Das Problem Kind 

Caroline Bühler, Mira Ducommun: Das Scheitern der Mütter

Das Problem Kind - Zur Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Schweiz im 20. JahrhundertCaroline Bühler, Mira Ducommun: Das Scheitern der Mütter10.24894/978-3-7965-4619-8 Mirjam Janett, Urs Germann, Urs HafnerDas Scheitern der Mütter Zur Reproduktion von psychiatrisch-psychologischen Konzepten in Fremdplatzierungsprozessen im Kanton Bern, 1960 -1980 Caroline Bühler, Mira Ducommun Abstract In the canton of Bern in the 1960s and 1970s, guardianship authorities and schools often turn to the educational counselling service ( ECS ), the child and adolescent psychiatric service ( CAPS ) or the Neuhaus children observation center when they notice deviant behavior in children and adolescents. In the assessments carried out by these institutions, the mother often becomes the focus of attention. In this contribution, we reconstruct the different lines of argumentation of the ECS, CAPS, and the Neuhaus in child placement processes : they assess the mothers’ parenting, describe how work-related absences affect the children and adolescents under investigation, or describe mothers who do not cooperate as incompetent. From this perspective, being a mother becomes investigable, assessable and mobilizable - and thus a priori discreditable. Social and psychiatric diagnoses confirm each other and ultimately produce the « neglected » child that is to be placed in a home or a foster family. In den 1960er und 1970er Jahren lässt sich im Kanton Bern, wie in anderen Teilen der Schweiz, eine Zunahme von medizinisch-psychiatrischen Begründungen für behördliche Fremdplatzierungsmassnahmen feststellen. In bisherigen Forschungen zur Fremdplatzierung in der Schweiz fällt besonders die Verstrickung der zuständigen Vormundschafts- und Fürsorgebehörden mit 180 III. Bewertung und Klassifizierung von Verhalten und Personen Itinera 50, 2023, 180 - 196 psychiatrischen Expert*innen auf. 1 Dieser Beitrag 2 richtet den Blick auf die spezielle Konstellation, die in Bern durch die enge Verbindung der Erziehungsberatung ( EB ) mit medizinischen und psychiatrischen Einrichtungen wirksam wurde. 3 Wir untersuchen diese psychologische und psychiatrische Praxis anhand der Analyse von Fallakten aus verschiedenen Berner Archiven. Ein besonderer Fokus liegt auf der Bewertung von Familien in der Beratungs- und Begutachtungstätigkeit der EB sowie der Beurteilung der Mutter aus psychiatrischer Sicht. Auf die Tendenz zu geschlechterspezifischen Begründungen in Fremdplatzierungsprozessen weisen historische Forschungen seit Längerem hin. 4 Die idealisierende Überhöhung der Familie mit ihrer Emphase der Mutter-Kind-Beziehung als dem Zentrum des familiären Zu- 1 Mirjam Janett, Die behördliche « Sorge » um das Kind. Psychiatrische Konzepte und fürsorgerische Maßnahmen in Basel-Stadt (1945 - 1972 ), in : Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin, Bd. 17 : Schwerpunkt : Medikalisierte Kindheiten. Die neue Sorge um das Kind vom ausgehenden 19. bis ins späte 20. Jahrhundert, hg. von Elisabeth Dietrich-Daum, Michaela Ralser, Elisabeth Lobenwein, Leipzig 2018, S. 257- 265, hier S. 265 ; Mirjam Janett, Verwaltete Familien. Vormundschaft und Fremdplatzierung in der Deutschschweiz, 1945 - 1980, Zürich 2022, Kapitel 6 ; Urs Philipp Germann, Zur Nacherziehung versorgt. Die administrative Versorgung von Jugendlichen im Kanton Bern 1942 - 1973, in : Berner Zeitschrift für Geschichte 80/ 1 (2018 ), S. 7- 43, hier S. 30 ; Sara Galle, Kindswegnahmen. Das « Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse » der Stiftung Pro Juventute im Kontext der schweizerischen Jugendfürsorge, Zürich 2016. 2 Dieser Aufsatz wurde im Rahmen des Forschungsprojekts Die ‹ gute Familie › im Fokus von Schule, Fürsorge und Sozialpädagogik verfasst ( Nationales Forschungsprogramm Fürsorge und Zwang. Geschichte, Gegenwart, Zukunft, NFP 76 ). 3 Zur Geschichte der Erziehungsberatung im Kanton Bern vgl. Thomas Aebi, Katharina von Steiger (Hg.), Mit weitem Blick. Die Geschichte der Bernischen Erziehungsberatung in Vision und Wirklichkeit, Bern 2016. 4 Vgl. Susanne Businger, Nadja Ramsauer, « Genügend goldene Freiheit gehabt.» Heimplatzierungen von Kindern und Jugendlichen im Kanton Zürich, 1950 - 1990, Zürich 2019, Kapitel 2 und 3 ; Sara Galle, Kindswegnahmen ; Susanne Businger, Nadja Ramsauer, Mirjam Janett, « Gefährdete Mädchen » und « verhaltensauffällige Buben ». Behördliche Fremdplatzierungspraxis in den Kantonen Appenzell Innerrhoden, Basel-Stadt und Zürich, in : Gisela Hauss, Thomas Gabriel, Martin Lengwiler (Hg.), Fremdplatziert. Heimerziehung in der Schweiz, 1940 - 1990, Zürich 2018, S. 77- 100, insbesondere S. 88 - 90. Das Scheitern der Mütter 181 Itinera 50, 2023, 180 - 196 sammenhalts lässt sich in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert feststellen. 