Topik und Memoria
7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung bei Platon und Kleist
Topik und Memoria - Beiträge zu einer anthropologischen Literatur- und Kulturwissenschaft7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung bei Platon und Kleist10.24894/978-3-7965-4896-3Stefan Goldmann7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung bei Platon und Kleist Toposforschung ist ein wenig beanspruchtes Gelenk, welches Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft verbindet. Durch ihren Rekurs auf die antike Rhetorik, insbesondere auf den Prozess der Inventio und den der Memoria, verfügt sie über eine Theorie der kombinatorischen Fantasie und des kulturellen Gedächtnisses, die in der Lage sein dürfte, eine systematische Grundlage kulturwissenschaftlicher Arbeit zu schaffen. Toposforschung beschränkt sich nicht bloß auf die Erstellung eines Index literarischer Formeln, sondern untersucht vornehmlich Orte kultureller Prägung und affektiver Bindung und überschreitet damit die Grenze zwischen Literaturwissenschaft und Anthropologie. Toposforschung ist demnach ein elementares Werkzeug anthropologischer Kulturwissenschaft. Im Gegensatz zu Örtlichkeiten wie Wald, Insel und Lustgarten hat die Höhle als literarischer Ort bislang kaum Beachtung seitens der Literaturwissenschaft gefunden. Zwar legte Hans Blumenberg nach einer gewichtigen Vorarbeit innerhalb seiner Studien zur Metaphorologie ein philosophisches Florilegium über Höhlenausgänge vor, doch wurde die Forschung durch dieses Buchmassiv mehr fasziniert denn angeregt. 1 Die Höhle als Schauplatz und Handlungsort ist innerhalb der europäischen Literatur von Homer über Vergil, Dante und Grimmelshausen bis hin zu Novalis, ein zentrales episches Motiv, das sich auch bei Platon und Kleist findet. Flankiert wird dieser kanonisch zu nennende Traditionsstrang durch das Mythologem der Katabasis, des Abstiegs in die Unterwelt, 2 ein Erzählmotiv, das uns in der antiken Heroenmythologie von Theseus, Herakles und Orpheus 3 begegnet. In Höhlen sind nicht nur Götter wie Zeus, Dionysos, Hermes 1 Hans Blumenberg : Höhlenausgänge. Frankfurt/ M., 1989 ; vgl. ders.: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung, in : Studium Generale 10 (1957 ), S. 432 - 447, bes. S. 437 f.; Konrad Gaiser : Das Höhlengleichnis. Thema und Variationen von Platon bis Dürrenmatt, in : Schweizer Monatshefte 65 (1985 ), S. 55 - 65 ; Dieter Arendt : In ihrer Höhle wirst du sie erkennen oder : Die tragische Wiedergeburt der Jugend, in : Schiefertafel 8 (1985 ), S. 55 - 74. Florence M. Weinberg : The Cave. The Evolution of a Metaphoric Field from Homer to Ariosto. New York, Bern, Frankfurt/ M., 1986. 2 Josef Kroll : Gott und Hölle. Der Mythos vom Descensuskampfe. Leipzig, Berlin 1932 ; August Rüegg : Die Jenseitsvorstellungen vor Dante und die übrigen literarischen Voraussetzungen der Divina Commedia. Einsiedeln, Köln 1945, 2 Bde. 3 In den zahlreichen Opern, die seine Geschichte bearbeiten, ist einstiges rituelles Geschehen durch die musikalische Affektgestaltung in ästhetische Erfahrung transformiert. und, den Apokryphen zufolge, Jesus, 4 der andere Mittler zwischen den Welten, geboren und aufgewachsen, sondern auch eine Anzahl der Heroen : Chirons Höhle war Erziehungs- und Bildungsanstalt für Jason, Achill und Asklepios. Diese Mythologeme korrespondieren nicht nur mit lebendigen Höhlenkulten der griechischen Antike, 5 sondern sie verweisen auch auf eine viel ältere Epoche, aus der offenbar keine Schriftzeichen und Laute überliefert sind : die Epoche der Höhlenmalerei. Gerät dieser historische Hintergrund der steinzeitlichen Höhlenkunst in den Blick, dann wird deutlich, dass die Literatur von etwas spricht, das zuerst rituell in Bildern vermittelt und für das Gedächtnis fixiert wurde. Die ungebrochene Rezeption der Höhle innerhalb der Literatur darf als ein Anzeichen gewertet werden, dass mit ihr ein Ort bezeichnet wird, an dem einstmals ein einschneidendes, die Menschheit prägendes Geschehen stattgefunden haben muss. Die Höhle ist eine Wegmarke des Zivilisationsprozesses und der Kulturation der Menschheit. Sie weist zurück auf eine Menschheitsepoche, in der man noch keinen Ackerbau, keine Viehzucht und keinen Bergbau 6 trieb. Sie ist Matrix der sozialen Organisation und des kulturellen Symbolsystems, mithin Prägestock der Weltauffassung. Dass ihre Symbol- und Prägekraft keineswegs überwunden oder erloschen ist, erfahren wir täglich an Kindern, die Höhlen bauen. Schließlich ist nicht zu vergessen, dass der menschliche Körper anatomisch als eine Landschaft von Höhlen aufgefasst wird, deren Ein- und Ausgänge hierarchisiert und wie die heiligen Plätze und Stätten innerhalb einer