An der Peripherie des nazifizierten deutschen Hochschulsystems 

8.4.4 Physikalische Chemie

An der Peripherie des nazifizierten deutschen Hochschulsystems - Zur Geschichte der Universität Basel 1933–19458.4.4 Physikalische Chemie10.24894/978-3-7965-4540-5Christian Simonan der Universität Zürich bei Paul Karrer wirkende Robert (Karl) Wizinger ( Extraordinarius in Zürich 1943 ) gewonnen, 2787 und für die immer mehr im Vordergrund stehende Chemie der biologisch wirksamen Substanzen übernahm Tadeus Reichstein 1948 vertretungsweise zunächst zusätzlich zur Pharmazie den zweiten Lehrstuhl für Organischen Chemie, auf den er dann 1952 definitiv wechselte. Beide erhielten eigene Gebäude, aber der Unterschied in der Gewichtung zeigte sich schon darin, dass Wizinger 1948 ein bestehendes, vergleichsweise bescheidenes Institut an der Sankt-Johann-Vorstadt bezog, worin vor dem Krieg ein kleiner Pharmabetrieb Opiate hergestellt hatte, 2788 während Reichstein, Nobelpreisträger von 1950, einen grosszügigen Neubau erhielt ( eröffnet 1953 ), der auf seine eigenen wissenschaftlichen Anforderungen zugeschnitten war. 2789 8.4.4 Physikalische Chemie Die Physikalische Chemie vertrat in Basel August Leonhard Bernoulli. Bis 1912 hatte er die ersten Schritte der Karriere, die bei Wilhelm Conrad Röntgen begonnen hatte, in Deutschland absolviert. In diesem Jahr holte ihn seine Vaterstadt auf die Kahlbaumsche 2790 Professur für Physikalische Chemie zurück ; 1919 wurde er zum Ordinarius befördert. Im 1926 bezogenen neuen Institut für Physik erhielt er einen eigenen Trakt für sein Fach. 2791 Seine vielseitige Tätigkeit war für die Chemiker besonders wegen der reaktionskinetischen Studien interessant. 2792 Nachdem er in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, schied er im Februar 1939 aus dem Leben. 2793 Ein idealer Kandidat für seine Nachfolge wurde rasch gefunden : Der Schweizer Werner Kuhn 2794 wirkte als international bekannter Physikalischer Chemiker an der Universität Kiel, die inzwischen zu einer exemplarischen natio- 2787 Maier 2015, 270. Wizinger war PD in Bonn gewesen, wo er 1934 eine Professur erhielt. Prijs 1983a. Wizinger galt den Nationalsozialisten als « weltanschaulich nicht mehr tragbar », weil Katholik (« ultramontan »). Deichmann 2001, 135. 2788 König 2016, 124 ; Kreis 2016, 300. 2789 Das bemerkenswerte Gebäude wurde 2016 zum Abriss freigegeben. Rudin 2016. 2790 Die Physikalische Chemie wurde in Basel durch Georg Kahlbaum eingeführt, der seine Tätigkeit weitgehend selbst finanzierte. Nach seinem Tod garantierte eine nach ihm benannte Stiftung die Weiterexistenz des Faches. Tamm 2006 ; Prijs 1983e. 2791 « Die Physikalische Chemie erhält ein eigenes Institut », Prijs 1983b. 2792 Hagenbach 1940, 413 f. 2793 Akten zur Abwicklung der von Bernoulli angehäuften Schulden in : StABS Erziehung CC 23, März und April 1939. 2794 Kuhn 1984 ; Prijs 1982 f ; Thürkauf 1965. Chemie und Pharmazie 653 nalsozialistischen Hochschule geworden war. 2795 Kuhn hatte die ETH besucht und von 1924 bis 1926 mit einem Rockefeller-Stipendium in Kopenhagen mit Niels Bohr zusammengearbeitet. Dort heiratete er eine Dänin. Nach der Habilitation an der Universität Zürich wirkte er in Heidelberg bei Karl Freudenberg, unterbrochen durch Aufenthalte bei Ernest Rutherford in Cambridge. 