5 Im ersten Zivilgesetzbuch der Schweiz wurde das bürgerliche Familienideal, und damit die unterschiedlichen Rollen der beiden Geschlechter, rechtlich untermauert. 6 Die mit diesem Ideal einhergehende Stilisierung der liebevoll nährenden, schützenden und aufopferungsvollen Mutter hatte einschneidende Konsequenzen für die gesellschaftliche Haltung gegenüber Müttererwerbstätigkeit. Sie prägte die schweizerische Sozial- und Familienpolitik bis in die 1970er Jahre. 7 Auch die Psychiatrie baute in der Nachkriegszeit verstärkt auf Mütterlichkeitskonzepte, namentlich aus dem angelsächsischen Raum. 8 Am Beispiel von Fremdplatzierungsprozessen legen wir dar, wie die Problematisierung der Mütterlichkeit im von uns untersuchten Zeitraum via psychiatrisch-psychologische Abklärungen bei der Beurteilung von Familien als « schlechtes » oder « schädliches Milieu » ins Gewicht fiel. 9 5 Heidi Witzig, Elisabeth Joris (Hg.), Frauengeschichte( n). Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz, Zürich 2001. 6 David Gugerli, Das bu ̈ rgerliche Familienbild im sozialen Wandel, in : Thomas Fleiner-Gerster, Pierre Gilliand, Kurt Lu ̈ scher (Hg.), Familien in der Schweiz, Freiburg i.Ü. 1991, S. 59 - 74 ; vgl. Diana Baumgarten, Jenny Burri, Andrea Maihofer, Die Entstehung der Vorstellungen von Familie in der ( deutschsprachigen ) Schweiz. Analysebericht zu Handen der Metropolitankonferenz Zürich, Basel 2017. Online : https : / / genderstudies.phil hist.unibas.ch/ fileadmin/ user_upload/ genderstudies/ Dokumente/ Forschung/ Artikel/ Analyse bericht_Familie_Teilprojekt_A1_Website.pdf, hier S. 37. 7 Elisabeth Joris, 1970er-Jahre, in : Denise Schmid (Hg.), Jeder Frau ihre Stimme. 50 Jahre Schweizer Frauengeschichte 1971- 2021, Zürich 2020, S. 21-80. Vgl. Gaby Sutter, Berufstätige Mütter. Subtiler Wandel der Geschlechterordnung in der Schweiz (1945 - 1970 ), Zürich 2005. 8 Zum Konzept der good enough mother aus den 1950er Jahren ( Donald Winnicott, auch Bowlby und Spitz ) vgl. Gaby Sutter, Berufstätige Mütter, S. 75. Yvonne Schütze, Die gute Mutter. Zur Geschichte des normativen Musters « Mutterliebe », Bielefeld 1991 [1986 ]. 9 Urs Hafner, Kinder beobachten. Das Neuhaus in Bern und die Anfänge der Kinderpsychiatrie, 1937- 1985, Zürich 2022, S. 48 - 50. 182 Caroline Bühler, Mira Ducommun Itinera 50, 2023, 180 - 196 Interaktionen von Erziehungsberatung, Psychiatrie und Fürsorge Die Berner EB galt in der Fachwelt von Beginn an als Erfolgsmodell, dem innovative Strahlkraft zugesprochen wurde. 10 Hier arbeiteten pädagogisch und schulpsychologisch geschulte Erziehungsberater*innen eng mit Kinder- und Jugendpsychiater*innen zusammen. 11 Die Beziehungen zur Medizin und zur Psychiatrie bestanden seit der Einrichtung als « Beratungsstelle für Erziehungsfragen » 1920. Der Gründer und erste Leiter der EB, Walter Hegg, holte Ende der 1940er Jahre den Kinderpsychiater Arnold Weber von der Kinderbeobachtungsstation Neuhaus an seine Seite. 12 Nach dem Leitungswechsel 1958 arbeitete Heggs Nachfolger, Kurt Siegfried, mit Walter Züblin zusammen. Ab 1961 leitete Züblin den an derselben Adresse wie die EB untergebrachten kinder- und jugendpsychiatrischen Dienst. Er hatte zudem die Leitung des Neuhaus inne. 13 In den 1960er Jahren konnte sich die Erziehungsberatung definitiv etablieren. Zusammen mit der Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde sie als eigenes, vom Erziehungsberater und von einem Chefarzt der Psychiatrie gemeinsam geleitetes städtisches Amt direkt der Schuldirektion unterstellt. 1964 wurden die Leistungen der EB zur « Verbesserung der Erziehungsverhältnisse » und der kinder- und jugendpsychiatrische Dienst (KJPD) für die « seelisch kranken Kinder » vom Kanton Bern gesetzlich festgeschrieben, finan- 10 Roland Käser, Die EB in der nationalen und internationalen Perspektive, in : Aebi, von Steiger (Hg.), Mit weitem Blick, S. 11- 24, hier S. 14 - 16. 11 Erziehungsberater*innen waren in der Regel ausgebildete Lehrpersonen mit anschliessendem Psychologiestudium, vgl. Suzanne Hegg, Von den Anfängen bis in die 1970er Jahre. Die Bernische Erziehungsberatung, in : Aebi, von Steiger (Hg.), Mit weitem Blick, S. 25 - 102, hier S. 71 ; Hans Gamper, Die weitere Entwicklung der Erziehungsberatungsstellen, in : ebd., S. 103 - 146, hier S. 138. 12 Ebd., S. 108. Urs Hafner, Von der Seele zum Hirn, in : NZZ Geschichte 32, Februar 2021. 13 Zum Neuhaus unter der Leitung von Walter Züblin siehe : Hafner, Kinder beobachten. Zu Züblins frühen « Zürcher Jahren » siehe den Beitrag von Mirjam Janett in diesem Band. Das Scheitern der Mütter 183 Itinera 50, 2023, 180 - 196 ziert und deren Einfluss in Fremdplatzierungsprozessen dadurch gefestigt. 