Natur- und Kulturlandschaft mit kulturellen Riten und Zwängen besetzt werden. Wer sich mit der Trieb- und Kulturgeschichte der Höhle beschäftigt, gerät in einen Sog, den die Antike als genuine Höhlenerfahrung beschrieben hat. 7 Ein dunkler, leerer Raum wird angefüllt mit Projektionen, Bildern, Gravierungen und Symbolen, die in Verbindung mit irgendwelchen rituellen Praktiken die Leere in einen Raum imaginärer Fülle verwandeln. Die ungehemmte Produktion von Fantasien, die im Bannkreis der Höhle wuchern, suchen moderne Höhlenforscher zu unterbinden. Doch wenn die Entdecker von Chauvet erzählen, wie sie in angeblich unberührte Höhlen eindringen, und der erste Erforscher von Font-de-Gaume eine besonders markante und enge Stelle als »Rubikon« bezeichnet, mithin Assoziationen an Caesars berühmten ödipalen Traum vor der Überschreitung des Flusses und der Eroberung Roms weckt, dann hat der Toposforscher diese offen- 4 Ernst Benz : Die heilige Höhle in der alten Christenheit und in der östlich-orthodoxen Kirche, in : Ders.: Urbild und Abbild. Der Mensch und die mythische Welt. Gesammelte Eranos-Beiträge. Leiden 1974, S. 1- 68 ; siehe auch Max Zepf : Der Mensch in der Höhle und das Pantheon, in : Gymnasium 65 (1958 ), S. 355 - 382. 5 Otto Kern : Die Religion der Griechen. Berlin 1963, Bd. I, S. 78 ff. 6 Vgl. hierzu den locus classicus in den Metamorphosen des Ovid, I. 137- 140. 7 Pausanias IX. 39, 11. 122 7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung bar ortsgebundenen Symptom- und Fantasiehandlungen zusammenzustellen und zu deuten, zumal aus eben derselben Quelle, aus der die modernen Fantasien entspringen, schon die Antike schöpfte : Delphi, die Ortsbezeichnung der Höhle, die den heiligen Mittelpunkt der Griechen darstellte, ist wurzelverwandt mit delph - hohl und delphys - Gebärmutter. 8 Sie alle verweisen auf eine untergründige Sehnsucht nach der Mutter und damit auf Ursprungsnähe und Ursprungsfülle. Die Steinzeithöhlen, wie sie in Südfrankreich angetroffen werden, 9 zeichnen sich vor allem durch zwei augenfällige Charakteristika aus : der eigentümliche Raum und die eindrucksvollen Bilder. Die Anordnung der Bilder im Höhlenraum ist bislang noch wenig erforscht. André Leroi-Gourhan hat als erster auf die starke einheitliche Strukturierung und feste Symbolik der Kulträume aufmerksam gemacht. 10 Die Bilder befinden sich nicht nur entlang der Wände, wobei Felsvorsprünge und andere markante Stellen in die Malerei einbezogen werden, die den dreidimensionalen Eindruck verstärken, sondern auch an der Decke, auf die man sie auch im ursprünglichen Zustand der Höhle gelegentlich nur mit Hilfe von Gerüsten auftragen konnte. Um das Bild an der Decke betrachten zu können, muss man sich auf den Rücken legen oder den Kopf verrenken. Aber auch die Höhlengänge und der Höhlenbildraum sind von Bedeutung : Oft sind die Kulträume viele hundert Meter weit vom Eingang entfernt. Durch manche Gänge kann man sich nur kriechend fortbewegen, gelegentlich folgt man einem Wasserlauf oder hat unterirdische Seen zu überqueren. Gerade solche unterirdische Topografien begegnen in der antiken Literatur im Zusammenhang der Katabasis und der Durchquerung des Hades : Styx, Lethe, Mnemosyne und Ameles sind die bekanntesten Unterweltflüsse, die der Jenseitsreisende zu passieren hat. 11 Griechische Imagination überformt somit eine prähistorische Höhlenlandschaft, deren markante Schwellenplätze längst schon mit Geschichten und Bildern hoher Affektivität besetzt waren. Eine weitere Grundvoraussetzung für die malerische Gestaltung der Höhle ist ein differenzierter Umgang mit Licht : Wer an diesem Ort malte, bedurfte einer permanenten Lichtquelle, wer bloß zum Schauen bestellt war, bedurfte des zielgerichteten Lichts. Ich vermute, dass die »Künstler« die Bilder in der Tiefe nicht nur deponierten, um im Schoß der Erde Fruchtbarkeit und Fülle zu garantieren, sondern dass in den ausgemalten Hohlräumen, am Ort des Ursprungs, 8 Kern, a.a.O., S. 79. 9 Vgl. zum Folgenden Hans-Georg Bandi u. a. (Hrsg.): Die Steinzeit. Vierzigtausend Jahre Felsbilder. Baden-Baden 1960, S. 9 - 56 ; Louis-René Nougier : Die Welt der Höhlenmenschen. Zürich, München 1989. 10 André Leroi-Gourhan : Prähistorische Kunst. Die Ursprünge der Kunst in Europa. Freiburg, Basel, Wien 1982. 11 Vgl. auch Senecas naturkundliche Beschreibung einer Höhlentopografie, Naturales Quaestiones V.15. 7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung 123 Initiationen stattfanden, wobei das plötzlich entzündete Licht, wovon uns das lux ex tenebris 12 noch eine Erinnerung aufbewahrt, einen wesentlichen Platz innerhalb der Dramaturgie einnahm. Der die Dunkelheit durchdringende, zündende Blitz, Symbol der Gottheit und der Unverfügbarkeit einer übermächtigen Natur, wird in der dunklen Abgeschiedenheit der Höhle bewusst inszeniert. Licht und Dunkelheit, Feuer und Wasser verweisen auf Leben und Tod, Untergang und Neubeginn. 