Diffuse Verantwortlichkeiten 

Einleitung

Diffuse Verantwortlichkeiten - Strukturen, Akteur:innen und BewährungsprobenEinleitung10.24894/978-3-7965-4881-9 Vincent Barras, Alexandra Jungo, Fritz Sager9 *Einleitung Vincent Barras 1 , Alexandra Jungo 2 , Fritz Sager 3 1 Université de Lausanne et CHUV, Institut des humanités en médecine; 2 Universität Freiburg (CH), Departement Privatrecht; 3 Universität Bern, Kompetenzzentrum für Public Management Der Band Diffuse Verantwortlichkeiten. Strukturen, Akteur: innen und Bewährungsproben präsentiert in Anlehnung an die beiden anderen Synthesebände, die gleichzeitig im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Fürsorge und Zwang» (NFP 76) veröffentlicht wurden, die wichtigsten Ergebnisse eines Teils der Forschungsteams. Die Beiträge konzentrieren sich auf die Frage der Verantwortlichkeit, wie sie in die allgemeine Problematik von Fürsorge und Zwang in der Schweiz eingebunden ist. Erörtert wird diese Frage anhand der Analyse struktureller Elemente des Fürsorgesystems, seiner Akteurinnen und Akteure, der wirtschaftlichen Bedingungen sowie der politischen Entscheidungsprozesse. Diese Thematik steht im Zentrum des Forschungsprogramms, mit dem der Bundesrat den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) beauftragt hat. Das daraus hervorgegangene NFP 76 zielt darauf ab, das System der Fürsorge und des Zwangs zu verstehen, wie es sich in der näheren und ferneren Vergangenheit entwickelt hat, seine Auswirkungen in der Gegenwart zu hinterfragen und Perspektiven zu entwerfen, die eine solche Analyse für die Zukunft der Fürsorge in der Schweiz eröffnet. Dieser Band soll daher vor allem einen ganz bestimmten Aspekt beleuchten, wie ihn die Forschungsteams herausgearbeitet haben, nämlich die Frage der Verantwortlichkeit der verschiedenen Instanzen, Akteure, Akteurinnen und Institutionen, welche in das System von Fürsorge und Zwang involviert sind, das in den letzten Jahrzehnten in der Schweiz aufgebaut wurde. Entsprechend dem allgemeinen Geist des Programms geschieht das aus einer multidisziplinären Perspektive heraus. Die Pluridisziplinarität der fachlichen Ansätze bedeutet für die Forscher: innen, Blickwechsel vorzunehmen und grundsätzlich zu akzeptieren, dass die behandelten Sachverhalte nicht monothematisch sind. Die Gesamtperspektive * Dieser Artikel wurde aus dem Französischen übersetzt. 10 Vincent Barras, Alexandra Jungo, Fritz Sager stützt sich fest auf ein historisches Fundament, was dem Auftrag des Bundesrates zur Umsetzung des Programms entspricht. Wir gehen davon aus, dass ein genaues Verständnis der Vergangenheit unerlässlich ist, um die gegenwärtige Situation in Bezug auf Fürsorge und Zwang in ihren Spannungen und Widersprüchen angemessen zu analysieren, was es wiederum erlaubt, Denkanstösse zu geben und Handlungsmöglichkeiten für die Zukunft aufzuzeigen. In dieser Hinsicht wird die historische Perspektive in den meisten Beiträgen dieses Bandes wirkungsvoll entfaltet. Allerdings kann man für die umfassende Behandlung der Themen weder auf Input aus den Sozial- und Politikwissenschaften verzichten noch auf die juristische, pädagogische und psychologische Perspektive. Die Zusammensetzung der Forschungsteams, welche an den verschiedenen Universitäten und Fachhochschulen der Schweiz angesiedelt sind und die hier vorgestellten Beiträge verfasst haben, spiegelt übrigens diese Multidisziplinarität wider. Ihrer Zusammensetzung und ihren Kompetenzen nach sind diese Teams sehr unterschiedlich, ebenso wie die behandelten Themen und die Analysemethoden vielfältig sind-- besondere Einrichtungen, lokale oder nationale Perspektive, mikrohistorischer Ansatz oder Zusammenschau. So werden durch die einzelnen Beiträge verschiedene Zeiträume, unterschiedliche geografische Terrains und diverse Themenbereiche abgedeckt: Der Überblick über die Entwicklung der forensischen Rolle psychiatrischer Gutachten in den Kantonen Genf und Waadt über anderthalb Jahrhunderte hinweg steht neben der detaillierten Analyse eines Jahrzehnts einer professionellen Institution auf Bundesebene, der Untersuchung der Adoptionsbedingungen während zwanzig Jahren im Kanton Zug oder der Geschichte einer spezialisierten geschlossenen Einrichtung im Kanton Zürich, die ein halbes Jahrhundert abdeckt. Wie bereits erwähnt, legt der Band in seiner Gesamtheit Zeugnis für die Vielfalt des NFP 76 ab. Durch das Spiel mit der Diversität und der Komplementarität der Blickwinkel und Massstäbe soll ein vielfältiges und multifokales Bild der Situationen gezeichnet werden, welches die Frage nach der Verantwortlichkeit von Strukturen sowie der beteiligten Akteure und Akteurinnen beleuchtet. Diese Mannigfaltigkeit trägt darüber hinaus einer schweizerischen Besonderheit Rechnung, die sich auch in den Ergebnissen widerspiegelt, die in den Beiträgen sämtlich mehr oder weniger stark herausgearbeitet werden: Diversität, Komplexität sowie die Verflechtung verschiedener Modalitäten der Verwaltung von Zwang und Fürsorge von einer Stadt zur anderen, von einem Kanton zum anderen, auf dem gesamten Gebiet der Eidgenossenschaft. Diese Vielfalt ermöglicht in manchen Fällen das Entstehen bestimmter Lösungen, die aus sozialer und politischer Sicht vorteilhaft und glücklich sind. Häufig aber bildet sie auch die Grundlage für konzeptuelle Schwierigkeiten oder sogar die Ursache für Dysfunktionen bei der Umsetzung von Fürsorgepolitik. Indes erheben die einzelnen Kapitel des Sammelbands nicht den Anspruch, die gesamte Forschung der Forschungsgruppen, die im Rahmen des NFP 76 tätig 11 Einleitung waren, abzudecken. In diesem Band sollen anhand ausgewählter Situationen, die als besonders anschaulich für das schweizerische Fürsorgesystem gelten, im Wesentlichen folgende Fragen beantwortet werden: Welche als besonders illustrativ ausgewählten Konzepte und Materialien sind mit der Schaffung und dem Betrieb von Einrichtungen und Strukturen zwischen dem 19. und 21.-Jahrhundert verbunden: Heimerziehung, Netzwerke und Professionalisierungsstrukturen? Welcher Art sind die Einführungsprozesse der verschiedenen Kategorien des Fürsorgesystems sowie die wirtschaftlichen und politischen Bedingungen: forensischer Experte, kantonale Einweisungspolitik, Finanzierungsmodelle von Einrichtungen für Minderjährige? Wie lassen sich die Kontroversen um Zwangsund/ oder Unterstützungsmassnahmen beschreiben und analysieren: die Funktion psychiatrischer Gutachten, die Problematik von Hausbesuchen, Kontroversen und Debatten über die Rolle und die Kompetenzen der beteiligten Fachkräfte? Diese Fragen strukturieren die drei Teile, auf welche sich die elf Beiträge des vorliegenden Bandes verteilen. Im ersten Teil, «Strukturen des Schutzsystems», werden die strukturellen Elemente des schweizerischen Fürsorgesystems aus einer diachronen Perspektive anhand von drei besonders wichtigen Institutionen analysiert: der Erziehungsanstalt Albisbrunn, der schweizerischen Landeskonferenz für soziale Arbeit (LAKO) sowie den spezifischen Strukturen für die Unterbringung in Pflegefamilien und deren Anpassung an internationale Standards. In ihrem Beitrag «Grammatik der stationären Erziehung- - Das Schweizer Heimwesen im Spiegel des Landerziehungsheims Albisbrunn 