14 Damit wurden die EB und der KJPD in den 1960er Jahren zu einer massgeblichen Schaltstelle für Entscheidungen und Massnahmen gegenüber Kindern und ihren Familien. Die beiden Dienste waren administrativ und organisatorisch eng miteinander verflochten. Patient*innen und Klient*innen konnten unbürokratisch zum anderen Dienst überwiesen werden. 15 Fürsorge- und Vormundschaftsbehörden konnten Beratungen anordnen und sich für die Platzierungsentscheide auf die erstellten Gutachten stützen. 1975 verfügte der Kanton Bern über insgesamt sieben regionale Erziehungsberatungsstellen. 16 Diese konnten, wie die Vormundschaftsbehörden, bei « schwerwiegenderen » Fällen und Verdacht auf « organisch bedingte Störungen» eine Abklärung in der Beobachtungsstation Neuhaus veranlassen. 17 Dieser zunehmende Einfluss der Psychiatrie in den 1960er und 1970er Jahren ist vor dem Hintergrund der Aufmerksamkeit für das « vulnerable Kind » zu verstehen. 18 Mit den Kindern standen hierbei auch die Mütter unter Beobachtung. 19 Fabrikation und Analyse von Fällen Wie Mütter in Fremdplatzierungsprozessen seitens der EB, dem KJPD oder der Beobachtungsstation Neuhaus bewertet wurden, analysieren wir in diesem Beitrag anhand einer Auswahl von Fremdplatzierungsprozessen aus dem Kanton Bern. Die Auswahl der 23 Fälle erfolgte entlang von verschiedenen theoretisch begründeten Kontrastlinien ( der Region, unterschiedliche Heime, involvierte Akteur*innen, Geschlecht). 20 Da die Personendossiers der 14 Gamper, Die weitere Entwicklung, S. 110. 15 Ebd., S. 138. 16 Die dezentral im Kanton angesiedelten Erziehungsberatungsstellen lagen in Bern, Biel, Thun, Burgdorf, Langenthal, Delémont und Ittigen/ Bolligen. 17 Vgl. dazu auch den Beitrag von Urs Hafner in diesem Band. 18 Meike Sophia Baader, Vulnerable Kinder in der Moderne in erziehungs- und emotionsgeschichtlicher Perspektive, in : Sabine Andresen, Claus Loch, Julia König (Hg.), Vulnerable Kinder. Interdisziplinäre Annäherungen, Wiesbaden 2015, S. 79 - 102, hier S. 90. 19 Janett, Verwaltete Familien, S. 29, 304. 20 Es handelt sich um 23 Fälle zwischen 1965 und 1980, 10 Mädchen, 13 Buben. Die Quellen liegen in den folgenden Archiven : Staatsarchiv Bern ( StABE ), Archiv Universi- 184 Caroline Bühler, Mira Ducommun Itinera 50, 2023, 180 - 196 EB jeweils nach zwanzig Jahren vernichtet wurden, mussten wir in anderen Archivbeständen nach den Einschätzungen und Gutachten suchen. 21 Die uns vorliegenden Fallakten sind in Personendossiers der Fürsorge oder von Heimen enthalten, in denen die Kinder platziert wurden. Die Fallakten wurden von verschiedenen am Prozess der Abklärung von Kindern und Familien beteiligten Akteur*innen angefertigt, zusammengestellt und weitergereicht. Am Ende dieses Prozesses erscheinen die in den Akten dokumentierten Fälle als « Ketten von Repräsentationen », 22 das heisst als Aneinanderreihung von schriftlich festgehaltenen Bedeutungen und Zuschreibungen. Durch das Interagieren verschiedener Institutionen erscheint der Fall « als relativ geschlossenes, kontextbezogenes Narrativ ». 23 Wir können aus den Akten einen verstetigten bürokratischen Ablauf rekonstruieren, im Zuge dessen verschiedene Akteur*innen den Fall einschätzen und sich getätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Waldau, Bern (AN- HB ), Stadtarchive Bern, Biel und Thun. 21 Berichte der EB sind in Heimakten enthalten, bspw. in der Rubrik « Versorgungsgründe » in den Anmeldebögen, sowie in Dokumentationen der Fürsorge. 22 Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 2000 ; vgl. Timo Ackermann, Entscheiden über Fremdunterbringungen. Praktiken der Fallerzeugung, in : Birgit Bütow, Marion Pomey, Myriam Rutschmann u. a. (Hg.), Sozialpädagogik zwischen Staat und Familie, Wiesbaden 2014, S. 153 - 173, hier S. 168. 23 Carlo Ginzburg, Ein Plädoyer für den Kasus, in : Johannes Süssmann, Susanne Scholz, Gisela Engel (Hg.), Fallstudien. Theorie - Geschichte - Methode, Berlin 2007, S. 29 - 48, hier S. 33 ; vgl. Sybille Brändli, Barbara Lüthi, Gregor Spuhler, « Fälle » in der Geschichte von Medizin, Psychiatrie und Psychologie im 19. und 20. Jahrhundert, in : dies. (Hg.), Zum Fall machen, zum Fall werden. Wissensproduktion und Patientenerfahrung in Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M., 2009, S. 7- 29, hier S. 20. Das Scheitern der Mütter 185 Itinera 50, 2023, 180 - 196 genseitig als Referenz dienen. 24 Der « Fall » ist ein « Fabrikationsprozess »: 25 Durch die Sammlung in einem Dossier wird er nicht nur abgebildet, sondern das Weiterreichen der Unterlagen, das gegenseitige Bezugnehmen der institutionellen Akteur*innen und die Reproduktion und Verdichtungen der Klassifizierungen bringen ihn erst hervor. Bei der Analyse des Materials orientierten wir uns an der Grounded Theory, einem Verfahren der qualitativen Sozialforschung. 26 Hier wird bereits zu Beginn der Datenerhebung mit der Codierung - im Sinne der Benennung zentraler theoretischer Konzepte - begonnen und danach wird fortlaufend auf eine Verfeinerung, Verdichtung und Spezifizierung dieser Konzepte hingearbeitet. Dieses iterative, reflexive Vorgehen sowie die Kontrastierung der Fallakten brachten verschiedene Varianten von Beschreibungen und Beurteilungen der Kinder und ihrer Eltern im Abklärungskontext hervor. Diskreditierbare Mütter in psychiatrisch-beratenden Abklärungen Im Folgenden gehen wir auf die Argumentations- und Begründungslinien verschiedener Erziehungsberater*innen und Psychiater*innen ein und dokumentieren, wie diese im Rahmen von Fremdplatzierungsprozessen abweichendes Verhalten von Kindern mit Bezug auf die Mutter erklärten und einordneten. Wir zeigen auf, wie sich in den Abklärungen psychologische und 24 Thomas Scheffer, Zug-um-Zug und Schritt-für-Schritt. Annäherungen an eine transsequenzielle Analytik, in : Herbert Kalthoff, Stefan Hirschauer, Gesa Lindemann, Theoretische Empirie. Die Relevanz qualitativer Forschung, Frankfurt a. M. 2008, S. 368 - 398 ; vgl. Ackermann, Entscheiden über Fremdunterbringungen, S. 169. 25 Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1984 ; vgl. Ackermann, Entscheiden über Fremdunterbringungen, S. 171. 26 Anselm Strauss, Juliet Corbin, Grounded Theory. Grundlagen Qualitativer Sozialforschung, Weinheim 1996. Bei der induktiven Kategorienbildung orientieren wir uns an zwei Prinzipien : a ) konstantes Kontrastieren, b ) Stellen von Fragen an die Daten. Die Software MaxQDA unterstützt das Ordnen der Fälle und der Codes, vgl. Udo Kuckartz, Einführung in die computerunterstützte Analyse qualitativer Daten, Wiesbaden 2005. 186 Caroline Bühler, Mira Ducommun Itinera 50, 2023, 180 - 196 psychiatrische Diagnosen mit moralisierenden Bewertungen verschränkten, was letztlich zum Scheitern der Mütter an gesellschaftlichen Konditionen führte. Die «erziehungsunfähige » Mutter Aus bereits bestehenden Forschungen zu Fremdplatzierungsentscheiden sticht die besondere Aufmerksamkeit für die Erziehungstätigkeit der Eltern heraus. 27 Auch in den Abklärungen und Gutachten der EB, des KJPD und des Neuhaus in den 1960er und 1970er Jahren stellen wir einen Fokus auf die Erziehungstätigkeit der Eltern fest. Die Beurteilungen heben insbesondere die erzieherische Inkompetenz der Mutter hervor, wenn als abweichend klassifiziertes Verhalten der Kinder erklärt werden soll. 1969 wird beispielsweise seitens der EB der Stadt Bern der neunjährige Felix 28 von der zuständigen Erziehungsberaterin beurteilt, nachdem er von einer Lehrerin angemeldet wurde. Er habe ständig den Unterricht gestört und « zanke ». 29 In ihrem Schreiben an die Gemeindefürsorgerin geht die Erziehungsberaterin auf verschiedene von ihr festgestellte Problematiken ein. 30 Sie stützt sich dabei auf Gespräche mit den Eltern und mit Felix. Bei Letzterem falle ihr besonders sein « geduckter Gang » auf. Er versuche alle Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und habe eine « kleinkindliche Sprechweise ». Diese Beobachtungen bringt sie mit der Situation zuhause in Verbindung : Dort werde wenig für ihn gesorgt, Felix habe erzählt, dass niemand mit ihm spiele. Er sei immer ungewaschen erschienen. Ausserdem bestünden erhebliche Probleme in der Ehe und Felix sei « verwahrlost ». Die Erziehungsberaterin kommt zur folgenden Einschätzung der Mutter: « Wahrscheinlich ist sie nicht sehr mütterlich und keine gute Erzieherin, aber auch total überfordert und hat gar keine Kraft mehr, daheim zum Rechten zu sehen.» Schliesslich stellt sie fest : « In diesem Milieu kann sich Felix natürlich nicht 27 Janett, Verwaltete Familien, Kapitel 4. 28 Bei den Namen handelt es sich um zufällig zugewiesene Pseudonyme. 29 StABE, BB 13.2.195, Knaben-Dossier Schulheim Aarwangen, « Felix », Schreiben EB Bern 1969. 30 Ebd. Das Scheitern der Mütter 187 Itinera 50, 2023, 180 - 196 mehr gesund entwickeln » und rät der Gemeindefürsorgerin zu einer Fremdplatzierung. Als Felix in der Folge von der zuständigen Vormundschaftskommission in ein Erziehungsheim eingewiesen wird, wird dieser Bericht im Schreiben der Vormundschaft zitiert und abermals im Sinne eines « Versorgungsgrundes » betont, dass die Mutter der Erziehung des Kindes nicht gewachsen sei. 31 In den Gutachten der EB lassen sich Argumentationslinien rekonstruieren, anhand derer Mütter als zu wenig kompetent beurteilt werden, ihr teils als « schwierig » oder gar als « gestört » kategorisiertes Kind zu erziehen. In einem Fremdplatzierungsprozess wird der fünfjährige Robin 1963 von der EB der Stadt Bern « wegen schweren Verhaltensstörungen ( Bettnässen, Schmieren, Schwererziehbarkeit)» für einen Beobachtungsaufenthalt in der Kinderbeobachtungsstation Neuhaus angemeldet. 32 Im Unterschied zur Abklärung von Felix seitens der EB umfasst die Untersuchung im Neuhaus nebst einer Familienanamnese auch verschiedene Beobachtungen sowie psychologische und neurologische Tests ( etwa ein Elektroencephalogramm EEG sowie IQ-Tests ). Basierend darauf wird im Rahmen einer gemeinsamen Sitzung der involvierten Fachpersonen die Diagnose « psychische Retardation bei Verwahrlosung » und « Organischer Hirnschaden ( EEG )» gestellt. 33 Robin wird daraufhin in ein Kinderheim in der Region Interlaken eingewiesen. In seinem Schreiben an die Heimleitung argumentiert Walter Züblin : « Da die Eltern der Erziehung eines derart gestörten Kindes einfach nicht gewachsen sind, erschien uns die heilpädagogisch ausgerichtete Nacherziehung in einem Kleinheim für einige Jahre ( mindestens bis zur Einschulung ) die einzige mögliche Massnahme.» 34 Die beiden Beispiele illustrieren zwei zentrale, miteinander in Verbindung stehende Argumentationslogiken, wenn es um die Beurteilung der Erziehungskompetenz von Müttern geht : Einerseits wird, ausgehend vom ab- 31 StABE, BB 13.2.195, Knaben-Dossier Schulheim Aarwangen, « Felix », Anmeldung ins Heim 1969. 32 ANHB, Krankenakte « Robin ». 33 Ebd., Résumé der Gemeinsamen 1963. Im Rahmen der als « Gemeinsame » betitelten Sitzung diskutierte das Personal des Neuhauses gemeinsam mit Walter Züblin die zur Beobachtung und Abklärung eingewiesenen Kinder. 34 ANHB, Krankenakte « Robin », Schreiben Walter Züblin 1963. 188 Caroline Bühler, Mira Ducommun Itinera 50, 2023, 180 - 196 weichenden Verhalten des Kindes, die Erziehungskompetenz der Mutter infrage gestellt. Bereitet Felix Probleme in der Schule und erscheint ungewaschen in der EB, so wird dies mit Bezug auf die Mutter erklärt. Andererseits wird die Erziehungskompetenz der Mutter als unzureichend für das abweichende, sprich « schwierige » Kind erachtet, was bei Robin anhand verschiedener neurologischer und psychologischer Tests untermauert wird. Die «arbeitende» Mutter Dass die Beurteilung der Mutter mit psychiatrischen Diagnosen belegt wird, stellen wir auch mit Blick auf die Problematisierung der mütterlichen Erwerbstätigkeit fest. Bestehende Studien zeigen, dass in Fremdplatzierungsentscheiden die Erwerbstätigkeit von Müttern oftmals als Begründung mobilisiert wurde. 35 Unsere Erkenntnisse knüpfen an diese Forschungen an. Bemerkenswert ist jedoch zum einen, dass sich diese Problematisierung bis in die 1970er Jahre fortsetzt. Zum anderen wird die Erwerbstätigkeit in einigen Fällen mit Beurteilungen gegenüber der ausländischen Bevölkerung verbunden, die in dieser Zeit zunehmend auch von fürsorgerischen Massnahmen betroffen ist. 36 Exemplarisch hierfür ist der Fremdplatzierungsprozess von Carlo, dessen Mutter aufgrund ihres Aufenthaltsstatus als italienische Gastarbeiterin 37 einer ganztägigen Erwerbstätigkeit nachging. 1970 wird Carlo aufgrund eines Deliktes - er habe « Velotöffli» entwendet - und mit Bezug auf das Strafgesetzbuch in ein Erziehungsheim im Oberaargau platziert. 38 Nachdem eine « Einordnung » im Erziehungsheim nicht gelingt, wird er noch 35 Vgl. Janett, Verwaltete Familien, Kapitel 5. 36 Erste Ergebnisse aus unserem Forschungsprojekt legen nahe, dass fürsorgerische Massnahmen gegenüber Nicht-Schweizer Familien in den 1970er Jahren zunahmen. So belief sich beispielsweise der Anteil an Einweisungen von Kindern mit ausländischer Staatsbürgerschaft in das Mädchenheim « Schlössli » Kehrsatz in den 1970er Jahren teilweise auf bis zu 30 Prozent (vgl. StABE, BB 02.10.42, Zöglingskontrolle, eigene Berechnung ). 37 Zum Gastarbeits-Regime vgl. Concetto Vecchio, Jagt sie weg ! Die Schwarzenbachinitiative und die italienischen Migranten, Zürich 2020. 38 ANHB, Krankenakte « Carlo ». Das Scheitern der Mütter 189 Itinera 50, 2023, 180 - 196 im selben Jahr durch den zuständigen Jugendanwalt für eine « eingehende psychiatrische Begutachtung » in die Beobachtungsstation Neuhaus eingewiesen. 39 Sie soll Schlüsse zum « psychischen Allgemeinzustand » zulassen und klären, ob der Junge « anlagemässige oder entwicklungsmässige Abnormitäten » aufweise. Im Neuhaus wird Carlo beobachtet, Einschätzungen weiterer Akteur*innen werden beigezogen ( gemäss dem Lehrer sei er ein « unbeherrschter, zerfahrener und schwadliger Hochangeber »), und verschiedene Tests durchgeführt. In seinem Schreiben an den Jugendanwalt führt Walter Züblin das Verhalten von Carlo auf die Arbeitstätigkeit seiner Mutter zurück : « Der äussere Lebenslauf ist dadurch gekennzeichnet, dass der Patient infolge der behördlich vorgeschriebenen Arbeitspflicht der Mutter anfangs in einer Pflegefamilie aufwuchs und mit Beginn der Schulpflicht in die Missione Cattolica in Thun gegeben wurde.» 40 Aufgrund der Beobachtung in der Klinik wird weiter argumentiert, der Junge zeige « eine ausgesprochen infantile, nur sehr wenig strukturierte Persönlichkeit ». Trotz einer Elektroenzephalografie, die er als normal einstuft, schliesst Züblin « das Mitwirken organischer Faktoren an der Entstehung des heutigen Zustandes […] nicht mit Sicherheit » aus. Vor dem Hintergrund dieser Untersuchungen diagnostiziert der Psychiater eine « schwere Verwahrlosung ». 41 Damit wird die attestierte Verhaltensstörung mit Bezug auf die erwerbsbedingte Abwesenheit der Mutter begründet. Berücksichtigt werden jedoch weniger die strukturellen Hintergründe dieser Lebenslage, vielmehr überwiegt die psychologisierende - und damit auch individualisierende - Diagnose der « Verwahrlosung », welche durch die durchgeführten Tests unterstützt wird. Arbeitstätigkeit wird nicht nur wegen der Abwesenheit der Mütter kritisiert, in einigen Fällen wird auch die Tätigkeit als solche disqualifiziert. Besonders deutlich wird dies, wenn Mütter als Sexarbeiterinnen oder in einem « Nachtlokal» tätig waren. Im Jahr 1980 wird die Erziehungsberatung Langenthal von der Vormundschaft einer Gemeinde im Oberaargau um einen 39 Ebd., Jugendanwalt 1970. 40 Ebd., Schreiben Züblin 1970. 41 Ebd. 190 Caroline Bühler, Mira Ducommun Itinera 50, 2023, 180 - 196 Bericht über die damals 15-jährige Anita gebeten. 42 Die Vormundschaft befasse sich mit dem Fall, nachdem es zwischen der Mutter und Anita zu schweren Auseinandersetzungen gekommen sei. In einem Schreiben zuhanden der Vormundschaftskommission führt der zuständige Erziehungsberater zunächst aus, er kenne Anita bereits, nachdem sich die Mutter « in höchsten Nöten » bei der Erziehungsberatung gemeldet und diese um Unterstützung bei der Erziehung ihrer Tochter gebeten habe. 43 Seine Ausführungen stützen sich auf Beobachtungen, Gespräche und eine in den Akten überlieferte Vorgeschichte. Nachdem Anita knapp neun Jahre bei ihrer Grossmutter in Österreich gelebt habe, sei sie mit elf Jahren zu ihrer Mutter « in ein desolates Milieu » gekommen. An die Vormundschaftskommission schreibt er : « Sie kennen ja die Geschichte. Die Mutter, mit ihrer Vergangenheit als Nachtklubtänzerin, mit ihrer eigenen Instabilität und auch der Stiefvater mit seinem ganzen Verhalten konnten für das Mädchen weder Halt noch Geborgenheit sein ». 44 Hier dient die frühere Tätigkeit der Mutter als « Nachtklubtänzerin » als offenkundiges Indiz des « desolaten Milieus ». 45 Mit dem Verweis auf die bereits bekannte Information kann der Erziehungsberater seine Einschätzung bestätigen. Die EB scheint gegenüber den zu beurteilenden Familien in Fremdplatzierungsprozessen eine moralische Deutungshoheit beanspruchen zu können. Die «alleinstehende » Mutter Ähnliche Argumentationslinien lassen sich auch erkennen, wenn die Eltern getrennt lebten oder gar nicht erst verheiratet waren. In gut der Hälfte der untersuchten Fälle wird in den Beschreibungen der Mütter darauf verwiesen, dass es Spannungen in der Ehe gab, dass die Mutter getrennt vom Vater lebe oder von Beginn an alleinerziehend war. Der eingangs besprochene Fremd- 42 StABE, Verein 17.110 Austritte (1980 ), Zöglinge / Schüler Viktoria-Stiftung Richigen, « Anita ». 43 Ebd., Schreiben EB Langenthal 1980. 44 Ebd. 45 Zur gesellschaftlichen Sicht auf Sexarbeit in der Schweiz vgl. Milena Chimienti, Prostitution - une histoire sans fin ? , in : Sociétés 99/ 1 (2008 ), S. 11- 20. Das Scheitern der Mütter 191 Itinera 50, 2023, 180 - 196 platzierungsprozess von Felix aus dem Jahr 1969 ist auch in dieser Hinsicht als exemplarisch zu werten. Im erwähnten Bericht der Erziehungsberaterin wird ausführlich auf die ehelichen Probleme eingegangen. 46 Dabei fällt auch auf, dass den Ausführungen des Vaters gegenüber denen der Mutter deutlich mehr Platz eingeräumt wird, selbst wenn sich die Erziehungsberaterin später von beiden distanziert: « Der Vater schalt bei der ersten Besprechung in unangenehmer Weise während mehr als einer Stunde über seine Frau. […] Sie arbeite nur in ihrem Coiffeursalon, pflege die Wohnung nicht, gebe dem Kind fast nie das Morgenessen, weitere Mahlzeiten wohl auch nicht.» 47 Noch Ende der 1970er Jahre treffen wir auf ähnliche Argumentationsweisen. 1979 wird die 15-jährige Erika in ein Heim eingewiesen. 48 Sie brauche « Nacherziehung, vor allem im sozialen Bereich und in ihrer persönlichen Entwicklung » und habe Schulschwierigkeiten. Insbesondere habe ihre Mutter « zu wenig Zeit für [ Erika ]», weil sie voll arbeiten müsse, « um sich durchzuschlagen ». 49 Der Anmeldung wird ein Gutachten beigelegt, das von dem langjährigen Leiter der EB Bern, Kurt Siegfried, verfasst wurde. 50 In diesem an die Heimleitung adressierten Schreiben geht Siegfried auf die familiären Hintergründe Erikas ein. Er führt aus, wie der leibliche Vater Erikas noch während der Schwangerschaft die Schweiz verliess, wie sich die Mutter daraufhin mit einem anderen Mann verheiratete, worauf diese Ehe nach kurzer Zeit geschieden wurde. Er bezieht sich weiter darauf, dass die Mutter einer Erwerbstätigkeit nachgehe, mit der sie glücklich sei. Dennoch folgert er : « Das Mädchen hat eigentlich eine, wie mir scheint, durchaus gesunde seelische Grundlage, ist aber durch die unglückliche Entwicklung der Lage zu Hause zunehmend verwahrlost.» 51 46 StABE, BB 13.2.195, Knaben-Dossier Aarwangen, « Felix », Schreiben EB Bern, 1969. 47 Ebd. 48 StABE, Verein 17.110 Austritte (1980 ), Zöglinge / Schüler Viktoria-Stiftung Richigen, « Erika ». 49 Ebd., Anmeldung ins Heim 1979. 50 Ebd., Schreiben EB Bern 1979. 51 Ebd. 192 Caroline Bühler, Mira Ducommun Itinera 50, 2023, 180 - 196 Diskreditierende Konnotationen Schliesslich treffen wir in den untersuchten Fremdplatzierungsprozessen nicht nur Beurteilungen an, die bestimmte Lebenslagen oder strukturelle Bedingungen mit psychologischen oder psychiatrischen Konzepten und Diagnosen verbinden. Teilweise wird ohne Untersuchung der Mütter und ohne weitere Erklärung auf psychologisch-diagnostisches Vokabular zurückgegriffen. Besonders wenn auf die psychische Verfassung von Müttern verwiesen wird - dies ist in fünf der untersuchten Fremdplatzierungsprozesse der Fall - scheint eine Kategorisierung als « depressiv » lediglich der Diskreditierung ihrer Kompetenz zu dienen. 52 In ähnlicher Weise zeigt sich die Diskreditierung im bereits diskutierten Fremdplatzierungsprozess von Robin. Im Rahmen der Familienanamnese im Neuhaus wird Robins Mutter wie folgt beschrieben : « Kindsmutter 36j., aus Süddeutschland, debil, schwatzhaft und dumm, leicht erregbar und in der Wut blind dreinschlagend.» 53 Woran die abwertende Zuschreibung als « dumm » und « leicht erregbar» festgemacht wird, lässt sich auch hier anhand der Akten nicht nachvollziehen. 54 Durch den Hinweis auf die Herkunft aus Süddeutschland wird diese negative Konnotation zusätzlich verstärkt - sie scheint hier einen weiteren Anlass für die Diskreditierung der Mutter zu bieten. Auf abwertende Beurteilungen stossen wir überdies besonders dann, wenn in den untersuchten Dokumenten auf die Begegnungen zwischen den Eltern und verschiedenen Institutionen und Behörden eingegangen wird. In den Fremdplatzierungsprozess eines 14-jährigen Mädchens, Claudia, sind mehrere Instanzen involviert : sowohl die EB Langenthal als auch das Neuhaus. 55 Einem Schreiben aus dem Neuhaus können wir entnehmen, dass sich die Mutter zuvor um die elterliche Gewalt bemühte. Dies habe zu « sich über 52 Zum Beispiel : StABE, Verein 17.110 Austritte (1980 ), Zöglinge / Schüler Viktoria- Stiftung Richigen, « Manuela ». 53 ANHB, Krankenakte « Robin », Résumé der Gemeinsamen, 1963. 54 Vgl. dazu auch Galle, Kindswegnahmen, S. 477. 55 StABE, Verein 17.110 Austritte (1980 ), Zöglinge / Schüler Viktoria-Stiftung Richigen, « Claudia ». Das Scheitern der Mütter 193 Itinera 50, 2023, 180 - 196 den ganzen Sommer hinziehenden Gerichtsverhandlungen » geführt. 56 In diesem Zusammenhang wird die Mutter als « querulatorisch » bezeichnet. Hervorgehoben wird auch, dass sie sich lange geweigert habe, einen Pflegevertrag zu unterschreiben. Was im Sinne eines Sich-Einsetzens für die Tochter gesehen werden könnte, wird hier als problematisch und unkooperativ bewertet. Vereinzelt äussern sich Vertreter*innen der EB oder der Psychiatrie positiv über die Eltern, insbesondere dann, wenn diese mit der Institution kooperieren. 1981 beurteilt der Langenthaler Erziehungsberater eine Familie in einem Bericht an das Jugendgericht Seeland wie folgt : Er habe mit den Eltern das « Gespräch gut finden » können und beurteile sie grundsätzlich als « gutwillige Eltern ». 57 Er kommt deshalb zum Schluss, dass es sich in diesem Fall nicht unbedingt um « Vernachlässigung », sondern vielmehr um «Überforderung » handle. Seinem Wohlwollen zum Trotz, empfiehlt der Erziehungsberater die strafrechtliche Verfügung der Platzierung in einem Heim, die daraufhin seitens des Gerichts vollzogen wird. Legitimationsfunktion psychologisierender Diagnosen zu Müttern Im Kanton Bern der 1960er und 1970er Jahre wenden sich Vormundschaftsbehörden, Schulen oder andere Akteur*innen oftmals an die EB, den KJPD oder ans Neuhaus, wenn sie eine Abweichung im Verhalten von Kindern und Jugendlichen feststellen. Im Laufe der Abklärungen durch diese Dienste rückt oft die Mutter ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In diesem Beitrag haben wir seitens der EB, des KJPD und der Beobachtungsstation Neuhaus mehrere Argumentationslinien zur Rolle der Mütter rekonstruieren können : Sie beziehen sich auf die Erziehungstätigkeit der Mütter, beschreiben, wie sich arbeitsbedingtes Fernbleiben auf die untersuchten Kinder und Jugendlichen auswirkt, gehen auf eheliche Spannungen ein oder beschreiben Mütter, die nicht kooperieren, als inkompetent, obwohl sie 56 Ebd., Schreiben Neuhaus 1978. 57 StABE, BB 13.2.203, Knaben-Dossier Schulheim Aarwangen, « Robert », Schreiben EB Langenthal 1981. 194 Caroline Bühler, Mira Ducommun Itinera 50, 2023, 180 - 196 sich für ihre Kinder einsetzen. Das Mutter-Sein ist aus Perspektive der psychologischen und psychiatrischen Dienste, aber auch aus Sicht der Behörden untersuchbar, bewertbar und mobilisierbar - und damit a priori diskreditierbar. Werden die Untersuchungen mit psychologischen und neurologischen Tests ergänzt, so wie dies im KJPD oder im Neuhaus der Fall war, scheinen die Diagnosen zusätzlich ( natur‐)wissenschaftlich bescheinigt. Die daraus hervorgehende Deutungsmacht dieser Institutionen ist in den untersuchten Fremdplatzierungen augenfällig. So riskieren Mütter als Versagerinnen oder gar als Schuldige aus den Beurteilungen hervorzugehen. Die vorliegende Untersuchung kann diese Diskreditierungen bis in die späten 1970er Jahre nachverfolgen. Diese auffällige Persistenz in der beratenden und untersuchenden Praxis kann, zumindest für die Stadt Bern, teilweise auf die personelle Konstanz und ein prägendes Leitungsteam von EB und KJPD zurückgeführt werden. 58 Ungeachtet des spezifischen Berner Kontexts fällt auf, wie einhellig Mütter durch Psychiatrie, Psychologie, Pädagogik, Beratung und Fürsorge bewertet wurden - also vonseiten aller in der Herausbildung der modernen Kinderpsychiatrie involvierten Akteur*innengruppen. Nicht alle beteiligen Disziplinen fokussierten Mütter in gleichem Ausmass. Tendenziell begünstigt wurde die Diskreditierung durch den subjektivierenden Zugang der Psychologie. Damit wird die strukturelle Bedingtheit von Lebenssituationen ( etwa die Arbeitspflicht für « Fremdarbeiter*innen » oder die fehlende Unterstützung für alleinerziehende Mütter) ausgeklammert. Unsere Forschung legt ausserdem eine Verschränkung der psychiatrischen und psychologischen Konzepte mit gesellschaftlichen Diagnosen nahe. Die gesellschaftliche Norm für Mutterschaft wird nicht nur wirksam, sondern anhand der Entscheide und Einschätzungen reproduziert. Damit wird ebenfalls deutlich, dass psychologische und psychiatrische Diagnosen nicht unabhängig vom gesellschaftlichen Kontext interpretiert werden können. 59 58 Kurt Siegfried leitete die EB von 1959 bis 1986 ; Walter Züblin leitete den KPJD und das Neuhaus von 1961 bis 1986. Beide dozierten an der Universität Bern und veröffentlichten Grundlagenwerke. Siehe Gamper, Die weitere Entwicklung, S. 137- 144. 59 Vgl. Hans-Georg Hofer, Lutz Sauerteig, Perspektiven einer Kulturgeschichte der Medizin, in : Medizinhistorisches Journal 42 (2007 ), S. 105 - 141, vgl. Brändli, Lüthi, Spuhler, « Fälle », S. 11. Das Scheitern der Mütter 195 Itinera 50, 2023, 180 - 196 Sowohl die beraterisch-psychologische Praxis der Erziehungsberatung als auch die psychiatrische Praxis des KJPD und des Neuhauses lassen sich als Tätigkeiten verstehen, die abweichendes Verhalten festschreiben, klassifizieren und kategorisieren. Mit dem folgenschweren Prädikat « verwahrlost » 60 werden Familienverhältnisse in Verbindung mit der Etikettierung des Kindes als « ungünstig » qualifiziert. Durch die Einschätzungen und Dokumentationen bringen sie das « verwahrloste » - und letztlich das zu platzierende - Kind erst hervor. Die Fallbeispiele zeigen, wie sich in den Abklärungen und den zuhanden der Fürsorgebehörden und des Heimes verfassten Dokumente gesellschaftliche Diagnosen mit psychiatrischen Diagnosen vermischen und gegenseitig beeinflussen, bestätigen und eine Argumentationskette bilden, wodurch letztlich die Fremdplatzierung legitimiert wird. 60 Zum Verwahrlosungsbegriff siehe Janett, Verwaltete Familien, Kapitel 5 ; vgl. auch Martin Lengwiler, Gisela Hauss, Thomas Gabriel u. a., Bestandesaufnahme der bestehenden Forschungsprojekte in Sachen Verding- und Heimkinder. Bericht zuhanden des Bundesamts für Justiz EJPD, Bern 2013, S. 25 - 26, insbes. S. 45 f. 196 Caroline Bühler, Mira Ducommun Itinera 50, 2023, 180 - 196