13 Die Höhle ist Initiationsraum, in dem Vorstellungen des Ursprungs und der Abstammung nicht nur erzählerisch vermittelt, sondern magisch agiert und in Szene gesetzt werden. Doch vor allem über Bilder und Licht werden in diesen Hohlräumen Gemeinschaften gestiftet, Fantasien geprägt und Erinnerungen tradiert. Liest man Platons Höhlengleichnis vor dem Hintergrund dieser Vorüberlegungen, dann drängt sich die Frage auf, ob der inmitten einer Poliskultur erzählte Höhlenmythos als freie dichterische Erfindung, als Erinnerung an mehr oder weniger vergangene Wirklichkeiten oder als aktuelle Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Höhlenkulten zu verstehen ist ? Bietet das beschriebene Höhlengeschehen Anhaltspunkte, von denen aus Zugänge zu prähistorischen Höhlenerfahrungen sich eröffnen ? Im Zentrum der Politeia entwickelt Platon das Höhlengleichnis, um die Kunst und den Stufenweg der paideia zu veranschaulichen, die den Menschen durch Umwendung der ganzen Seele ( periagogé holes tes psyches 14 ) zur wahrhaften Schau der Ideen führt. In der Höhle liegen die Menschen an Hals und Schenkeln derart gefesselt, dass sie nur in einer Richtung auf eine Wand blicken können, auf der sie Bilder in Bewegung wahrnehmen, die sie für wesenhafte Wirklichkeiten halten. Einer, der entfesselt aufgefordert wird, sich umzuwenden, muss widerwillig und unter Schmerzen erkennen 15 , dass Menschen Bildwerke hinter ihm vorbeigetragen haben. Durch ein großes Feuer angestrahlt, werfen diese Bilder auf die gegenüberliegende Höhlenwand ihren Schatten, den die Gefesselten als selbständige Wesen missdeuten. Gekrümmte Leiber, aufloderndes Feuer und bewegte Bilder, aber auch die schmerzhafte Umwendung der ganzen Seele und der mit einem Schweigegebot verbundene Blick hinter die Kulisse der Täuschungsmaschinerie, können als Bausteine eines Initiationsritus auf- 12 2 Kor. 4.6 ; 1 Joh. 1.5. 13 Siehe auch Walter Burkert : Antike Mysterien. Funktion und Gehalt. München 1990 und Karl Kerényi : Die Mysterien von Eleusis. Zürich 1962. 14 518d, 521c. 15 515c. 124 7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung gefasst werden. 16 Platon, das hat die Forschung längst festgehalten, 17 richtet sein Bildungskonzept philosophischer Erfahrung sprachlich und strukturell am Modell des Einweihungsvorganges aus : Wo einst Mysterium war, soll philosophische Einsicht Platz greifen. 18 Nun steht dieser Höhlenmythos in Platons Politeia nicht allein. Flankiert wird er von zwei weiteren, wobei alle drei zueinander in einem Steigerungsverhältnis stehen. Den Reigen eröffnet ein phönizischer Ursprungsmythos, der die Bürger zum Wohle des Staates täuschen soll. Durch ihn sollen sie dazu überredet werden, die tatsächlich genossene Erziehung für einen täuschenden Traum zu halten : »In Wirklichkeit aber hätten sie sich damals unter der Erde befunden und seien dort gestaltet und gebildet worden, sie selbst und auch ihre Waffen und ihre ganze übrige Ausrüstung. Als sie aber fertig geformt waren, habe sie ihre Mutter, die Erde emporgesandt, und nun müßten sie dem Lande, wo sie wohnen, als ihrer Mutter und Ernährerin mit ihrem Rat beistehen und es schützen, wenn es angegriffen wird ; und den anderen Bürgern gegenüber sollten sie wie Brüder und wie Kinder der gleichen Erde gesinnt sein.« 19 Unter der Erde werden Waffengemeinschaften geschmiedet und soziale Verwandtschaftsverhältnisse geregelt. Einen Einblick in diese Schmiede gewährt der zweite Höhlenmythos : Bildmagie im Höhlengleichnis, aber auch die Wortmagie des phönizischen Mythos, bindet die Gruppe in der Höhle zusammen und zwingt ihre Mitglieder, in eine allen gemeinsame Richtung zu schauen. Unter Zwang und Schmerzen kann sich einer umwenden und den Aufstieg zum »intelligiblen Ort« antreten. Hat er sich an den Anblick der Urbilder und den Gebrauch der Vernunft gewöhnt, wird er wiederum gezwungen, in den Hades zurückzukehren, wo er unter Todesandrohung seine jenseitigen Erfahrungen den Höhlenbewohnern nicht mitteilen darf. Das stille Dulden inmitten der Schattenwelt wird ihm einmal von Nutzen sein, wie der letzte, die Politeia abschließende Höhlenmythos des aus Pamphylien stammenden Soldaten Er nahelegt. Der Mythos berichtet von einer Jenseitsreise, die zu jeweils zwei einander gegenüberliegende Öffnungen führte, durch die die Seelen der Verstorbenen entweder in den Himmel oder in die Erde gelangten. Gemäß ihrer moralischen Haltung und Taten im Leben 16 Zur allgemeinen Struktur der Initiationsriten vgl. Arnold van Gennep : Übergangsriten. Frankfurt, New York 1986 ; Mircea Eliade : Mythen, Träume und Mysterien. Salzburg 1961, S. 266 - 319. 