1924-1990» untersuchen Deplazes et al. (2024) anhand einer Analyse von Dossiers die Geschichte einer heilpädagogischen Einrichtung, des Landeserziehungsheims Albisbrunn (Kanton Zürich). Das 1924 gegründete Heim nimmt Kinder und junge Erwachsene nach Platzierung durch die Fürsorgebehörde auf. Es wird von den Autor: innen nicht als isolierte Einrichtung verstanden, sondern als Teil eines komplexen Netzwerks aus Institutionen, Gesetzen, Verordnungen, politischen Behörden und Verwaltungssystemen, die Einzelpersonen, Familien, Instanzen und Gebäude zu einem Ganzen verbinden, das einer zugrunde liegenden «Grammatik» gehorcht. Es ist eine solche «Grammatik», die es ermöglicht, bestimmte Kontinuitäten jenseits der ständigen Reformbestrebungen zu verstehen: Bis heute sind Finanzierungsprobleme, Bestrafungssysteme, problematische Verhaltensweisen und Personalmangel stabile Merkmale dieser Bildungseinrichtungen, für die Albisbrunn ein besonders aufschlussreiches Beispiel darstellt. Wie der Titel bereits erahnen lässt, konzentriert sich der Beitrag von Hauss et al. (2024) «Planvoller, systematischer und rationeller. Segmentierte Professionalisierungsprozesse in den 1950er Jahren» auf die Geschichte eines Rationalisierungsversuchs bei der Umsetzung einer föderalen Instanz zur Koordinierung der Fürsorge, der LAKO. Anhand der Segmentierung des Professionalisierungsprozesses in den 1950er Jahren lassen sich die Komplexität und die Schwierigkeiten 12 Vincent Barras, Alexandra Jungo, Fritz Sager einer in mancher Hinsicht unvollständig gebliebenen Umsetzung nachvollziehen. Seit ihrer feierlichen Gründung im Jahr 1932 sollte die LAKO die bereits seinerzeit erkannten Koordinationsmängel bei der Organisation der Sozialfürsorge auf nationaler Ebene beheben. Wie andere vergleichbare Organisationen auf internationaler Ebene, verstand sie sich als «Laboratorium der Professionalisierung». Die Geschichte der LAKO ist somit diejenige der verschiedenen Strategien (Ausarbeitung von Vorschriften, Vernetzung bestehender Verbände, Arbeit von Kommissionen und Gruppen, Standardisierung von Praktiken-…), welche im Laufe der Jahrzehnte als «Ersatz» für das Fehlen eines koordinierenden Gremiums auf nationaler Ebene fungierten. Verfolgt man die Geschichte dieser überkantonalen Instanz, erkennt man ein zentrales Merkmal mit einer spezifischen Dynamik, die nicht nur kantonsübergreifend, sondern auch transnational ist. Dies rührt von den verschiedenen internationalen Kooperationen und Expertisen her sowie von der erheblichen Bedeutung nordamerikanischer Modelle. Jene Dynamik wird in hohem Masse von der Stärkung der sozialen Demokratie auf der Ebene des Bundesparlaments, der Sensibilisierung der Bevölkerung für bestimmte soziale Missstände und der Bedeutung bestimmter individueller Figuren bei dieser Entwicklung bestimmt. Als entscheidend für die Erklärung der Erfolge wie auch der Hemmnisse einer solchen Instanz erweist sich der nationale Kontext der Nachkriegsjahre: Hier spielen die relative Schwäche des Zentralstaats, die Autonomie der Gemeinden und die Macht verschiedener Vertreter der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle. Im Verlauf der untersuchten Jahrzehnte schwankt die Professionalisierung der Akteure und Akteurinnen der Sozialarbeit somit zwischen Standardisierungsbemühungen und der Pluralität lokaler Gegebenheiten, was die widersprüchlichen Bewegungen und Ambivalenzen zwischen Standardisierung und Pluralität erklärt, die auch heute noch wahrnehmbar sind. Der Beitrag von Bordier & Jeannin (2024) «Strukturen zum Entscheid über Fremdplatzierung in Familien: internationale Normen und Schweizer Gegebenheiten», nimmt Präventionsmassnahmen im Umfeld von Familientrennungen sowie die Qualität der Entscheidungsprozesse bei Unterbringungen in den Blick. Als Faktoren, die eine gewisse Unparteilichkeit und Objektivität bei Trennungs- und Unterbringungsentscheidungen gewährleisten, stellen die Autorinnen die Bedeutung eines koordinierten und überwachten Einsatzes von qualifizierten Fachkräften aus verschiedenen Disziplinen heraus, welche ordnungsgemäss geschult wurden, verfügbar sind und deren Arbeit regelmässig evaluiert wird. Laut den Autorinnen sollte die gegenwärtige Situation in der Schweiz weiter untersucht werden, um eine bessere Anpassung an internationale Standards zu erreichen. Zwecks Vermeidung des Risikos «ungerechtfertigter» Zwangsentscheidungen verlangen diese Standards die Koordination und Überwachung aller beteiligten Akteure, deren echte Interdisziplinarität nebst der Anwendung gemeinsamer Regeln. Geschehen sollte dies auf der Basis klarer gesetzlicher Grundlagen auf Bundesebene, welche die Prävention von Familien- 13 Einleitung trennungen, die Beurteilung von Pflegefamilien und die Vorbereitung auf eine Platzierung regeln. Im zweiten Teil, «Akteure, ökonomische Rahmenbedingungen und politische Entscheidungsprozesse», wird anhand mehrerer Modellfiguren die Vielfalt des föderalen Systems aus Sicht der beteiligten Akteure und Akteurinnen dargestellt. Die Akteure des staatlichen Schutzsystems waren und sind vielfältig: Sie reichen von staatlichen Verwaltungs- und Gerichtsbehörden über Institutionen (vor allem Heime), einzelne Mandatsträger: innen (Beiständ: innen, Vormund: innen) bis hin zu Ärzt: innen oder Lehrer: innen. Vor dem Inkrafttreten des geltenden Kindes- und Erwachsenenschutzrechts waren die (damals sogenannten) Vormundschaftsbehörden in den meisten Kantonen von Laien besetzte und häufig politisch gewählte Einrichtungen (namentlich Gemeinderäte als Exekutivbehörden) oder eine besondere Kommission auf Gemeindeebene. Die damit verbundene Nähe zur Bevölkerung war gleichzeitig der grösste Nachteil, indem die behördlichen Entscheide nicht immer juristisch und sachlich begründet waren, sondern durchaus auf politische, ökonomische und soziale Gegebenheiten Rücksicht nehmen konnten. Ausserdem waren die Laienbehörden kaum in der Lage, die Mandatsträger: innen effektiv zu kontrollieren und zu steuern (Botschaft Erwachsenenschutz, Personen- und Kindesrecht, BBl 2006, 7020 f.). Hinzu kommt, dass die Finanzierung der Institutionen einerseits öffentlich-rechtlich, kommunal oder kantonal, andererseits privatrechtlich, durch Stiftungen oder andere Rechtsträger organisiert war, was zu erheblichen regionalen Unterschieden im Angebot führte. Die Kostenträger verfolgten ihre eigenen (politischen und zum Teil ideologischen) Interessen, die Zuständigkeiten für die Einweisung waren unterschiedlich je nach Einweisungsgrund und die Finanzierung war nicht effektiv mit konkreten Steuerungsabsichten und vor allem nicht mit Qualitätsanforderungen verknüpft. Die Aufsicht über das Heimwesen war sodann nicht selten von Interessenkonflikten geprägt, da die öffentliche Hand auf die privaten Angebote angewiesen war, was der effektiven Aufsicht nicht zuträglich war (Canonica & Weiss, 2024). Diese Situation hat zu Missständen im Heimwesen geführt, die bis weit in das 20.-Jahrhundert fortdauerten. Sie hat ferner auch dazu geführt, dass ledige Mütter moralisch, zeitlich und mit finanziellen Argumenten teils subtil, teils ganz offen unter Druck gesetzt wurden, um einer Adoption zuzustimmen. Auch strukturelle und ökonomische Sachzwänge wirkten bei dieser Entscheidung mit: Viele ledige Frauen hatten beschränkte finanzielle Möglichkeiten und es fehlten Betreuungsstrukturen für ihre Kinder, weshalb sie sich für eine Adoption entschieden (Bühler et al., 2024). Der Diskurs, dass die Adoption eines ausserehelichen Kindes für alle Beteiligten die beste Lösung sei, war bis in die 1970er Jahre dominant und prägte die Ausserehelichenfürsorge, die damals ein eigenständiges Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit war. Teilweise verinnerlichten auch die Mütter diese Betrachtungsweise. Sie passten sich der gesellschaftlichen Vorstellung an und erachteten eine Adop- 14 Vincent Barras, Alexandra Jungo, Fritz Sager tion für sich und ihr Kind als richtig. Scham und Stigmatisierung trugen zu dieser für sie schmerzhaften Anpassung bei. In vielen Fällen der Platzierung von Kindern oder Erwachsenen spielten seit dem 19.-Jahrhundert Psychiater: innen und die psychiatrische Begutachtung eine zentrale Rolle. Mit dem Beizug von Psychiater: innen zur Begutachtung von Personen im Zusammenhang mit einer administrativen Einweisung (heute: fürsorgerische Unterbringung) in eine Institution erhöhte sich die gesellschaftliche Bedeutung und Anerkennung der Psychiater: innen. Gleichzeitig arbeiteten die psychiatrischen Kliniken an der Institutionalisierung der administrativen Gutachterpraxis mit. Folglich trägt die im juristischen Zusammenhang entstandene forensische Psychiatrie paradoxerweise zu Einweisungen unter Verwaltungsaufsicht bei, die ausserhalb der gerichtlichen Kontrolle liegen (Cicchini et al., 2024). Ab der Mitte des 20.- Jahrhunderts bis heute zeigt sich im Fürsorgewesen einerseits eine zunehmende Verschiebung der Zuständigkeiten von der kommunalen auf die kantonale Ebene. Damit war ein horizontaler und vertikaler Lastenausgleich verbunden. Ausserdem findet schliesslich auch eine Professionalisierung der Entscheidungsträger: innen statt (Adrian et al., 2024). Diese Entwicklung hängt vor allem mit der Wahrnehmung des Kindes als eigenes Rechtssubjekt zusammen, aber auch mit der wachsenden Bedeutung des Kindeswohls sowie des verstärkten formellen Rechtsschutzes für Betroffene. Die Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 durch die Schweiz im Jahr 1997 sowie die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) betreffend das Recht auf gerichtliche (und nicht administrative) Beurteilung der Beschwerden im Bereich des Kindes- und Erwachsenenschutzes waren dafür wegleitend. Canonica & Weiss (2024) schlagen dementsprechend vor, dass sich die Finanzierung der Platzierung von Minderjährigen an den betroffenen Personen orientiert und nicht an den Unterbringungseinrichtungen. Öffentliche Politiken sind stets nur so gut wie ihre Umsetzung. Um das Scheitern von öffentlicher Politik zu beschreiben, verwendet die Politikwissenschaft die beiden Begriffe des «Konzeptversagens» und des «Vollzugsversagens» (Linder &-Peters, 1987). Ein schlechtes Konzept kann noch so gut umgesetzt werden, es wird seine Ziele dennoch nicht erreichen. Und eine Politik kann noch so ausgefeilt und durchdacht sein, ihre Wirkung wird sie nur dann erzielen, wenn sie auch gut in die Tat umgesetzt ist. Der dritte Teil dieses Bandes beschäftigt sich aus diesem Grund mit der Umsetzung sowohl der historischen Vormundschafts- und Fürsorgepolitik als auch der aktuellen schweizerischen Kindes- und Erwachsenenschutzpolitik. Die Umsetzung öffentlicher Politik ist keine neutrale Tätigkeit, sondern zutiefst politisch, wie die angesprochene Unterscheidung von Konzept- und Vollzugsversagen zeigt. Die Umsetzung politischer Entscheide beinhaltet notwendigerweise Handlungs- und Interpretationsspielräume für die Vollzugsakteur: innen (Thomann et al., 2018). Diese Handlungsspielräume sind unumgänglich, da kein 15 Einleitung Gesetz alle potenziellen Situationen, die sich bei seiner Umsetzung ergeben, vorwegnehmen kann. Sie sind aber auch notwendig, da sie den Vollzugsakteur: innen die Möglichkeit geben, die umzusetzende Politik den realen Gegebenheiten anzupassen und auf unvorhergesehene Herausforderungen zu reagieren. Die organisatorischen Strukturen, die den Rahmen für die Umsetzung bilden, sind von vordringlicher Bedeutung, weil sie die Ausgestaltung der Handlungsspielräume wesentlich mit definieren (Sager &-Gofen, 2022). Die öffentliche Politik gewinnt ihr Gesicht erst durch die Realisierung ihrer Massnahmen. Vollzugsakteur: innen sind damit nicht einfach neutrale Umsetzungsmaschinen, sondern gestalten die Politik mit, die sie realisieren (Lipsky, 2010). Dabei unterliegen die Umsetzenden unterschiedlichen Referenzsystemen, die sich widersprechen können (Sager et al., 2020). Sie können sich beispielsweise sehr nahe am Buchstaben des Gesetzes ausrichten, selbst wenn sie die Folgen für die Betroffenen als negativ einschätzen. Oder aber sie stellen das Wohl der Zielgruppen über die wortgetreue Befolgung des Rechts. Maynard-Moody &-Musheno (2000) sprechen in diesem Zusammenhang von state agents versus citizen agents. Beide Handlungsweisen stellen ein Dilemma für Vollzugsakteur: innen dar. Zugleich bieten die Handlungsspielräume der Umsetzung von öffentlicher Politik auch allen anderen politischen Akteur: innen die Möglichkeit, ihre Interessen einzubringen, insbesondere, wenn sie im politischen Entscheidungsprozess nicht erfolgreich waren. Der Vollzug von politischen Entscheiden kann damit hoch konfliktuell werden (Sager &-Hinterleitner, 2022). Die Beiträge im dritten Teil dieses Bandes unterstreichen diese Erkenntnis. Der Beitrag von Ferreira et al. (2024) zeigt an der Rolle der psychiatrischen Expertise im Strafrecht auf, wie die Betonung der Vermeidung von Rückfälligkeit im revidierten Strafrecht von 2007 zur Abwägung von unterschiedlichen Werten in der Rechtsprechung führte und wie der Schutz der Allgemeinheit den Rechten des verurteilten Individuums gegenübergestellt wurde. Die Studie zeigt, wie der in den 2010er Jahren aufkommende «strafrechtliche Populismus» diese Abwägungen zuungunsten der Verurteilten beeinflusste. Koch (2024) fragt in ihrem Beitrag, wie es bei älteren Menschen zur fürsorgerischen Unterbringung (FU), der schärfsten Massnahme des Erwachsenenschutzes im schweizerischen Recht, kommt und welche Problemkonstruktionen diesem Eingriff vorausgehen. Die Autorin fokussiert insbesondere auf die Problemkonstruktionen der Vollzugsakteur: innen. Ihre empirischen Fallbeispiele zeigen anhand der unterschiedlichen Deutung der Wohnsituation bei den Betroffenen das Dilemma zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung und der angestrebten Vermeidung einer Selbstgefährdung der Betroffenen. Die Gewichtung dieser unterschiedlichen Deutungen durch die Vollzugsakteur: innen ist handlungsleitend und entscheidet darüber, ob eine FU verfügt wird oder nicht. Krüger et al. (2024) untersuchen aus historischer Warte am Beispiel der Aufsichtspflicht für Heime und Pflegefamilien die grundsätzliche Frage, ob es die 16 Vincent Barras, Alexandra Jungo, Fritz Sager Festlegung einer Massnahme oder deren Umsetzung ist, die einen Unterschied für die Problemlösung macht. Ihr Interesse gilt der Verhinderung gewaltsamer Todesfälle fremdplatzierter Kinder im Kanton Zürich in der ersten Hälfte des 20.-Jahrhunderts. Sie stellen fest, dass fehlende gesetzliche Vorgaben zwar grosse Handlungsspielräume eröffneten, aber zugleich eine institutionalisierte Aufsicht verhinderten. Der Beitrag zeigt, dass die Aufsicht, wo sie stattfand, durchaus einen Beitrag zur Verhinderung gewaltsamer Todesfälle fremdplatzierter Kinder leistete, ob mit oder ohne Fremdeinwirkung. Kontrolle ist somit sinnvoll, sie soll aber nicht auf Kosten des Fürsorgeaspektes stattfinden. Schliesslich untersuchen Künzler et al. (2024) am Beispiel einer ausgewählten Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB), wie gesetzliche Vorgaben im Vollzug befolgt werden und ob so ein Beitrag zur Zielerreichung geleistet wird. Die Studie geht der Frage nach, ob das System der KESB dem bei seiner Gründung gestellten Anspruch der Interdisziplinarität gerecht wird. Die Untersuchung zeigt, dass die Interdisziplinarität tatsächlich umgesetzt wird, sowohl in der Zusammensetzung der Spruchkörper wie auch in der täglichen Arbeit der KESB. Die Interdisziplinarität trägt dadurch massgeblich zur Erreichung der Ziele des neuen Kindes- und Erwachsenenschutzes in der Schweiz bei. Ganz allgemein eröffnen die Beiträge in diesem Band Perspektiven, welche eine Präzisierung und Vertiefung des Verständnisses erlauben, das wir von den Praktiken der Fürsorge und des Zwangs in einem derart komplexen sozialen und politischen System wie dem in der Schweiz haben können. Sie erschliessen künftigen Überlegungen neue Betrachtungsweisen und tragen auf diese Art dazu bei, die seit Beginn des Jahrtausends eingeleitete allgemeine Bewegung fortzuführen und sich für eine bessere Anerkennung und Berücksichtigung des Menschen im Bereich der Fürsorge einzusetzen. Literatur Adrian, N., Reiss, T., Marti, M., &-Widmer, T. (2024). Entstehung, Ausgestaltung und Konsequenzen von kantonalen Fremdplatzierungspolitiken. In V. Barras, A. Jungo &-F. Sager (Hg.), Diffuse Verantwortlichkeiten. Strukturen, Akteur: innen und Bewährungsproben. Nationales Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang». Band 2 (pp. 123-145). Schwabe Verlag. Bordier, L., & Jeannin, C. (2024). Strukturen zum Entscheid über Fremdplatzierung in Familien. Internationale Normen und Schweizer Gegebenheiten. In V. Barras, A. Jungo & F. Sager (Hg.), Diffuse Verantwortlichkeiten. Strukturen, Akteur: innen und Bewährungsproben. Nationales Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang». Band 2 (pp. 51-65). Schwabe Verlag. Bühler, R., Ramsauer, N., &-Businger, S. (2024). Zwang bei Adoptionen im Kanton Zug in den 1960er- und 1970er-Jahren. Ledige Mütter, Behörden und Beratungsstellen im Entscheidungsprozess. In V. Barras, A. Jungo &-F. Sager (Hg.), Diffuse Verantwortlichkeiten. Strukturen, Akteur: innen und Bewährungsproben. Nationales Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang». Band-2 (pp. 85-107). Schwabe Verlag. 17 Einleitung Canonica, A., &- Weiss, S.- (2024). Materielle Zwänge. Finanzierungs- und Steuerungsformen im Heimwesen seit 1940. In V. Barras, A. Jungo &- F. Sager (Hg.), Diffuse Verantwortlichkeiten. Strukturen, Akteur: innen und Bewährungsproben. Nationales Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang». Band 2 (pp. 69-84). Schwabe Verlag. Cicchini, M., Maugué, L., Porret, M., &-Ferreira, C. (2024). Die forensische Psychiatrie im Spiegel ihrer Expertenfiguren. Eine historische Betrachtung (Genf und Waadt, 1760-1910). In V. Barras, A. Jungo &- F. Sager (Hg.), Diffuse Verantwortlichkeiten. Strukturen, Akteur: innen und Bewährungsproben. Nationales Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang». Band 2 (pp.-109-122). Schwabe Verlag. Deplazes, D., Garz, J. T., Haymoz, N., Criblez, L., Bühler, P., & Moser Opitz E. (2024). Grammatik der stationären Erziehung. Das Schweizer Heimwesen im Spiegel des Landerziehungsheims Albisbrunn (1924-1990). In V. Barras, A. Jungo & F. Sager (Hg.), Diffuse Verantwortlichkeiten. Strukturen, Akteur: innen und Bewährungsproben. Nationales Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang». Band 2 (pp. 21-36). Schwabe Verlag. Ferreira, C., Gasser, J., Maugué, L., Moreau, M., &-Farkas, M. (2024). Schutz der Allgemeinheit oder des Individuums? Kontroversen über die Rolle der psychiatrischen Begutachtung und der Gefängnismedizin in der Westschweiz (1970-1980). In V. Barras, A. Jungo &- F. Sager (Hg.), Diffuse Verantwortlichkeiten. Strukturen, Akteur: innen und Bewährungsproben. Nationales Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang». Band 2 (pp. 153-168). Schwabe Verlag. Hauss, G., Bossert, M., & Heiniger, K. (2024). «Planvoller, systematischer und rationeller. Segmentierte Professionalisierungsprozesse in den 1950er Jahren. In V. Barras, A. Jungo, F. Sager (Hg.), Diffuse Verantwortlichkeiten. Strukturen, Akteur: innen und Bewährungsproben. Nationales Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang». Band 2 (pp. 37-50). Schwabe Verlag. Koch, M. (2024). Zunehmende Verwahrlosung. Erwachsenenschutzrechtliche Hausbesuche und fürsorgerische Unterbringungen bei älteren Menschen aus problemsoziologischer Perspektive. In V. Barras, A. Jungo &-F. Sager (Hg.), Diffuse Verantwortlichkeiten. Strukturen, Akteur: innen und Bewährungsproben. Nationales Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang». Band-2 (pp. 169-182). Schwabe Verlag. Krüger, P., Bloch, L., & Bannwart, C. (2024). Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Heim- und Pflegekinderaufsicht bei der Verhinderung gewaltsamer Todesfälle fremdplatzierter Kinder am Beispiel des Kantons Zürich, 1913-1950. In V. Barras, A. Jungo &-F. Sager (Hg.), Diffuse Verantwortlichkeiten. Strukturen, Akteur: innen und Bewährungsproben. Nationales Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang». Band 2 (pp. 183-201). Schwabe Verlag. Kuenzler, J., Stauffer, B., &-Sager, F. (2024). Die KESB und Interdisziplinarität. Eine qualitative Analyse. In V. Barras, A. Jungo &-F. Sager (Hg.), Diffuse Verantwortlichkeiten. Strukturen, Akteur: innen und Bewährungsproben. Nationales Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang». Band-2 (pp. 203-215). Schwabe Verlag. Linder, S. H., &-Peters, B. G. (1987). A design perspective on policy implementation: The fallacies of misplaced prescription. Review of Policy Research, 6(3), 459-475. Lipsky, M. (2010). Street-level bureaucracy: Dilemmas of the individual in public service. Russell Sage Foundation. Maynard-Moody, S., &-Musheno, M. (2000). State agent or citizen agent: Two narratives of discretion. Journal of public administration research and theory, 10(2), 329-358. Sager, F., &-Hinterleitner, M. (2022). The politics of policy implementation: a reassessment in more conflictual times. In Handbook on the Politics of Public Administration (pp. 102-113). Edward Elgar Publishing. Sager, F., &-Gofen, A. (2022). The polity of implementation: Organizational and institutional arrangements in policy implementation. Governance, 35(2), 347-364. 18 Vincent Barras, Alexandra Jungo, Fritz Sager Sager, F., Thomann, E., &-Hupe, P. (2020). Accountability of public servants at the street level. In The Palgrave handbook of the public servant (pp. 1-17). 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