerufen werden, sondern durch die analogischen Zusammenhänge, die er in den Geschöpfen und Ereignissen erkennt. Die Heftigkeit seiner Gefühle, welche die Erkenntnis der Çnàloga auslöst, sowie die Taten der Barmherzigkeit oder gelegentlich auch der Bestrafung, die der Erkenntnis folgen: all das deutet auf den Kern solcher Naturbetrachtung, den wir schon in der Möwengeschichte des Sulpicius fanden. 8. Das Wesen solcher Naturbetrachtung ist bislang, wie sich denken läßt, nicht etwa unerkannt geblieben. Aber seltsamerweise macht sich selbst in einschlägigen Spezialarbeiten wie dem Buch von Liselotte Junge über die Tierlegenden des hl. Franz v. Assisi 39 eine gewisse Unsicherheit des Urteils bemerkbar. Die Verfasserin bietet ein Kapitel über die »geistige Bedeutung des Tieres«, das herrliche Beispiele für christliches Analogiedenken vorführt, darunter die eben genannten 40 . Es mangelt darin auch nicht an treffenden Einsichten und Formulierungen 41 , aber es fehlt doch die letzte Klarheit. So ist gerade bei Erörterung der Möwengeschichte des Sulpicius 42 einerseits - fälschlich - von der »Verkörperung (? ) eines bösen Prinzips« die Rede, andrerseits - richtig - 37 Vgl. Mt. 10,16. 38 I Fioretti di S. Francesco 22 (ich benutzte die Ausgabe von B. Bughetti, Firenze 1925; ebd. 91 f.); vgl. Floretum S. Francisci Ass., ed. P. Sabatier (Paris 1902), 22 p. 93 f. Übersetzung nach W. v. d. Steinen - M. Kirschstein, Franz v. Assisi. Die Werke. Die Blümlein (Hamburg: Rowohlts Klassiker 1958) 95. 39 Vgl. oben Anm. 26. 40 Junge (wie Anm. 26) 82/ 111. Ihr frühester Beleg dafür, daß ein Heiliger in einem Tier das Sinnbild der Seele erblickt, entstammt dem 2. Jh. n.Chr. Es ist die Geschichte vom Apostel Johannes und dem Rebhuhn (act. Joh. 56 f.: Acta apostolorum apocrypha 2, 178 f. Lipsius-Bonnet). Der erlebnishafte Charakter und der didaktische Zweck treten schon hier klar hervor. Außerdem fällt die Betonung des betrachtenden Moments auf: der natürliche Vorgang, das Umherlaufen des Rebhuhns, wird vom Heiligen betrachtet und zur Betrachtung empfohlen. 41 Vgl. etwa die Zusammenfassung des Abschnitts (109/ 111), wo man nur den Ausdruck »das Magische« (110 unten) streichen und die rationalistischen Bemerkungen über die angebliche Wunderlosigkeit der Franziskuslegenden (111) berichtigen muß, s. dazu unten S. 98. 42 Junge (wie Anm. 26) 98 f. 94 von dem »Sinnbild der Dämonen«. Unklarheit in dem entscheidenden Punkte verbreitet der Satz: »Für Launomarus wurden hetzende Wölfe zu Dämonen …«, und die Erörterung darüber, ob »Franz im bösen Schwein tatsächlich den Satan gesehen habe«, hätte besser gar nicht angestellt werden sollen. Man fühlt sich an Fontaines Kommentar erinnert 43 . Den Erlebnischarakter der Erzählungen bemerkt die Verfasserin richtig, weniger deutlich tritt die objektive Grundlage der »Gleichnisse«, »Sinnbilder«, »Allegorien« hervor 44 . Gewiß wird man zugeben dürfen, daß sich auch in der Art analogischer Naturbetrachtung die Persönlichkeit des Einzelnen ausdrücken kann. Aber Grundlage des Subjektiven, Individuellen bleibt doch stets das Objektive, Allgemeine. Nur so ist es erklärlich, daß sich diese Sehweise, mag sie auch nicht immer und überall gleichermaßen deutlich, stark und verbreitet sein, dennoch durch die Jahrhunderte behauptet hat, ja selbst der modernen Zeit nicht völlig abgeht. Über John Henry Kardinal Newman hat man gesagt, er sei stets bereit gewesen, die materielle Welt als bloß hieroglyphischen Ausdruck tieferer spiritueller Bedeutungen zu betrachten 45 , und ein zeitgenössischer Kritiker seiner Poesie meinte sogar: »(Newman) scarce believes in any real rose, in any actual rainbow« 46 . Die Benediktinerin Photina Rech hat in ihrem großen zweibändigen Werk Inbild des Kosmos, Salzburg-Freilassing 1966, einen Thesaurus christlicher 43 Der Unterschied sei hier nochmals auf andere Weise eingeschärft! Als die bösen Geister zu Gerasa auf Christi Befehl hin in Schweine fuhren, stürzten sich diese in den See und kamen um (Mt. 8,28/ 33). Das ist gleichsam das Verhaltensmuster für Tiere, in denen das Böse wirkt - nicht im Konkreten, aber im Prinzip. Das Tier tritt aus der Naturgesetzlichkeit heraus oder verhält sich doch