17 Siehe Paul Friedländer : Platon. Berlin 1964, Bd. 1, S. 63 -89 und Christoph Riedweg : Mysterienterminologie bei Platon, Philon und Klemens von Alexandrien. Berlin, New York 1987. 18 So ersetzt der sokratische Dialog das Festmahl zu Ehren der thrakischen Göttin Bendis (354a ). 19 Platon : Der Staat. Übers. von Rudolf Rufener. Zürich, München 1973, S. 205 [414d-e ]. 7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung 125 durchschreiten die Seelen der Gerechten die Himmelsöffnung, die der Ungerechten dagegen sind zu einer langen Wanderung unter der Erde verdammt, auf der sie viel Schmerzliches zu erdulden haben. An anderer Stelle beobachtet Er, wie diejenigen, die wieder ins Leben zu treten bereit sind, angehalten werden, unter den vorgeprägten »Mustern von Lebensläufen« sich eines auszuwählen. Trieb und Leidenschaft lassen den meisten jedoch keine freie Wahl. Es zeigt sich nun, dass nur der Philosoph, der sich in der Scheinwelt der Höhle bewährt hatte, imstande ist abzuwägen und sich leidenschaftslos für ein Lebensparadigma zu entscheiden. Auch im Hades wird er, wenn er ein gerechtes Leben geführt hat, eine Lebensweise wählen, die das bisherige unbeirrt fortsetzen wird. Diese den Staat durchziehende Höhlenmythologie steht in Platons Gesamtwerk nicht isoliert. In dem pseudo-platonischen Dialog Minos 20 erzählt Sokrates einem Schüler, der sagenhafte König und Gesetzgeber Kretas habe sich alle neun Jahre in die Zeushöhle auf dem Ida zur Inspiration und eigenen Belehrung zurückgezogen. 21 Gerade diese Höhle diente im 8. Jahrhundert v. Chr. einem Mysterien-Kriegerbund zur gut dokumentierten Kulthöhle. 22 In den Nomoi erörtern drei Gesprächspartner auf dem Weg von Knossos zu derselben Höhle die beste Gesetzgebung. 23 Den Spuren des Minos folgend, vertiefen sie sich in einen Gedankengang, der sie nach vielem Verweilen und Abschweifen schließlich an jenen Ort führt, wo Minos mythisch genau das eingegeben wurde, was sie schrittweise bewusst entwickelt haben. Die Höhle ist die Erziehungs- und Bildungsanstalt einer Kultur und Epoche, die der auf Ackerbau und Viehzucht beruhenden vorausgeht. Sie ist kein Seminar, keine Baum- oder Pflanzschule, in der gesät, gewartet und inokuliert wird. Das Seminar braucht vor allem Sonnenlicht. In ihm wird, wie Johann Gottlieb Fichte bemerkt, sokratische Maieutik gepflegt und das Überkommene kritisch geprüft, um es sich anzuverwandeln oder preiszugeben. In diesem Raum nimmt der Bildner und Kulturpfleger Rücksicht auf die Eigenart, die er geduldig zu verfeinern sucht. In der Dunkelheit der Höhle wird dagegen magisch bewegt, getäuscht und Zwang ausgeübt. Die Erziehung geschieht plötzlich, schockartig und damit überwältigend. Die Höhle ist Prägestätte der sozialen Organisation, der Polis, des Staates : Verwandtschaftsbeziehungen werden hier definiert und Waffenbünde geschlossen. Den prähistorischen Bildern kommt dabei eine vermittelnde Funkti- 20 Minos 319e ; vgl. auch Nomoi 624a - b. 21 In der Nachfolge des Minos philosophierte Pythagoras in einer Höhle (Iamblichos : Pythagoras. Legende, Lehre, Lebensgestaltung. Übers. M. von Albrecht. Darmstadt 1985, S. 35 [27 ]), aber auch Euripides schrieb seine Tragödien in einer Höhle auf Salamis (Aulus Gellius : Die attischen Nächte. Übers. F. Weiss. Darmstadt 1981, Bd. 2, S. 292 [XV.20,5 ]). 22 Walter Burkert : Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1977, S. 91, 202 u. 419. 23 Nomoi 625a - c. 126 7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung on zu. Die feste Anordnung lässt darauf schließen, dass hier Orientierungswissen niedergelegt wurde. Feste Plätze ( loci) und bewegte Bilder (imagines agentes ) sind die Komponenten, die einen Erinnerungsraum ( memoria ) konstituieren. Wiederholt und erinnert werden am Ort des Ursprungs Geschichten von den Anfängen. Dabei sind die markanten Orte mit den dort deponierten Bildern in einer festgelegten Folge abzuschreiten, oder dem Initianten wird nur ein Bild gewiesen, das kurz vom Licht erleuchtet, ihm wie eine Traumvision erscheint. Die Höhle und ihre Ordnung sind in ihrer sozialen Prägungskraft so mächtig, dass sie zum Vorbild des Kosmos werden. 24 Wie es in der ägyptischen Kunst in der sich über die Erde wölbenden Muttergottheit Nut zum Ausdruck kommt, erweitert sich der mütterliche Höhlenraum zum kosmischen Himmelsraum, wobei nach dem Gesetz der Analogie, die Höhlenbilder als Sternbilder wiederkehren. 25 Dieser Gedanke führt zu einem neuen Gesichtspunkt, von dem aus etwas Licht auf die Rahmenerzählung der Politeia fällt : Der Dialog beginnt »unten« im Piräus am Tag der Einführung des Kultes der Bendis, einer chthonischen Göttin der Thraker und endet mit der Erwähnung der drei im Jenseits waltenden Moiren, die den Lebensfaden spinnen, abmessen und durchtrennen. Mithin weist der Rahmen auf die Macht der Mütter. Innerhalb dieses zwischen Himmel und Hades gelegenen Raumes vermag der Philosoph, wie einstmals die antiken Heroen, auf- und niederzusteigen. Sein Abstieg (Katabasis ) führt ihn in den unten gelegenen Hafen von Piräus, in die Höhle der Schattenbilder, in den Hades, 26 sein Aufstieg (Anabasis ) zum intelligiblen Ort, von dem aus er das wahrhaft Wirkliche zu schauen vermag. Schwellenkundig und schmerzerfahren führt ihn der Weg der Paideia zur betrachtenden inneren Distanz, die es ihm ermöglicht, den Höhlenraum durch Erinnerung in einen Denkraum zu verwandeln. 27 Zweieinhalbtausend Jahre später greift Heinrich von Kleist mehrfach auf die Höhle als Schauplatz dramatischer Handlung zurück. Dieser Umstand wäre 24 Berühmt ist die »cava caeli« des Ennius und Porphyrs Ausdeutung der Höhle ( De antro nympharum 6 ). Auch im Mithraskult wird die Mysterienhöhle als Kosmos aufgefasst (Walter Burkert : Antike Mysterien, a.a.O., S. 73 ). 25 Zieht man noch Die Unterweltsbücher der Ägypter heran, dann gewinnt die Erfindung des Metrodorus von Skepsis, der die Sternbilder mitsamt den Dekanen des Tierkreises zum künstlichen Gedächtnisraum erhob ( Frances Yates : Gedächtnis und Erinnern. Mnemotechnik von Aristoteles bis Shakepeare. Berlin 1990, S. 43 f.), eine noch gar nicht wahrgenommene historische Tiefe. 26 Vgl. Eric Voegelin : Order and History. Bd. 3 : Plato and Aristotle. Baton Rouge, Louisiana 1957, S. 52 - 62. 27 Der Philosoph verbindet durch Erinnerung die Welt der Höhle mit dem intelligiblen Ort. Wie Aithalides, der Sohn des Hermes, welcher sich all der Metamorphosen und Inkarnationen seiner Seele bis hin zu Pythagoras zu erinnern vermochte, bewahrt der Philosoph die Erinnerung in der Höhle und im Hades ( vgl. Diogenes Laertius : Vitae philosophorum VIII.4 f.). 7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung 127 kaum erwähnenswert, ginge da nicht die Rede, dass dieser Autor durch philosophische Lektüre, durch die sogenannte Kant-Krise zum Schreiben erweckt worden sei. Als Zeugnis hierfür wird sein Brief vom 22. März 1801 an Wilhelmine von Zenge angeführt : »Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.« 28 Die philosophische Urszene und das Schulbeispiel des Erkenntnisproblems, das Kleist hier zitiert, ist nun aber die platonische Höhle, in der wahr scheint, was auf Täuschung beruht. Im selben Brief eröffnet er seiner Verlobten, dass es auf Erden sein einziges Ziel gewesen sei, der Bildung und Wahrheit stufenweise entgegenzuschreiten. In ihrer Rückübersetzung ins Griechische lauten diese programmatischen Schlagworte paideia und aletheia, 29 mithin geben sie sich als zentrale Begriffe des Höhlengleichnisses zu erkennen. 30 Schließlich begegnet uns noch die Seelenwanderungslehre des Abschlussmythos der Politeia, 31 wenn Kleist seine nun aufgegebene Überzeugung mitteilt, dass wir den Schatz von Wahrheiten, den wir im Leben sammeln, einst auch im Jenseits werden brauchen können. Unter dem Etikett »der neueren sogenannten Kantischen Philosophie« 32 demonstriert er Wilhelmine von Zenge, der er gern Denkübungen vorlegte, auf eindringliche und populäre Weise das Lehrstück der platonischen Erkenntniskritik. Ziel des hoch rhetorischen Briefes ist die Ankündigung einer absolut »notwendigen« Reise. In der Begrifflichkeit des Höhlengleichnisses ist die projektierte Reise eine Umwendung, eine periagogé, die eine Abkehr von der Verlobten und der avisierten Beamtenlaufbahn bedingt und - auf den Spuren des Philosophen - den Aufstieg des Schriftstellers einleitet. Kleists Erstlingswerk, Die Familie Schroffenstein (1803 ), handelt von der Diskrepanz zwischen Anschein und Wirklichkeit, Täuschung und wahrer Erkenntnis. In dieser Tragödie des Argwohns wird das im Brief entfaltete philosophische Erkenntnisproblem auf die Bühne gebracht und familiendynamisch exemplifiziert. Seit zwanzig Jahren leben die Schroffensteins - nomen est omen - in einer Welt der Missdeutung und zunehmend leidenschaftlicher Verblendung, deren Ursache in einem überkommenen Erbvertrag liegen soll, der seit alter Zeit zwischen zwei Zweigen der Familie, dem Hause Rossitz und dem Hause War- 28 Heinrich von Kleist : Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. H. Sembdner. München 1984, Bd. 2, S. 634. 29 515c und 516a. 30 Vgl. hierzu auch Martin Heidegger : Platons Lehre von der Wahrheit. Bern, München 1975. 31 617d ff. 32 Aus topologischer Sicht ist festzuhalten, dass Kant in Kleists Vorstellung allgemein verbreitete Grundgedanken Platons überdeckt : so erwähnt er z. B. in dem Aufsatz »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden« Kants »Hebeammenkunst der Gedanken« und meint sokratische Maieutik (Kleist : Sämtliche Werke und Briefe, a.a.O., S. 324 ). 128 7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung wand, besteht : Falls ein Haus aussterbe, fällt der Besitz dem anderen zu. Ohnmacht gegenüber projektiven Fantasien ist das Signum, unter dem vor allem die Männer stehen : Bei seinem Regierungsantritt fällt Rupert, der Familienvater des Hauses von Rossitz, in eine zwei Tage andauernde Ohnmacht. 33 In diesem Symptom bricht sich offenbar ein unbewusster Wunsch Bahn, der auch an der »versehentlichen« Ermordung seines Sohnes Ottokar beteiligt ist. Die Überwältigung durch unbewusste Regungen zeigt sich darüber hinaus in dem Mangel an Erinnerungskraft : nach der Ermordung der vermeintlichen Agnes fragt Rupert : »Warum denn tat ichs, Santing ? Kann ich es/ Doch gar nicht finden im Gedächtnis.« 34 Das katastrophale Ende der streng symmetrisch aufgebauten Tragödie, 35 in der die Familien und das ganze Volk durch Anschein sich vorschnell täuschen und hinreißen lassen, spielt sich innerhalb einer Höhle ab. Dabei weiß Kleist eine Reihe von Registern zu ziehen, die verschiedene Symbolebenen dieses schon von Platon mit einem Theaterraum verglichenen Ortes andeuten : Sie ist Liebesgrotte, Grabeshöhle, Gefängnis, 36 vor allem aber Ort der Täuschung und allzuspäten Erkenntnis. Innerhalb der Höhle täuscht Ottokar Agnes mit einer fantasievollen, doch sehr gehetzten Rede über die ihr an Leib und Leben drohende Gefahr hinweg. Der Kleidertausch zwischen den Liebenden soll zum einen die Häscher vor der Höhle täuschen, zum anderen ermöglicht er eine »Erkennensszene«, denn für einen kurzen Augenblick ist es Ottokar gegönnt, Agnes in ihrer schönen Blöße zu betrachten, um darauf gleich durch die Hand seines Vaters zu sterben. Getäuscht durch den Augenschein und innerlich verblendet, töten die Väter in der Höhle ihre eigenen Kinder. Nur Sylvius, der alte blinde Großvater von Agnes, gelangt jenseits aller Worte und Blicke, allein durch sein tastendes Gefühl zur Erkenntnis des wahren Sachverhaltes. Kleist beschreibt eine Welt, die durch den bloßen Anschein, zumal wenn er einer bestimmten psychischen Charakterstruktur entgegenkommt, überwältigt und in Bann geschlagen wird. Es ist die Welt der platonischen Höhle, in der auch ein Mittler wie Jeronimus, der die andere Seite gesehen hat und von seinen dort gewonnenen Eindrücken in der Höhle freimütig berichtet, das gleiche Schicksal erlebt wie der zurückgekehrte, aber nicht mehr anpassungsfähige und deshalb von den Höhlenbewohnern getötete Philosoph. Kleist verwandelt die Höhle, den Ursprungsort und Garanten der Genealogie, in einen Schauplatz blutiger Verhee- 33 Heinrich von Kleist : Die Familie Schroffenstein, in : Sämtliche Werke und Briefe, a.a.O., Bd. 1, S. 49 - 152, v 189 f. u. 1783 f.; vgl. auch die Ohnmachtsanfälle von Sylvester ( v 683 ), Johann ( v 291 f.) und Agnes ( v 1053 ). 34 v 2517 f.; vgl. auch v 1873 ff. sowie die Erinnerungsschwächen von Sylvester ( v 598 ). 35 Siehe Hinrich Seeba : Der Sündenfall des Verdachts. Identitätskrise und Sprachskepsis in Kleists Familie Schroffenstein, in : Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft 44, 1970, S. 64 - 100. 36 Von der Grotte des Gefängnisses ( v 2264 ) hin zur Höhle des letzten Aktes bedarf es nur eines Sprungs von Ottokar ( v 2363 ). 7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung 129 rung. Die verfeindeten Häuser der Familie treffen in der Höhle zusammen, nicht um der gemeinsamen Ursprünge zu gedenken und sie durch eine fruchtbare, einander versöhnende Verbindung zu erneuern, sondern um das junge Leben, den Fortbestand der Genealogie auszutilgen. 37 Diese Vernichtung und Verheerung am Ort des Ursprungs, mit der Kleist als Dramatiker debütiert, scheint mir von paradigmatischer Bedeutung zu sein. Es ist ein Topos, auf den er sich immer wieder bezieht, ein Fluchtpunkt, dem Leben und Werk zustreben. Wirft man noch einen kurzen Blick aus kulturanthropologischer Perspektive auf den Zeitpunkt des dramatischen, zur Katastrophe sich zuspitzenden Geschehens, dann ergibt sich folgende Situation : Ausgangspunkt ist die rituelle Versammlung um einen unter mysteriösen Umständen verstorbenen neunjährigen Jungen. Am Tage zuvor hatte dessen Bruder Ottokar den Ritterschlag erhalten. 38 Agnes, fast 15jährig, steht kurz vor der Einsegnung und tritt damit ins heiratsfähige Alter. 39 Nimmt man den erinnerten Ohnmachtsanfall Ruperts bei seinem Regierungsantritt und die probeweise durchdachten Möglichkeiten hinzu, unglückliche Zufälle bei einer Geburt nur durch die Brille tiefen Misstrauens auslegen zu können, 40 dann sind die wesentlichen affekthaltigen und konfliktuösen Schwellensituationen einer Gesellschaft wie die eines Individuums benannt. Diese Schwellen werden mit Riten der Trennung, des Übergangs und der Angliederung verknüpft. Agnes und Ottokar treffen am Rande der Gesellschaft, in der durch Quelle und Höhle gekennzeichneten Wildnis zusammen. Die Einschließung Ottokars in ein höhlenartiges Gefängnis betont diese soziale Absonderung. Was dann in der Höhle geschieht, der Kleidertausch, das Selbstopfer und die Begegnung mit dem Tod sind Elemente eines Initiationsritus. Allerdings funktioniert die Wandlung und Wiedereingliederung der jungen Generation nicht mehr, weil die einander zerstrittenen Väter Symbolhandlungen in blinder Wörtlichkeit vollziehen. Während in Die Familie Schroffenstein die Höhle Schauplatz des finalen Desasters ist, dient sie in Das Käthchen von Heilbronn (1810 ) zum Ausgangspunkt der Exposition. Die Höhle ist hier von Beginn an der Ort der Prüfung, der Ursachenforschung, der Rätselauflösung und der Begründung. In der unterirdischen Abgeschiedenheit soll die Wahrheit durch vernünftige Kritik und Erinnerung aufgespürt und erkannt werden. Freizuhalten ist die Höhle von der Magie der »Hekate, Fürstin des Zaubers«, die mit der thrakischen Bendis Platons verwandt 37 Ingeborg Harms hat dagegen in ihrem Aufsatz »Wie fliegender Sommer.« Eine Untersuchung der ›Höhlenszene‹ in Heinrich von Kleists Familie Schroffenstein, in : Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 28, 1984, S. 270 - 314 christlich religiöse Andeutungen hervorgehoben. 38 v 152 f. 39 v 417 f. u. 428 f. 40 v 537 f. 130 7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung ist und die in der »moorduftigen Königin der Nacht« 41 Mozarts und Schikaneders fortlebt. Den Höhlenraum okkupieren Männer, die im magnetischen Rapport die geheimsten Winkel im Seeleninneren einer Frau ausforschen wollen. In dieser Unterwelt werden - nachdem sich der Kaiser über Bild und Namen der Ereignisse erinnert hat 42 - genealogische Verhältnisse bestätigt und somit durch die Väter die Voraussetzung zur Heirat geschaffen. 43 Abgespalten von diesem Raum der Erinnerung und Wahrheit ist die Grotte mit ihrer Ausgeburt, Kunigunde von Thurneck, der alle Männer auf den ersten Blick verfallen. Sie ist im wörtlichen Sinn eine Groteske, ein zusammengesetztes monströses Höhlenwandbild, das laufen gelernt hat. Wie jede Groteske schlägt sie den Betrachter in Bann. Der sexuellen Faszination folgt allerdings der Todesschreck und damit die aufklärende Ent-täuschung. 44 Und ist die Groteske schließlich als ein »wesenloses Bild« 45 entlarvt, dann lässt sich leicht über sie in kynischer Manier philosophieren und lachen. Bilder entfalten in diesem historischen Ritterschauspiel ihre Macht über den einzelnen. 46 Kleist nimmt Platons Hinweis ernst, dass die mit Schattenbildern und wesenlosem Schein angefüllte Welt der Höhle unsere Lebenswelt sei. Bilder des Wahren schafft nur der somnambule Traum. Äußerer Schein, Standesdenken und eigensinnige Willkür verstellen den Zugang zu diesen Traumbildern, die in der »Höhle der Brust« 47 und in der Waldhöhle des Femgerichtes sich als die wahrhaft wirklichen erweisen. Nur im Traum findet sich die »nackte Wahrheit«, 48 während die Lebenswelt von Zweideutigkeit, Verschiebung, Verkehrung und Verstellung angefüllt ist, einer Rhetorik, die man sonst der Traumwelt zuschreibt. So ist für Kleist dieses paradoxe utopische Modell mit der Hochzeit als Kulmination und Abschluss nur unter den Bedingungen des Traumes, d. h. unter der Macht der fantasierten Wunscherfüllung und unter der Figur der Groteske vorstellbar. Bevor ich mich dem Beispiel eines symbolischen Höhlenraums zuwende, gilt es, Kleists eigene Höhlenerfahrungen nachzutragen : Seinen Briefen lässt sich entnehmen, dass er auf jener Bildungsreise, die er gegenüber Wilhelmine von Zenge als notwendige Umwendung rechtfertigte, gemeinsam mit seiner Schwester Ulri- 41 Heinrich von Kleist : Das Käthchen von Heilbronn oder die Feuerprobe, in : Sämtliche Werke und Briefe, a.a.O., S. 429 - 531 ; v 337 f. 42 v 2419 f. 43 v 2546 f. 44 v 2224 f. u. 2251. 45 v 918. 46 Vgl. Gert Ueding : Zweideutige Bilderwelt : Das Käthchen von Heilbronn, in : Walter Hinderer (Hrsg.): Kleists Dramen. Neue Interpretationen. Stuttgart 1981, S. 172 - 187. 47 v 4. 48 v 2147. 7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung 131 ke in die Bergwerke von Freiberg und Goslar stieg. 49 Eine aufgrund ihres symptomatischen Charakters wertvolle Erinnerung stellte sich auf derselben Reise in Marienborn ein, wo er 1793 mit seinem Regiment gelegen hatte und bei dem erneuten Besuch an Ort und Stelle »noch Spuren einer Höhle fand, die ich einmal mit Barßen, uns vor der Sonne zu schützen, in die Erde gegraben hatte.« 50 Diese Symptomhandlung steht in einer Reihe von z. T. dramatisierten und schließlich auch agierten Fantasien, die das gemeinsame Sterben und Begrabenwerden 51 zum Inhalt haben. 52 Auch sein unfreiwilliger Aufenthalt in einem unterirdischen Gefängnis im Jahre 1807 auf dem Weg in die französische Gefangenschaft 53 ist unter Höhlenerfahrungen zu rubrizieren. In Anlehnung an diese nicht zu unterschätzenden Realitäten bildet seine produktive Imaginationskraft psychische Höhlenräume 54 und bearbeitet immer wieder die Vorstellung, in die Erde versenkt zu werden. 55 Diese Höhlenfaszination darf nicht zuletzt als Metapher und Seismograf depressiver Stimmungen aufgefasst werden. In der Erzählung Die Verlobung von St. Domingo (1811), die den Aufstand der unterdrückten schwarzen Landarbeiter gegen die französischen Grundbesitzer zum Hintergrund hat, sucht Gustav von Ried auf einem Anwesen Zuflucht vor den aufständischen Schwarzen, nachdem er seine Familie in einer »Berghöhle« 56 hatte sicher verbergen können. Seine vermeintlichen Retter, eine Mulattin 49 Heinrich von Kleist : Sämtliche Werke und Briefe, a.a.O., Bd. 2, S. 651 u. 657. Zum historischen Kontext der Höhle als Reiseziel vgl. Sabine Röder : Höhlenfaszination in der Kunst um 1800. Ein Beitrag zur Ikonographie von Klassizismus und Romantik in Deutschland. Diss. Berlin 1985, gekürzt u.d.T.: Hinab in den Orkus, in : Klaus Luttringer (Hg.): Zeit der Höhlen. Freiburg/ Br. 1994, S. 57-87. 50 A.a.O., S. 674. 51 Am 7. Januar 1805 schreibt er an seinen Freund Ernst von Pfuel : »Ich möchte mir, […] wie jener nackte König Richard, mit ihrem [der Tränen ; S. G.] minutenweisen Falle eine Gruft aushöhlen, mich und Dich und unsern unendlichen Schmerz darin zu versenken« ( a.a.O., S. 749 ). 52 In dieser Perspektive erweist sich die Stadt »Marienborn« als ein Erinnerungstopos, an dem Assoziationen verdichtet sind, die in der Familie Schroffenstein in einzelne Elemente zerstückt, wiederkehren : Agnes erhält von Ottokar den Decknamen »Maria«, der er aus der Quelle (»Born«) einen Trank Wasser reicht. Psychisches Decksymbol und Schaltstelle, über die Kleists Höhlenerfahrung in Marienborn Eingang in das Drama findet, ist der Kleidertausch innerhalb der Höhle, der eine Teilidentifikation von Agnes/ Maria und Barsse ermöglicht. 53 A.a.O., S. 776 u. 778. 54 »Ach, dunkel, dunkel ist das alles« ( a.a.O., S. 665 ). 55 Vgl. Anm. 50 sowie Das Käthchen von Heilbronn v 2526 : »Ich wollte, daß die Erde mich verschlänge ! « und Die Verlobung von St. Domingo, in : Heinrich von Kleist : Sämtliche Werke und Briefe, a.a.O., Bd. 2, S. 160 - 195, hier : S. 193 : »Gustav […] meinte, die Erde versänke unter seinen Füßen.« 56 S. 186. 132 7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung und ihre heiratsfähige Tochter, verwandeln das ihm zugewiesene Zimmer in einen dunklen Höhlenraum, indem sie auch bei Tage die Fensterläden geschlossen halten und nur ein Kerzenlicht anzünden. Gerade die Polarität von schwarz und weiß, hell und dunkel, stockfinsterer Nacht zu Beginn und aufklärendem Sonnenlicht am Ende ist ein grundlegendes Strukturelement der Erzählung. Wie in der Familie Schroffenstein prallen Extreme wie Liebe und Tod, Täuschung und Erkenntnis auf engstem Terrain aufeinander oder wechseln einander ab. Der sich verliebende Protagonist gerät in ein Affektbad, das ihn zwischen Angst und Vertrauen, Liebe und wütendem Haß hin und her wirft. In der abgedunkelten Zimmerhöhle fühlt sich Gustav von schwarzen Liebeskünsten getäuscht 57 und findet sich plötzlich sogar gefesselt und den schwarzen Häschern hilflos ausgeliefert. Aufgrund der Diskrepanz zwischen äußerem Anschein und innerer Wahrheit erscheinen die Handlungen, die Gustavs Geliebte geistesgegenwärtig in höchster Gefahr ihm zur Rettung ersinnt, dem Gefesselten als Verrat, sodass er sie bei erster ihm sich bietender Gelegenheit im Affekt erschießt. Aufgeklärt über sein Missverständnis, schießt sich Gustav, der schon einmal durch eine Geliebte auf eine ihm emotional unverständliche Weise gerettet wurde, in die Mundhöhle, 58 eine literarische Fantasie, die Kleist wenig später an sich selbst verwirklichte. Gegen Ende seines Lebens erstreckt sich Kleists literarische Höhlenfaszination auch auf die Mundhöhle, in die das in der Höhle der Familie Schroffenstein und in der Zimmerhöhle von St. Domingo katastrophale Geschehen introjiziert und auf kleinstem Raum wiederholt wird. Sollte sich in dieser Symptomhandlung nicht ein Zugang zum Verständnis dieses Höhlenhungers finden ? