Existenz und Freiheit 

Vorwort

Existenz und Freiheit - Karl Jaspers, Hannah Arendt und Heinrich Barth zur Freiheitslehre AugustinsVorwort10.24894/978-3-7965-4511-5Nils Baratella, Johanna Hueck, Kirstin ZeyerNils Baratella, Johanna Hueck, Kirstin Zeyer Vorwort Kaum ein Thema verbindet das Denken der Zeitgenossen Karl Jaspers, Hannah Arendt und Heinrich Barth so prägnant wie ihr je eigener, engagierter Umgang mit der Philosophiegeschichte. Nicht nur für Karl Jaspers spielte Augustinus in der Ausbildung seiner Existenzphilosophie eine wesentliche Rolle, auch seine Schülerin Hannah Arendt begann ihren denkerischen Werdegang bekanntlich mit einer Arbeit zum Liebesbegriff bei Augustin. 1 Darüber hinaus durchzieht das berühmte Augustinische Zitat «damit ein Anfang sei» geradezu leitmotivisch das gesamte Werk der politischen Denkerin. So kann Augustinus als wichtigster Gewährsmann für Arendts Gedanken der Natalität gelten. 2 Neben der Dissertation von Hannah Arendt verweist Karl Jaspers in seiner Darstellung der Augustinischen Philosophie auf die Augustinus-Monographie seines Kollegen Heinrich Barth, die dieser zwei Jahre nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten vorgelegt hat. 3 Darin nimmt Barth eine gründliche Auslegung der Freiheitsthematik bei Augustin vor. Insofern bildet die Freiheitslehre Augustins einen gemeinsamen thematischen Mittelpunkt für Jaspers, Arendt und Barth. Auf den ersten Blick hat dies auch ganz praktische Gründe: in den 1920er Jahren wird das Werk Augustins aufgrund der Feierlichkeiten zum 1500. Todestag breit reflektiert. 4 Zugleich gibt es aber Gründe, die philosophischerer Natur sind: die Erfahrung des Ersten Weltkriegs und der in ihm entfesselten, zuvor un- 1 Ausgaben von Hannah Arendt: Der Liebesbegriff bei Augustin: Versuch einer philosophischen Interpretation: Berlin 1929; hg. u. mit e. Nachwort vers. v. Ludger Lütkehaus, Berlin u. Wien 2003; hg. u. mit e. Essay zur Einleitung v. Frauke-A. Kurbacher, Hildesheim 2006; hg. v. F. A. Kurbacher, Hamburg 2018; hg. u. mit e. Nachwort vers. v. Thomas Meyer, München 2021. 2 «Damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen, vor dem es niemand gab.» Augustinus: De civitate Dei, Buch 12, Kap. 20. Allein in den Vorlesungen Über das Böse finden sich 16 Nennungen. Vgl. Arendt: Über das Böse, München 2006. 3 Heinrich Barth: Die Freiheit der Entscheidung im Denken Augustins. Regensburg 2019. 4 Siehe exemplarisch: Aurelius Augustinus: Die Festschrift der Görres-Gesellschaft zum 1500. Todestag des Heiligen Augustinus. Hg. v. Martin Grabmann u. Joseph Mausbach. Köln 1930. 8 Nils Baratella, Johanna Hueck, Kirstin Zeyer vorstellbaren, maschinellen Gewalt zwingt zu Fragen nach der Freiheit des Menschen, nicht nur Gutes, sondern auch Böses zu tun. Die Freiheit zwischen diesen extremen Polen entscheiden zu können, ist, was für Augustin aus dem Sündenfall des Menschen folgt. Augustin reflektiert mit diesem Gedanken bereits die Krisensituation, die das Ende der antiken Welt und der Übergang zum Mittelalter zu seinen Lebenszeiten bedeutet. Freiheit ist auch eine Situation der Ungewissheit. In ähnlicher, existenzieller Ungewissheit, in einer historischen Situation, in der Gutes möglich scheint und sich das Böse wieder am Horizont zeigt, werden Jaspers, Arendt und Barth philosophisch sozialisiert. Sie alle entscheiden sich nicht nur, sondern sind geradezu aufgerufen, die Frage nach der Freiheit neu zu stellen. Im Karl Jaspers-Gedenkjahr 2019 wurde der gemeinsame Bezug der Werke von Jaspers, Arendt und Barth zur Freiheitslehre Augustins zum Anlass genommen, eine Tagung zu veranstalten, um Differenzen und Gemeinsamkeiten der drei Denkerinnen und Denker auszuloten. Die Organisatoren der Tagung gingen davon aus, dass die Freiheitsfrage auch und gerade heute als die basale Frage für unabhängiges, kritisches Denken und verantwortliches, gesellschaftliches Handeln gelten muss. Der vorliegende Sammelband vereint die Beiträge der Tagung, die im November 2019 im Karl Jaspers-Haus, Oldenburg stattfand. Die Einteilung in Sektionen wurde beibehalten und durch einen weiteren externen Beitrag ergänzt: In der Sektion I: Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Auslegung und Geschichte widmet sich Harald Schwaetzer der alle drei Denker übergreifenden Frage nach der existentiellen Phänomenologie als «Wesenserfahrung des Göttlichen». Während Nils Baratella in seinem Beitrag mit dem ‹immerwährenden Anfang› einen zentralen Aspekt von Hannah Arendts Augustinus-Rezeption in den Blick nimmt, konzentriert sich der anschließende Beitrag von Kirstin Zeyer auf Heinrich Barths Philosophiegeschichtsphilosophie. Die Sektion II: Existenz und Freiheit eröffnet Susanne Möbuß mit Überlegungen zur Bedeutung des existenzphilosophischen Konzepts der ‹gebundenen Freiheit›, gefolgt von einem Beitrag von Anton Hügli zum Thema «Freiheit und Existenz - Auf der Suche nach der Freiheit, die wir meinen». Das Freiheitsals Willensproblem bei Hans Jonas und Hannah Arendt steht im Zentrum des Beitrags von Frauke A. Kurbacher. Die Sektion beschließt Armin Wildermuth mit dem Thema der Freiheit und der Welt der Erscheinung bei Hannah Arendt, Adolf Portmann und Heinrich Barth. In der Sektion III: Transzendenz und Freiheit erläutert Malte Maria Unverzagt Karl Jaspers’ Konzeption des «Umgreifenden», gefolgt von Bernd Weidmann, der den augustinischen Spuren der Ohnmacht in der Freiheit im Denken von Karl Jaspers nachgeht. In der abschließenden Sektion IV: Gnade, Freiheit und Politik untersucht Vorwort 9 Christian Graf mit Blick auf Heinrich Barth die Frage der Gnade im Kontext der Philosophie. Johanna Hueck stellt schließlich in ihrem Beitrag zu Freiheit und Kooperation das Verhältnis von Existenz und Transzendenz bei Heinrich Barth in den Mittelpunkt. Die Tagung in Oldenburg sowie die Bündelung und Veröffentlichung der Beiträge im vorliegenden Sammelband wären ohne die Mithilfe zahlreicher Personen und Institutionen nicht möglich gewesen. Wir danken insbesondere und ausdrücklich dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur, der Karl Jaspers-Gesellschaft, dem Institut für Philosophie der Universität Oldenburg, der Heinrich Barth-Gesellschaft und dem Philosophischen Seminar der Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte für ihre Unterstützung. Ein weiterer Dank gebührt dem Schwabe Verlag für die gute und reibungslose Zusammenarbeit, namentlich Christian Barth, sowie für die Aufnahme in die neue Reihe «Forschungen zu Karl Jaspers und zur Existenzphilosophie». Nicht zuletzt danken wir für die Unterstützung in der Gestaltung des Bandes und der Bearbeitung der Beiträge, vor allem Sonja Peschutter und Katja Brockmann vom Schwabe Verlag sowie Jan Quathamer, studentische Hilfskraft am Hannah- Arendt-Forschungszentrum der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.