zumindest irgendwie auffällig. Umgekehrt kann analogisch nur das Naturgemäße, Normale sein, weil Analogie auf der natürlichen Struktur der Dinge aufbaut. Wenn der Teufel in Gestalt eines riesengroßen Hahns einen Heiligen unter Schreien angreift und mit den Sporen verletzt (vita Pachom. graec. II 18 (Subsidia Hagiographica 19, p. 184 Halkin); vita lat. 17 (ebd. 46, p. 118 Cranenburgh)), so ist das kein Çnàlogon; aber daß der Hahn morgens kräht, ist eines. Auch die Raubtiere, die Wölfe des hl. Launomar oder die Möwen des hl. Martin, verhalten sich ihrer Natur gemäß, und nur deswegen können sie durch ihr Verhalten einer Analogie Ausdruck geben. Oder um etwas ganz anders zu nennen: wenn jeden Morgen die Sonne aufgeht oder auch wenn sie allabendlich untergeht, kann das als Analogie aufgefaßt werden; aber daß sich die Sonne verfinsterte, als Christus am Kreuze hing (Mc. 15,33; Lc. 23,44 f.), ist etwas Ungleichartiges. Es mag Übergänge vom einen zum anderen geben, aber darüber kann nur die Interpretation des jeweiligen Zeugnisses Auskunft geben. Die beigezogenen Beispiele sind eindeutig analogisch. 44 Nach Junge kommen die Gleichnisse, soweit sie nicht überhaupt nur als konventionell-literarisch bewertet werden, aus dem »Erlebnis«. Sie bespricht zwar den Zusammenhang der Erlebnisse mit der Schriftkenntnis (Junge [wie Anm. 26] 89.103.104 u. ö.), aber das treibende Moment soll offenbar, zumindest bei St. Franziskus, die »reine Gefühlsbedingtheit« (a. O. 83) der Handlungsweise sein. 45 Richard H. Hutton, Cardinal Newman (London 1891 2 , Nachdruck: New York 1977) 232. 46 Sir Francis Hastings Doyle, Lectures delivered before the University of Oxford (London 1869), Lecture III: »Dr. Newmans ›Dream of Gerontius‹ « (91/ 124, ebd. 97). Dazu Gordon Tidy in der Einleitung zur Ausgabe The Dream of Gerontius (London/ New York 1916) 36: »The snapdragon on the wall of Trinity was a snapdragon to him and it was something very much more. The moor and fen, the crag and torrent were to Newman by no means only moors and fens, and crags and torrents«. Gordon bemerkt weiter, daß nur Newmans meisterhafte Beherrschung der englischen Sprache seine Naturbetrachtung habe ausdrücken 95 Symbolik vorgelegt, und wenn auch darin recht verschiedenartiges Material verarbeitet wird, so ist das Ganze doch aufgrund der warmen Anteilnahme, die es durchströmt und zusammenhält, ein Beweis für die Lebendigkeit der Anschauung, welche die Verfasserin vermitteln will. 9. In der Beutejagd der Möwen ein Symbol zu entdecken, ist eine Sache; und die Möwen in die Wälder zu verbannen, eine andere. Das eine setzt eine bestimmte Art frommer Naturanschauung voraus und ist jedem möglich; das andere ist ein Wunder und nur dem Heiligen möglich. Wir haben die Erzählung bisher vornehmlich von der Seite des Analogiedenkens her betrachtet, jetzt ist es an der Zeit, auch die andere Seite schärfer ins Auge zu fassen. Wenn es sich auch um einen Gegenstand eher der Theologie als der Philologie handelt, darf er doch nicht ausgespart werden. Denn von seiner Beurteilung hängt zu einem Gutteil die Beurteilung der Texte ab. Die christlichen Berichte über Tierwunder beruhen auf gewissen Hauptgedanken, die ähnlichen Berichten aus der vorchristlichen Antike fehlen. Die Tierwunder bezeugen wie alle Wunder die Macht Gottes, und sie werden aus diesem Grunde zur Erbauung, d. h. zum religiösen Nutzen der Leserschaft, erzählt. Das ist ihr - durchaus überliterarischer - Sinn. Der Autor will nicht etwa nur unterhalten, er fühlt sich vielmehr verpflichtet, über das, was er selbst erlebt oder aus einer ihm glaubwürdigen Quelle erfahren hat, Zeugnis abzulegen. So werden z. B. bei Sulpicius (dial. I 15, 6) zwei Mönche Zeugen der wunderbaren Heilung blindgeborener Löwenjungen durch einen Anachoreten. Sie fühlen sich daraufhin für die Mühe, die es sie gekostet hat, den Anachoreten in der Wildnis aufzuspüren, reich belohnt: qui in testimonium tantae virtutis admissi fidem sancti, gloriam Christi, quae per ipsos esset testificanda, vidissent. Ebenso wie diese beiden Mönche sieht sich auch der Hagiograph selbst in höhere Pflicht genommen. Sulpicius bemerkt in dem Widmungsbrief, den er der Vita Martini voranschickt, er halte es für Sünde, wenn die Taten eines solchen Mannes (durch seine Schuld) verborgen blieben 47 . Damit ist, wie gesagt, ein ganz neues, außer- und überliterarisches Motiv literarischen Schaffens gegeben, das der können und daß letztere keineswegs mangelndes Empfinden für die Schönheit der Natur voraussetze. Vgl. Newman selbst in dem Essay »Philosophische Geisteshaltung als Ersterfordernis des Evangeliums« (Ausgewählte Werke, hrsg. von M. Laros, Mainz 1940, Bd. 3), 20 f. In Newmans Religionsphilosophie spielt das Werk von J. Butler, The Analogy of Religion to the Constitution and Course of Nature (1736) eine gewisse Rolle, 〈 s. unten S. 147 f. 〉 . 47 Sulp. vita Mart. ep. ded. 5: Ego enim, cum primum animum ad scribendum appuli, quia nefas [! ] putarem tanti viri latere virtutes … eqs. Hinzuzunehmen ist der Schluß der Vita 27, 7: Ego mihi conscius sum me, rerum fide et amore Christi impulsum ut scriberem, manifesta exposuisse, vera dixisse. Augustinus schalt eine geheilte Frau, weil sie das Wunder nicht verkündete (civ. 22, 8). 96 Antike fremd war, weil sie die Pflicht des Zeugnisablegens nicht kannte 48 . Weiter: die Tiere gehorchen dem Heiligen, weil er selbst Gott gehorcht! Die Herrschaft über die Tiere, die Adam (nach Gen. 1,25/ 28) zunächst besaß, aber durch seinen Ungehorsam verlor, wird dem Heiligen aufgrund seiner christlichen Tugenden, gerade auch wegen seines ausgezeichneten Gehorsams, zurückgegeben 49 . Sichtet man nun den Motivschatz der Tiergeschichten, so stellt sich heraus, daß sie in ungezählten Einzelzügen mit vorchristlichen Tiergeschichten, wie sie etwa durch Aelian De natura animalium erhalten sind, übereinstimmen. Und dennoch: die anderen geistigen Voraussetzungen 50 und Ziele machen sich bis in die Einzelheiten bemerkbar. Es ist ein Unterschied, ob Frösche für immer verstummen müssen, weil sie den Schlaf des Perseus störten 51 , oder ob ihnen Schweigen geboten wird, damit sie nicht das gottesdienstliche Gebet durch ihr Quaken beeinträchtigen 52 . Es ist ein Unterschied, ob Vögel bei der Geburt eines Menschen singen, wie die Schwäne bei der Geburt des Apollonios v. Tyana 53 , oder ob sie in der Todesstunde jubilieren wie die Lerchen am Sterbebett des Poverello 54 . Und es ist wiederum ein Unterschied, ob die Tiere über den Tod des Daphnis seufzen 55 , oder ob sie, wie eben die Lerchen beim Tode des hl. Franz, ein »klagendes Jubilieren und ein jubilierendes Klagen« hören lassen 56 . 48 Tacitus Agr. 1 f. fühlt sich vor dem allgemeinen moralischen und kulturellen Bewußtsein verpflichtet, die Biographie seines Schwiegervaters zu schreiben. Die Pflicht des Christen, zur Ehre Gottes von Leben und Wundern eines Heiligen Zeugnis zu geben, ist nach Art und Maß etwas anderes. Vgl. Sulp. dial. 1, 14, 6/ 8 im Anschluß an die Erzählung von der reuigen Wölfin: intuemini, quaeso, Christi etiam in hac parte virtutem … Tua haec virtus, Christe, Tua sunt haec, Christe, miracula; etenim quae in Tuo nomine operantur servi Tui, Tua sunt … eqs. 49 Apophthegm. patr., Antonius 36 (PG 65, 88 A/ B): e⁄pe pàlin, Ìti ô Õpotagò metÄ ‚gkrate-ac Õpotàssei jhr-a, ebd., De abbate Paulo (381 A): … ‚àn tic kt†shtai kajarÏthta, pànta Õpotàssetai aŒtƒ ±c tƒ >AdÄm Ìte ™n ‚n parade-s˙, pr»n £ parab®nai tòn ‚ntol†n. Vgl. Joh. Chrys. in Gen. hom. 7,5 (PG 53, 67); ad pop. Antioch. hom. 11,4 (49,125): die Tiere gehorchen dem Menschen nicht mehr, seit er selbst Gott ungehorsam ward. Ferner s. Junge (wie Anm. 26) 8/ 10. 38. 50 〈 Über sie Henke (wie Anm. 24) bes. 47. 49. 57 f. 60. Aber 〉 nicht nur die geistigen Voraussetzungen sind andere. Bei Mc. 1,13 heißt es von Jesus in der Wüste: ™n metÄ jhr-wn, und erst die christlichen Wüstenheiligen lebten mit den Tieren wie Christus, was keinem antiken Philosophen jemals eingefallen wäre. Erst also die asketische Bewegung des 3. und 4. Jh. n. Chr. schuf die faktischen Voraussetzungen für Art und Häufigkeit christlicher Tiererlebnisse, die in der paganen Paradoxographie eher bemerkenswerte Absonderlichkeiten darstellten. So konnte sich auch erst jetzt das Empfinden für die Naturschönheit der Einöden entfalten; s. L. Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms 1, Leipzig 1919 10 , 478 5 . 51 Aelian. nat. anim. III 37. 52 Ambros. de virginibus III 3, 14. 53 Philostr. vita Apoll. I 5, 7. 54 Speculum Perfectionis, ed. P. Sabatier (Manchester 1928 2 ; Nachdruck: 1966) 11, 7, p. 320; Thomas de Celano, tract. de miraculis 32 (Analecta Franciscana 10, 284); S. Bonaventura legenda maior 15, 6 (ebd. 623). 55 Verg. buc. 5, 24/ 28. 56 Tract. de miraculis l. c. (Anm. 55): Flebilis iubilus et iubilans fletus resonabat ab eis (sc. alaudis). 97 Junge hat diese und andere Unterschiede richtig erkannt, sie hätte freilich noch fester zupacken sollen 57 . Doch mag das hier auf sich beruhen bleiben. Bedenklicher ist ein anderer Mangel, der das ganze Buch durchzieht. Die Authentizität der Quellenberichte über Franzens Verhältnis zu den Tieren wird an einem zweifelhaften Kriterium gemessen: an dem der »Wunderlosigkeit« 58 . Ihre These läßt sich etwa so umschreiben: Wunder gibt’s nicht; folglich ist alles Wunderbare freie Zutat des mehr oder minder wundersüchtigen Erzählers, mithin nicht echt, nicht wahr - es muß abgestreift werden, will man zu Person und Geist des Heiligen selbst vorstoßen 59 . Vielleicht könnte das Prinzip, richtig angewandt, stellenweise zu einer überzeugenden Interpretation führen, da wachsender Zeitabstand und zunehmende Verehrung nicht ohne Wirkung auf die biographischen Berichte bleiben mögen. Junges Art jedenfalls, das Prinzip zu gebrauchen, setzt sie selbst in allerlei Verlegenheit und mündet in haltlose Erklärungen der Texte 60 . Ich würde derlei an einem älteren Werk nicht beanstanden, würde Vergessenes nicht wieder hervorziehen, wenn nicht ein ähnlicher Mangel die moderne Erklärung der Martinsschriften beeinträchtigte. 10. Wer es unternimmt, Wunder und Visionen der christlichen Hagiographie vor dem Tribunal der historisch-kritischen Wissenschaft zu verteidigen, hat einen schweren Stand. Fontaine hat sich in der Einleitung seiner Edition dieser Aufgabe unterzogen 61 , veranlaßt 57 Es gibt im ersten Teil ihres Buchs, der die vergleichende Motivuntersuchung enthält (13/ 81), religionsgeschichtliche Parallelen, die nicht recht treffen, während andrerseits die Möglichkeiten der Differenzierung zwischen dem Christlichen und dem Vorchristlichen nicht voll ausgeschöpft werden. Hier nur ein Beispiel: »Dieselbe Liebe … veranlaßte Franziskus … die Würmchen aus dem Wege zu räumen. Diese Art der Charakterisierung des Mitleids eines frommen Mannes ist nun durchaus nicht original christlich« (Junge [wie Anm. 26] 37). Die Verfasserin meint weiter, »fast noch klarer« komme die Absicht in griechischen Philosophenlegenden wie in der über den Platonschüler Xenokrates bei Aelian. var. hist. XIII 31 zur Geltung. Und das, obwohl es bei Thomas v. Celano heißt (Vita I 29, 80: Analecta Franciscana 10, 60): Circa vermiculos etiam nimio flagrabat [! ] amore, quia legerat de Salvatore [! ] dictum: ›Ego sum vermis et non homo‹ (Ps. 21,7)! Noch weniger deutlich zeigt sich das christliche Profil bei bloßer Aneinanderreihung der Belege, wie sie H. Günter, Psychologie der Legende (Freiburg 1949) 178/ 87 bietet. 58 Der Begriff bei Junge (wie Anm. 26) 97. 59 Vgl. etwa Junge (wie Anm. 26) 79/ 81; 84/ 86; 97 f. u. ö. 60 Die Berichte über das Schweigen der Schwalben (Thomas de Celano, Vita I 21, 59; Analecta Franciscana 10, 45) und den Gehorsam der Zikade (ders., Vita II 130, 171: ebd. 229) möchte die Verfasserin als authentisch ansehen. Aber dann gäbe es ja Wunder! Ihr Ausweg (a. O. 86): »Daneben kann man aber das Schweigegebot, wenn es tatsächlich von Franziskus ausgesprochen ist, wohl auch als Zeugnis dafür werten, daß dem Heiligen die Vorstellungsweise der Legenden geläufig war und daß er zum mindesten mit ihr spielte [! ]«. Eine verzwickte Lösung: Franz redete und handelte bereits zu Lebzeiten, wie es die literarische Tradition der Legende erforderte! 61 Fontaine 1, 191/ 203. 98 durch die gelehrte Auseinandersetzung über den historischen Wert der Vita Martini, die besonders in den zwanziger Jahren geführt wurde 62 . Er will eine via media 63 einhalten zwischen gläubiger Kritiklosigkeit und jener Hyperkritik, die dem Buch von Edmond Charles Babut (Saint Martin de Tours, Paris o. J. [1912]) zur Berühmtheit verhalf. Der Mittelweg Fontaines führt zu dem Ergebnis, daß die Berichte von übernatürlichen Ereignissen zu einem guten Teil als Einkleidungen natürlicher Begegnungen und Vorkommnisse zu verstehen seien. Daneben wird ein Bestand an sogenannten »objektiven« Wundern anerkannt, dem auf der anderen Seite ein gewisses Quantum purer Erfindung, literarischer oder sonstiger Art, gegenübersteht 64 . Aber vieles wird auf besagtem Wege in den Bereich der historischen Wirklichkeit hinübergerettet: als zeitgebundene Ausdrucksform einer psychologisch-religiös bedingten Sicht natürlicher Dinge. Der Philologe wird vor allem wissen wollen, was sich aus alledem für die Erklärung des Texts ergibt, und er wird daher recht bald zu Fontaines Kommentarbänden greifen. Um einen Eindruck davon zu geben, welche kritische Zurückhaltung dort zu üben ist, biete ich hier drei Proben, die der von Fontaine vorgenommenen Einteilung in »satanisme«, »visions« und »miracles« 65 entsprechen: 1) Bei Mailand trat dem Heiligen der Teufel in menschlicher Gestalt entgegen, versuchte ihn, wurde aber abgewiesen (vita Mart. 6). Fontaine vermutet, dieser Teufel sei in Wahrheit der arianisch gesinnte Kaiser Constantius II. gewesen, der damals in Mailand residierte. Gerechterweise muß man hinzufügen, daß dieser Einfall nicht vom Kommentator selbst stammt 66 und nur als Möglichkeit erörtert wird. Doch schon in der Einleitung wird er als »exzellente Arbeitshypothese« vorgestellt 67 , im Kommentar dann einer seitenlangen Behandlung gewürdigt 68 . Dabei heißt es im Text der Vita, Martin habe jenes Erlebnis gehabt cum Mediolanum praeterisset! Er war also bereits an Mailand vorübergezogen, als ihm der Teufel in den Weg trat. Und auch wenn man diese Klippe irgendwie zu umschiffen sucht - die Begegnung mit dem Kaiser könne 62 Vgl. bes. H. Delehaye, Saint Martin et Sulpice Sévère: Analecta Bollandiana 38 (1920) 5/ 136, der sich mit dem oben im Text genannten Buch von Babut befaßt. Über die Beiträge von C. Jullian und das Martinbuch von P. Monceaux (1927) s. Fontaine 181/ 83. 63 Fontaine 1, 191. 64 Vgl. die vierfache Einteilung der Wunder ebd. 198/ 203. Hier noch ein Wort zur zweiten Gruppe (»miracle coincidence«)! Der Fall, daß ein natürliches Ereignis (plötzliche Friedensgesandtschaft der Barbaren) dem Eingreifen Gottes zugeschrieben wird, begegnet vita Mart. 4, 7/ 9; hier liegt das Wunderbare in der zeitlichen Koinzidenz, der Martin seine Rettung verdankt. Aber gerade der Umstand, daß Sulpicius in einem solchen Falle keine phantastische Einkleidung anstrebt, sondern seine Deutung frei anfügt (4, 7: unde quis dubitet hanc vere beati viri fuisse victoriam … eqs.), sollte den Interpreten davor bewahren, gegen das Wort des Autors möglichst viele Wunderberichte dieser Gruppe zuzuschanzen. 65 Fontaine 1, 191. 66 Sondern von C. Jullian: Rev. Ét. Anc. 12 (1910) 272 f. 67 Fontaine 1, 192. 68 Fontaine 2, 571/ 79. 99 ja außerhalb der Mauern stattgefunden haben, mutmaßt Fontaine weiter, vielleicht sei überhaupt nicht der Kaiser selbst, sondern nur seine Polizei gemeint 69 -, es bleibt die Frage, weshalb in einer Biographie, die doch Martins Auftreten vor Julianus (Apostata) und dem Usurpator Maximus schildert (4. 20), ausgerechnet dem Constantius sollte eine Maske aufgestülpt worden sein. 2) Zwei Engel erschienen St. Martin, um ihn der himmlischen Hilfe bei der Zerstörung des Tempels von Levroux (Leprosum) zu versichern (vita Mart. 14, 5). Sie erschienen hastati adque scutati instar militiae caelestis. Das könnten doch wiederum nur kaiserliche Beamte gewesen sein, die Ruhe und Ordnung garantieren sollten, meint der französische Gelehrte 70 . Nun läßt Sulpicius nirgendwo erkennen, daß er zwischen Engeln und Polizisten nicht zu scheiden wüßte. Was aber noch schwerer wiegen dürfte: es geht aus dem Text klar hervor, daß die Engel bei der Zerstörung des Tempels (14, 6/ 7) der Menschenmenge unsichtbar blieben, was doch den protectores des Kaisers gewiß nicht möglich gewesen wäre. Daß Engel in der frühchristlichen Kunst als Krieger und Wächter dargestellt werden, erlaubt nicht den umgekehrten Schluß für die Literatur: Krieger und Wächter als Engel. Welch blasphemische Folgerungen müßte sich sonst die frühe Christenheit aufgrund der bildlichen Darstellungen des Christus Basileus gefallen lassen! Fontaine operiert allenthalben auf der Grundlage einer trüben religiösen Phantasie, die er teils Martin, teils den Gewährsleuten, teils dem Biographen unterstellt 71 . 