1930 bis 1936 war Kuhn Extraordinarius und Abteilungsleiter an der Technischen Hochschule Karlsruhe. Dort befasste er sich vor allem mit Makromolekülen, einem Thema, das nach der Veröffentlichung der Theorien von Hermann Staudinger kontrovers behandelt wurde. 2796 1936 erhielt er das Ordinariat in Kiel, wo er über Isotopentrennung forschte. Mit der nationalsozialistischen Führung der Universität Kiel war er unzufrieden ; vielleicht sah er auch, dass das ‚Dritte Reich‘ auf einen Krieg zusteuerte. Die Anzahl Studierender nahm in Kiel laufend ab, und die Universität wäre geschlossen worden, hätte nicht die Medizinische Fakultät eine Bedeutung als Ausbildungsstätte behalten. 2797 Nach 1937 versuchte er, von Kiel wegzukommen. 2798 « Werner Kuhn litt in diesen Jahren sehr unter dem politischen Druck und half, wo er konnte, seinen vom Nationalsozialismus bedrängten Bekannten. Als Ausländer und Nichtmitglied der Partei wurde es für ihn sehr schwierig. Es war deshalb für ihn und seine Frau eine Befreiung, als er 1939 einem Ruf auf das Ordinariat für Physikalische Chemie der Universität Basel folgen konnte.» 2799 Leider erlaubt das im ( wissenschaftlichen ) Nachlass erhaltene Material nicht, diese Aussage zu konkretisieren. Kuhn gab sich in Deutschland als zuverlässiger Beamter des nationalsozialistisch geführten Staates, unterschrieb offizielle Briefe innerhalb des Reichs wie üblich mit « Heil Hitler! » und war schweizerisch-deutscher Doppelbürger, der, wie ihn das schweizerische Konsulat in Hamburg informierte, im 2795 Geschichte der Universität Kiel im Nationalsozialismus : Cornelißen/ Mish 2009, allerdings ohne Informationen zur Physikalischen Chemie. Auch die von Prahl 1995/ 2007 herausgegebenen Bände erwähnen weder das Fach noch Kuhn. 2796 Werner Kuhn war der Ansicht, « dass die von Staudinger vertretene Vorstellung, dass Moleküle wie Kautschuk oder Zellulose in Lösung langgestreckte starre Fäden seien, durch die von Staudinger selbst veröffentlichten Experimente ausgeschlossen würden. Das musste zu Schwierigkeiten führen, die noch Jahre später beim 60. Geburtstag von Staudinger ihren dichterischen Ausdruck (‚die Kuhn’ schen Knäuel sind uns hier ein Greuel‘) fanden.» Kuhn 1984, 209. 2797 Die Zahl der Studierenden sank von 2763 im Winter 1932/ 33 auf 784 im Sommersemester 1939, als Kuhn die Universität verliess. Prahl 1995, 38 f. 2798 Deichmann 2001, 135, unter Hinweis auf Morris 1986. 2799 Kuhn 1984, 207. Ähnlich Prijs 1982 f : « Hier [in Kiel] half er nach Möglichkeit seinen aus rassischen und politischen Gründen verfolgten Bekannten », und Thürkauf 1965, 190 : « Werner Kuhn hat während der Zeit, da er an deutschen Hochschulen wirkte, den vom Nationalsozialismus und den Nürnberger Gesetzen bedrohten Kollegen in seiner stillen, aber bestimmten Art viel geholfen. Seine vornehme Zurückhaltung hat kaum jemanden etwas davon erfahren lassen.» 654 Die Naturwissenschaftler Kriegsfall bei einem Aufenthalt auf Reichsboden ein Aufgebot der Wehrmacht erhalten könnte. 2800 Anscheinend versuchte er, in Deutschland nicht aufzufallen, um sich seine dortige Stellung nicht beeinträchtigen zu lassen, während er sich im Verkehr mit Bekannten und Freunden von nationalsozialistischen Doktrinen unbeeinflusst zeigte. Im Mai 1933 ( d. h. nach den von den Nationalsozialisten gewonnen ‚Wahlen‘ vom März 1933 und dem ‚Judenboykott‘ vom 1. April 1933 ) wurde er in Karlsruhe denunziert und seine Vorlesung boykottiert. Nun liess er sich vom « Obmann » der Nationalsozialistischen Betriebsorganisation der Technischen Hochschule bescheinigen, dass er zuverlässig zur « nationalen Regierung » stehe. Kuhn war beschuldigt worden, ein Freund der Juden zu sein, denn er war vom jüdischen Vorsteher des Instituts, Georg Bredig ( der auf Herbst 1933 entlassen wurde ) 2801 1929 nach Karlsruhe geholt worden, und die überwiegende Mehrzahl seiner Mitarbeiter waren Juden, von denen ihn mindestens mit Rudolf Bloch 2802 eine Freundschaft verband. Auch habe er die Regierung Hitler wegen den judenfeindlichen Massnahmen kritisiert ; er wollte das Plakat « Wider den undeutschen Geist » im Institut entfernen, weil sich Bredig darüber aufregte. Er arbeite in Deutschland nur des Geldes wegen, nicht weil er « das deutsche Wesen » schätzte, wurde ihm vorgeworfen. Als die Strassen an Hitlers Geburtstag beflaggt waren, habe er seiner dänischen Frau gesagt, dies geschehe wegen irgendeines Feuerwehrfestes. Er habe versucht, einem jüdischen Studenten illegal in der Schweiz zu einer Stelle zu verhelfen 2803 und unterhalte Beziehungen zu Marxisten. Schliesslich soll er gesagt haben, wenn man wüsste, wie er wirklich denke, befände er sich schon längst auf dem Heuberg - dort war das erste badische Konzentrationslager eingerichtet worden. 2804 Kuhn wollte offensichtlich seine Stelle als Abteilungsleiter behalten. In seinem Bekenntnis zur « nationalen Regierung » Adolf Hitlers stand, man müsse ihr 2800 Schweizerisches Konsulat Hamburg, Dr. Henri Dumont, an Kuhn, 2. 7. 1937, in : Nachlass Werner Kuhn, NL 298, A III 27,4. Soweit nicht anders nachgewiesen, stammen alle Informationen aus : Nachlass Werner Kuhn, NL 298. 2801 Entlassungen in Karlsruhe : Seidl 2009. Bredig war in der Weimarer Zeit für seine liberale und pazifistische Einstellung bekannt ; auch kritisierte er die Nationalsozialisten. Kuhn widmete Bredig eine ( späte ) Würdigung : Kuhn 1962. Siehe auch : Nationalsozialismus in Karlsruhe ( ns in ka ), https : / / ns-in-ka.de/ personen/ bredig-prof-georg/ . 2802 Bloch rettete sich vorerst 1935 zu Aussig, später nach Palästina. Nachlass Werner Kuhn, Korrespondenz mit Rudolf Bloch, A II 30. 2803 Kuhn rechtfertigte seine Bemühungen um den Studenten Lehmann gegenüber dem Schweizer Konsul in Mannheim so : « Es kann natürlich keine Rede davon sein, dass die Schweiz alle Juden aufnimmt, die zur Zeit gerne Deutschland verlassen würden ; andererseits hatte ich doch gegen einen mehrjährigen Mitarbeiter [Lehmann] gewisse Verpflichtungen.» 2804 Kienle 1998. Chemie und Pharmazie 655 dafür dankbar sein, dass sie « ein kommunistisches Chaos » verhindere. Antisemitische Massnahmen seien teilweise berechtigt, da die Juden unter sich ‚Seilschaften‘ bilden würden, 2805 und wenn er sich gelegentlich kritisch über Exzesse geäussert habe, so nur deshalb, weil er vermeiden wollte, dass das Regime im Ausland einen schlechten Eindruck mache. Die jüdischen Mitarbeiter habe er nicht « gesucht », sondern er habe sie als reguläre Studierende, die alle Bedingungen erfüllten, nicht abweisen können. Auch habe er die deutsche Wirtschaft seit seiner Ernennung in Karlsruhe 1929 dadurch unterstützt, dass er Gegenstände des persönlichen Bedarfs immer in Deutschland, nicht in der Schweiz eingekauft habe. 2806 Gegen den Denunzianten 2807 wollte er mit Unterstützung eines Heidelberger Anwalts vorgehen und suchte Rat beim schweizerischen Honorarkonsul in Mannheim, Max A. Kunz, dem wir weiter unten wieder begegnen werden. 2808 Die Hochschule massregelte zwar den Denunzianten dadurch, dass sein Habilitationsverfahren hinausgeschoben wurde. Kuhn nahm aber an, die Denunziation 2805 «[…] dass die Juden einen Teil der gegen sie ergriffenen Massnahmen selbst verschuldet haben, indem sie an vielen Stellen eine starke Protektionswirtschaft unter sich betrieben haben, welche abgeschafft werden müsste ». Kuhns eigene Darstellung seiner Argumentation. 2806 Der Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz, Abteilung Kultus und Unterricht, « Im Auftrag gez. Fehrle », betr. « Wiederherstellung des Berufsbeamtentums », Karlsruhe, 19. 7. 1933, « An den Senat der technischen Hochschule Karlsruhe. Im Hinblick auf die inzwischen getroffenen Feststellungen und die von a .o. Professor Dr. Werner Kuhn abgegebene Erklärung und Versicherung positiver Mitarbeit am Aufbau der nationalen Regierung kommen weitere Massnahmen gemäss § 4 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 nicht in Betracht. Hiervon wolle dem Genannten Eröffnung gemacht werden.» In : Nachlass Werner Kuhn, NL 298, G 8a. « Diese Erhebungen ergeben, dass die Anschuldigungen durch gewisse Missverständnisse entstanden sind und die Einstellung des Herrn Professor Kuhn gegenüber der nationalen Regierung als einwandfrei zu bezeichnen ist.» Abschrift einer « Erklärung » des NSBO-Obmanns Dr. E. Gerisch, 26. 10. 1933, ebd. 2807 Günther Briegleb promovierte 1929 in Kiel, war dann Assistent in Karlsruhe, wurde dort 1936 habilitiert und gelangte nach Würzburg, wo er bis 1945 Extraordinarius war. Bis 1951 durfte er nur in der Privatindustrie wirken. Kurzbiographie und Publikationen von Briegleb, Universität Hamburg, https : / / www.chemie.uni-hamburg.de/ institute/ pc/ publika tionen/ db/ briegleb.html. 2808 Kuhn an Direktor Dr. Kunz, Konsul, Schweiz. Konsulat, Mannheim, vertraulich, 6. 7. 1933, in : Nachlass Werner Kuhn, NL 298, G 8a. Dr. Max A. Kunz war Direktor bei IG Farben Ludwigshafen und von 1926 bis 1939 Schweizerischer Honorarkonsul in Mannheim, Spezialist für Küpenfarbstoffe, während des Krieges in der Schweiz Stellvertreter des Chefs der Sektion Chemie und Pharmazeutika im Kriegs-, Industrie- und Arbeitsamt. https : / / www.swissinfo.ch/ ger/ historisches-tondokument_konsul-max-kunz-ueber-die-aus landschweizer-jugend/ 42291892 ; http: / / dodis.ch/ P20430. 656 Die Naturwissenschaftler habe seine Aussichten zerstört, Nachfolger von Bredig zu werden. 2809 1934 wurde der fachlich durchaus kompetente ( Johannes ) Ludwig Ebert Nachfolger des entlassenen Bredig ; derselbe Ebert wurde 1940 auf den durch die Vertreibung von Hermann F. Mark 1938 freigewordenen Wiener Lehrstuhl ( siehe unten ) versetzt, auf den sich auch Kuhn Hoffnungen gemacht hatte. 2810 Den Wechsel auf das Ordinariat in Kiel (1936 ) fasste Kuhn als Erfüllung eines « Auftrags » 2811 auf ( das Ministerium hatte ihn dorthin versetzt), während seine Freunde und Bekannten in gewohnter akademischer Manier von « Ruf » oder « Berufung » schrieben. Empfohlen hatte ihn Ludwig Ebert mit rein fachlichen Argumenten, aus denen eine Hochachtung vor Kuhns Leistungen sprach, aber auch mit dem vielleicht nur taktisch gemeinten Schlusssatz : « Kuhn lebt seit vielen Jahren in Deutschland. Seine Frau ist Dänin. Beide gehören zu den wenigen Ausländern, die ein wirklich nahes Verhältnis und eine durchaus bejahende Einstellung zu deutscher Kultur und deutschem Leben gewonnen haben.» Von einer Begeisterung für die « Regierung » oder für Hitler ist hier jedoch auch nicht andeutungsweise die Rede. 2812 Von Kiel aus begann Kuhn nach Alternativen zu suchen. Eine Sondierung aus Leipzig 2813 lehnte er ab. 1938 glaubte er, auf drei Stellen Aussicht zu haben. In Bern war Volkmar Kohlschütter 2814 verstorben, der dort die Anorganische Chemie vertreten hatte. 2815 An der ETH Zürich wollte er unterkommen, ohne ein Ordinariat anzustreben. Für die Optimierung seiner Chancen setzte er sich mit dem Sekretär des Auslandschweizerwerks der Neuen Helvetischen Gesellschaft in Verbindung, 2816 der sich beim Berner Erziehungsdirektor und beim Präsidenten des Schweizerischen Schulrats, Arthur Rohn, der die ETH führte, für Kuhn verwendete. Der einflussreiche Zürcher ETH-Physiker Paul Scherrer wurde von Kuhn in seine Schweizer Stellensuche einbezogen ; dieser sprach auch mit Gadient Engi, Direktor der Ciba, um abzuklären, ob es in der Industrie eine Stelle für ihn ge- 2809 Alle Informationen, soweit nicht anders bezeichnet, aus : Nachlass Werner Kuhn NL 298, G 8a. 2810 Nach Maier 2015, schrieb Ebert 1946, nie Parteigenosse gewesen zu sein. Konopik 1959. 2811 Lebenslauf, Kiel 1938, in : Nachlass Werner Kuhn NL 298, G 13. 2812 Gutachten von Ludwig Ebert über Kuhn für die Professur in Kiel, Karlsruhe, 25. 5. 1936, Abschrift, in : UA Kiel (= Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 47 ), 1590, Akten betr. Anträge auf Errichtung neuer Professuren/ Wiederbesetzung von Professuren, März -August 1936, Titel III, Abschnitt A, Nr. 5, Bd. IV, 257. 2813 Karl Friedrich Bonhoeffer an Kuhn, 15. 1. 1937, und ablehnende Antwort Kuhns vom 19. 1. 1937 ; in : Nachlass Werner Kuhn NL 298, A II 80, 2, 4. 2814 Giovanoli 2007. 2815 « Es liegt klar, dass ich für die Übernahme dieses Instituts zuständig wäre.» Kuhn an Dr. W. Imhoof, Auslandschweizerwerk Bern, 20. 9. 1938, in : Nachlass Werner Kuhn NL 298, A III 11, 2. 2816 Kontakte von September bis November 1938, in : Nachlass Werner Kuhn NL 298, A III 11. Chemie und Pharmazie 657 be. 2817 Die Interventionen wurden jedoch meist an untere Stellen weitergeleitet, wo sie auf Ablehnung trafen. Bei der Stellensuche in der Schweiz half Kuhns Bruder in Solothurn mit. Sein Vater, der pensionierte Pfarrer von Zumikon, versuchte insbesondere bei der ETH, seinen Einfluss geltend zu machen und den Sohn als Chemiker zu profilieren, der sich für praktische Anwendungen und Techniken interessiere. 2818 Er erreichte damit immerhin, dass der Schulratspräsident Arthur Rohn Werner Kuhn einmal empfing. 2819 Im Herbst 1932 hatte Hermann F. Mark in Anbetracht der kommenden nationalsozialistischen Herrschaft seine Stelle bei der I.G. Farbenindustrie in Deutschland verlassen und seither als Ordinarius das Erste Chemische Institut der Universität Wien geleitet, das dank seinen Verbindungen zum früheren Arbeitgeber und zu österreichischen Unternehmern stark ausgebaut wurde. Er konnte eine Gruppe junger Chemiker beschäftigen, die als Juden in Wien marginalisiert waren und sich besonders für neue Richtungen in der Wissenschaft interessierten. 2820 Dass dies in der antisemitischen Wiener Atmosphäre 2821 möglich war, verdankte Mark seinem älteren Kollegen am benachbarten Zweiten Chemischen Institut, 2822 Ernst Späth. 2823 Als Österreich 1938 an das ‚Dritte Reich‘ angeschlossen wurde, floh Mark über die Schweiz und Grossbritannien nach Kanada. Dadurch wurde die Wiener Professur frei. Späth fragte Kuhn im Auftrag der neuen Herren in Wien an, ob er Marks Nachfolge antreten möchte. Kuhn sagte zu, lieferte Antworten auf Fragen über seine Person und Parteizugehörigkeit 2824 und wurde mit Zustimmung des Vertreters des NS-Dozentenbunds von den Wiener Stellen zusammen mit dem Deutschen Carl Wilhelm Wagner (Mitglied der SA 2817 Korrespondenz zwischen 26. 7. 1938 und 19. 11. 1938, in : Nachlass Werner Kuhn NL 298, Korrespondenz mit Paul Scherrer, A II 135. Scherrer wusste von Kuhns Kandidatur in Wien und in Bern. 2818 Kuhn an seinen Vater Gottfried Kuhn, 18. 4. 1938, Darstellung seines praxisorientierten Profils zur Verwendung im Kontakt mit der ETH resp. dem Schulrat, in : Nachlass Werner Kuhn NL 298, Korrespondenz mit dem Vater, A II 75, 1. 2819 Einladung zu « der von Ihnen gewünschten Besprechung » auf 15. 7. 1938, Arthur Rohn an Kuhn, 11. 7. 1938, in : Nachlass Werner Kuhn NL 298, A II 133, 1. Die Absage folgte sogleich : Rohn an Kuhn, p. adr. Herrn a.Pfarrer Dr. Gottfried Kuhn, Zumikon, 18. 7. 1938, ebd., A II 133, 2. 2820 Rolle marginalisierter Juden in der Forschungsgruppe Marks : Feichtinger 2017. Ich danke Johannes Feichtinger für seine wertvollen Hinweise. 2821 Antisemitismus an der Wiener Universität : Bauer 2016 ; Taschwer 2016, 240, insbes. Mark und Ernst Späth. 2822 Deichmann 2001, 182 f.; Priesner 1980, 77. 2823 Soukup 2005. 2824 Korrespondenz mit E. Späth, 18. 7. 1938 bis 31. 10. 1938, in : Nachlass Werner Kuhn NL 298, A II 115. Kuhn erklärte, er sei « Mitglied von NS-Volkswohlfahrt und Reichsluftschutzbund. In bin Schweizer Staatsangehöriger und als Beamter gleichzeitig deutscher Staatsangehöriger ». 658 Die Naturwissenschaftler seit 1933 ) primo et pari loco dem Reichsministerium in Berlin vorgeschlagen. Dieses verhandelte lange und erfolglos mit Wagner, aber nicht mit Kuhn. 2825 Erst zwei Jahre später wurde die Wiener Nachfolge geregelt und Ebert aus Karlsruhe gewählt. Während die Entscheide in Bern und in Wien hängig waren, boten zwei Basler Physikprofessoren Kuhn informell die Nachfolge von August L. Bernoulli an ( Gesprächseinladung vom 23. Februar 1939 ). 2826 Die Kandidatur wurde dann dem Präsidenten der Sachverständigenkommission der Kuratel, dem Geriater Adolf Lukas Vischer-von Bonstetten, 2827 vorgelegt. 2828 Dieser sorgte zusammen mit dem Basler Erziehungsdirektor Fritz Hauser dafür, dass Kuhn sehr rasch die Stelle zugesprochen erhielt. Die Nachfolge Bernoullis in Basel war für ihn die geeignete Position, und für Basel war er der geeignete Physikalische Chemiker von internationalem Ansehen und mit einer aktuellen Agenda ( neben Polymeren u. a. die Isotopentrennung, die für die Atomforschung wichtig war). Die Wahl vollzog sich problemlos, nachdem sich Kuhn dem Basler Publikum am 16. März 1939 mit einem Vortrag vor der Chemischen Gesellschaft vorgestellt hatte. « Prof. Kuhn wirkt in seinem Auftreten sehr sympathisch. Trotz seiner langjährigen Landesabwesenheit ist er in seinem ganzen Wesen ein einfacher Schweizer geblieben.» Am 29. März 1939 kam Kuhn zu Verhandlungen mit dem Basler Erziehungsdepartement nach Bern ( vermutlich weil der Basler Erziehungsdirektor Fritz Hauser sich in Bern als Nationalrat aufhielt). Am 25. April 1939 teilte Kuhn mit, dass ihn das Reichsministerium sofort ziehen lasse und dass alle Steuer- und Devisenfragen in Deutschland geregelt seien. Dabei betonte er, wie freundlich ihn die deutschen Stellen behandelt hätten. 2829 Dies und das Fehlen einer Personalak- 2825 Akten Nachfolge Mark, in : Archiv der Universität Wien, PH S 34.39 : Dekanat der Philosophischen Fakultät, 1937/ 38 ff., 995. 2826 Max Wehrli, Physikalische Anstalt der Universität Basel, an Kuhn, 23. 2. 1939, in : Nachlass Werner Kuhn NL 298, A III 56, 1. An der Besprechung solle auch der Ordinarius, Physikprofessor August Hagenbach (Institutsvorsteher seit 1906 ) teilnehmen. Die Basler Chemiker waren zunächst nicht involviert. 2827 Bonjour 1974. 2828 Erster erhaltener Brief von Vischer an Kuhn 23. 2. 1939, in : Nachlass Werner Kuhn NL 298, A III 55, 1. Kuhn werde an erster Stelle für die Nachfolge Bernoulli genannt. Vischer wusste, dass Bern Anstrengungen unternahm, Kuhn als Nachfolger für Kohlschütter zu gewinnen. 2829 Bericht der Sachverständigen an die Kuratel wegen Nachfolge Bernoulli, 17. 3. 1939, in : StABS Erziehung CC 23. Mitglieder der Kommission waren Emil Barell ( Roche ), Gadient Engi ( Ciba ), Fritz Fichter ( abtretender Ordinarius für Anorganische Chemie ), Fritz Hagemann (Advokat, Verleger der « National-Zeitung »), August Hagenbach ( Professor für Physik ), Hartmann Koechlin ( Geigy ), Tadeus Reichstein ( Professor für Pharmazie ), Paul Ruggli ( Professor für Organische Chemie ), Arthur Stoll ( Sandoz ), Adolf Lukas Vischer als Präsident. Diese Kommission trat am 19. 1. 1939 zum ersten Mal zusammen. Erkundi- Chemie und Pharmazie 659