3) Martin heilte Paulinus, den späteren Bischof von Nola, von einer schweren Augenkrankheit (vita Mart. 19, 3). Hier ist sich nun der Kommentator sicher: diese Heilung schlägt er der »vierten Kategorie« der Wunder zu, das heißt: denjenigen, die nichts weiter sind als literarische Fiktion. Die Blindenheilung ist »Symbol« und »Metapher« für Paulins Bekehrung zum asketischen Leben 72 . Martin habe ihm sozusagen die Augen 69 Fontaine 2, 572.574 f. Andrerseits hält er bis zum Schluß der Erörterung (p. 579) daran fest, daß der Teufel so rede, wie man das von Constantius [! ] erwarten würde. Überhaupt schüttet Fontaine aus dem Füllhorn seiner Intuition fortwährend so viele Einfälle aus, daß es erheblichen Aufwand erfordern würde, sie anhand des Textes nachzuarbeiten. Ich bemerke hier nur noch, daß mir seine Auslassungen über die »Inkarnation« (sic! ) Satans (573) - ausgelöst durch die Wendung humana specie assumpta (vita Mart. 6, 1) - gar nicht glücklich erscheinen. 70 Fontaine 2, 781/ 86, bes. 783 f. 71 Vgl. dagegen Gregor. Thaumaturgos or. in Orig. 5, 71 (Sources Chrét. 148, 122/ 24). Ein Soldat hatte ihn von Pontos nach Palästina geleitet. Aber statt nach Berytos zum Schwager, wie geplant, gelangte Gregor zu Origenes: »N i c h t der Soldat also, sondern ein himmlischer Reisegefährte, ein guter Begleiter und Wächter, er, der uns während unseres ganzen Lebens wie auf einer weiten Reise beschirmt, er hat uns … hierhergebracht. Er setzte alles daran, um uns auf jedwede Weise diesem Manne (d. h. dem Origenes) zu verbinden, der für uns die Ursache zu viel Gutem ward …« usw. Wie hätte dies der Soldat tun können? Gregor ist also weit davon entfernt, Soldat und Engel zu identifizieren. 72 Fontaine 1, 203; 2, 887. Diese Beweisführung ging selbst dem Kommentator Smit zu weit (279 z. St.), der sich sonst Fontaines Hypothesen gegenüber recht duldsam erweist (vgl. 275 zu duo angeli), ihnen 100 geöffnet. Damit wäre also wieder ein »Mirakel« für die Geschichte gerettet. Wenn nur der Text nicht wäre! Denn der sagt unmißverständlich klar: pristinam … ei sanitatem sublato omni dolore restituit. Niemals ist eine Conversion die Rückversetzung in einen früheren Zustand: sie ist immer ein totaler Neubeginn. Der Mönch löscht beim Eintritt ins Kloster sein früheres Leben gleichsam aus, fängt ein neues Leben an. Pristina sanitas ist das nicht. Es hilft also nichts: wir müssen uns damit abfinden, daß der Autor von der wunderbaren Wiederherstellung des Sehvermögens berichtet. 11. Wie zu erwarten, ist die Saat, die Fontaine ausgestreut hat, auf fruchtbaren Boden gefallen. A. Loyen sucht in einem einschlägigen Aufsatz 73 zu vollenden, was ihm der Vorgänger übrig ließ. »Symbol« (»Symbolismus«, »symbolisch«) lautet das Zauberwort, das fast alle Rätsel des Mirakelwesens lösen soll. Auch dieses Mittel hatte ja Fontaine schon bereitgestellt. Verführt durch die allegorische Bibelerklärung, lehrt uns Loyen, hätten Autoren wie Sulpicius natürliche Ereignisse, in denen man Gottes Fügung erkannte, symbolisierend dargestellt. Sogar bei der Heilung des gelähmten Mädchens zu Trier (vita Mart. 16) habe St. Martin vielleicht bloß ein natürliches Krankheitsintervall ausgenützt oder aber durch sein Erscheinen bei dem Mädchen einen heilsamen Schock ausgelöst 74 . Nur die Totenerweckungen Martins (vita Mart. 7/ 8) bereiten Loyen noch ernste Schwierigkeiten, aber, so hofft er, diese würden vielleicht einst unsere Enkel begreifen, wofern die Religionshistoriker bis dahin durch vergleichende Betrachtung der Thaumaturgien in anderen Kulturen Klarheit geschaffen hätten. Unsere Möwengeschichte ist allerdings, soweit ich sehe, noch nicht naturgeschichtlich gerechtfertigt worden. Wendet man die aufklärerischen Tendenzen der modernen Forschung auf die Interpretation dieser Erzählung an, so müßte das Ergebnis etwa wie folgt ausfallen: die fischfressenden Wasservögel seien just in dem Augenblick, als St. Martin vorüberzog, jedenfalls nie mit der notwendigen Entschiedenheit entgegentritt. Bei der Erklärung zu vita Mart. 12, 4 (in vertiginem rotabantur ) scheint er seinerseits von der Methode Fontaines angesteckt (273 f.). Dagegen wird bei Chr. Mohrmann (in der Einleitung zu dem betreffenden Bande der Vite dei Santi (s. oben S. 83), XVII f.) eine Zurückhaltung gegenüber Fontaines Behandlung der »problemi del diavolo, dei sogni, delle visioni, ed anche dei miracoli« fühlbar: »(Certi problemi) possono trovare la loro soluzione definitiva solo su un terreno che non è più quello della filologia, ma soprattutto della storia delle religioni, della spiritualità, ecc.« 73 A. Loyen, Les Miracles de saint Martin et les debuts de l’hagiographie en Occident, Bulletin de Littérature Ecclésiastique 73 (1972) 147/ 57. 74 Solches Verfahren muß letzten Endes zu dem Ergebnis führen, daß St. Martins Krafttaten auf einer wohlberechneten Taktik beruhten, die der des Kaisers Vespasian gleicht, als er zu Alexandrien nach vorheriger Befragung seiner Ärzte zwei Anhänger des Serapiskults »heilte« (Tac. hist. 4, 81). 101 von einem seltenen Appetit auf Eichhörnchen ergriffen worden, was Martin, einer glücklichen Eingebung gehorchend, rechtzeitig erkannte! 75 Man möge mich nicht mißverstehen: ich möchte niemanden dazu bekehren anzunehmen, St. Martin habe es vermocht, die Gesetze der Natur außer Kraft zu setzen, also »objektive« Wunder zu wirken (um Fontaines Terminologie aufzugreifen) - damit wäre die Grenze philologischer Arbeit überschritten. Es geht mir vielmehr darum zu zeigen, daß Sulpicius es glaubte. Und weiter: daß eine wohlgemeinte Apologie, welche die Vita Martini möglichst in allen Punkten vor einer Instanz rechtfertigen will, die außerhalb jenes geistigen Systems steht, dem auch das Werk des Sulpicius als eine seiner Äußerungen angehört, sehr leicht zu einem Attentat auf den wahren spirituellen Gehalt dieses bedeutenden Zeugnisses christlichen Geists mißraten kann - und damit wiederum auch zu einem Anschlag auf die Geschichtswissenschaft selbst. Den Wert der Möwengeschichte sehe ich darin, daß sie dem modernen Leser anhand e i n e s Beispiels und auf begrenztem Raum klar vor Augen stellt, was man vom Standpunkt des Autors aus »Symbol« nennen darf und was nicht; was ein »Symbol« für den Christen ist und was es nicht ist. Das Treiben der Möwen ist Symbol, und dafür wird auch der rechte Terminus gebraucht: forma. Ihre Flucht in trockenes Waldgebirge dagegen, ist ein Beweis der Wundermacht (virtus) des Heiligen. Beides ist nach dem Willen des Autors streng zu scheiden. Denn wenn er sagt, viele hätten gestaunt darüber, daß Martin sogar über die Vögel gebiete, so denkt er natürlich an das Staunen derer, die sich fragten: »Wer ist dieser, daß ihm sogar die Winde und das Meer gehorchen? « (Mt. 8,27) 76 . Nachträge 1) Während des Drucks erschien das Buch von Clare Stancliffe, St. Martin and His Hagiographer. History and Miracle in Sulpicius Severus, Oxford 1983. Die Möwengeschichte wird darin (229) richtig als Gleichnis (»simile«) aufgefaßt. In anderer Hinsicht bewegt sich die Verfasserin ganz auf der Linie Fontaines. Die Wunderberichte werden allesamt rationalistisch erklärt (250/ 55): als Irrtum, Zufall, Übertreibung, Metapher, Telepathie, Hypnose usw. (Fontaines Deutung der beiden Engel zu Levroux - s. oben S. 100 - findet Zustimmung [195]). Sie sollen Ausdruck sein einer Heiden wie Christen gemeinsamen Weltsicht des 4. Jh. (213 ff.), innerhalb derer Gegensätze zwischen Christentum und Heidentum untergeordnete Bedeutung haben (vgl. J. Fontaine, Chri- 75 Derlei rationalistische Erklärungsversuche, die ja nicht selten eine unfreiwillige Komik an sich haben, müßten übrigens auch dem absichtsvollen Detail grege facto des Sulpicius-Texts (oben S. 84) Rechnung tragen. 〈 »Der Rationalismus ist der größte Feind des Glaubens und damit der größte Fälscher des Seins (Theodor Haecker, Tag- und Nachtbücher, München 1949 2 ,20.) 〉 76 Vgl. Hier. in Mt. 8,26 (CCL 77, 52): Et ex hoc loco intellegimus quod o m n e s creaturae sentiant Creatorem. 102 stentum ist auch Antike, JbAC 25, 1982, 5/ 21). Selbst St. Augustins »Theologie des Wunders« (223/ 27) erscheint so hauptsächlich als Teil eines allgemeinen Weltbildes des »fourth-century man« (249). Daß ich mir solche Betrachtung frühchristlicher Geistesgeschichte nicht zu eigen machen kann, sei hier nur festgestellt. Zur Begründung verweise ich auf meine Studie Chrêsis. Die Methode der Kirchenväter im Umgang mit der antiken Kultur. I: Der Begriff des »rechten Gebrauchs«, Basel/ Stuttgart 1984, passim, bes. 91/ 94. 〈 Auch Flaminio Ghizzoni, Sulpicio Severo, Parma 1983 steht ganz im Banne Fontaines. Gewagte Interpretationen, die bei Fontaine selbst noch als Möglichkeiten vorgetragen werden - die Deutung des Teufels vita Mart. 6 auf Kaiser Constantius und die Identifikation der Engel vita Mart. 14,5 mit kaiserlichen Beamten bzw. Soldaten - werden bei Ghizzoni wie sichere Ergebnisse dargeboten (128. 124). Der Teufel ist »espressione« verschiedener geistiger, materieller und geschichtlicher Tatsachen (130), die Wunder werden ernstgenommen, aber nur als Ausdrucksmittel der Ideen einer bestimmten Epoche begriffen (111). Der Gegensatz (»il contrappunto«) zwischen historischer Wahrheit und Stilisierung (»stilizzazione«) historischer Ereignisse wird zum Gesetz der Hagiographie erhoben (131). Alle solche Versuche, Wunder und Visionen dem modernen Denken gefügig zu machen, beruhen auf der Voraussetzung, daß der Heilige nicht gesehen, nicht erlebt, nicht getan haben kann, was von ihm berichtet wird, weil das, was berichtet wird, nicht existiert. Aber die Autoren hätten das niemals zugegeben, und darum tragen jene Versuche nichts zu ihrem Verständnis bei. Kurt Smolak hat eine zweisprachige Ausgabe »Leben des heiligen Martin (Vita Sancti Martini)« herausgebracht (Eisenstadt 1997), in der (S. 151, Anm. 218) die Szene mit den »Tauchvögeln« richtig als Symbol erklärt, solches Naturverständnis allerdings als »volkstümlich« bezeichnet wird, so daß seine weite und tiefe Bedeutung im Christentum, auch im Denken der Väter, nicht recht hervortritt. Die aufklärerischen Tendenzen sind in den nützlichen Anmerkungen dieses hübschen Bändchens in wohltuender Weise zurückgedrängt, wenn auch nicht restlos verschwunden (spürbar wieder in der Bemerkung über die Erscheinung der Engel zu Levroux, S. 63, Anm. 77). Eine intensive und oftmals kritische Auseinandersetzung mit Fontaine führt Elena Giannarelli in den gehaltvollen Noten zur italienischen Übersetzung: Sulpicio Severo, Vita di Martino, Introduzione e note di Elena Giannarelli, traduzione di Mario Spinelli, Milano 1995 = Lettere Cristiane del Primo Millennio 19, vgl. hier etwa p. 146,7; 159,1; 168,3; 178,4; 179,6; 185,6 (am Ende); 188,1; 189,2; 190,4; 200,1; die Kritik betrifft auch Philologisches; vgl. besonders p. 245 f. Die Ausgabe enthält die Briefe nicht, bietet aber p. 121/ 29 eine reiche Bibliographie (in der die hier vorgelegte Studie fehlt). 〉 2) 〈 Franz von Sales rechnete die Übung in der analogischen Betrachtung der Natur und des Lebens unter die unerläßlichen Mittel der »vie devote«, wobei er auch einige Beispiele anführt, die oben zur Sprache kamen (François de Sales, Introduction a la vie devote II 13, p. 124/ 34 der von mir benützten Ausgabe Paris 1735). Ich gebe die deutsche Übersetzung nach Franz Reisinger (Franz von Sales, Anleitung zum frommen 103 Leben. Philothea, Eichstätt/ Wien 1959 = Deutsche Ausgabe der Werke des hl. Franz von Sales 1, 87/ 89): »So können auch jene, die Gott lieben, nicht aufhören, an ihn zu denken, für ihn zu atmen, nach ihm zu streben, von ihm zu sprechen: sie möchten den hochheiligen Namen Jesus nach Möglichkeit in die Herzen aller Menschen schreiben. Alles dient ihnen als Anregung dazu; es gibt kein Geschöpf, das ihnen nicht das Lob des Geliebten verkündet. Wie Augustinus nach einem Wort des hl. Antonius sagt, spricht alles auf der Welt eine stumme, aber sehr verständliche Sprache. Alles regt sie zu guten Gedanken an, die wieder eine Erhebung zu Gott zur Folge haben [es folgen Beispiele, darunter Anselm und Franziskus]. In dieser Übung der geistlichen Einsamkeit und der kurzen Herzenserhebungen zu Gott besteht das große Werk der Frömmigkeit. Sie kann im Notfall alle übrigen Gebete ersetzen, ihre Unterlassung kann aber kaum durch irgend etwas gutgemacht werden«. 〉 104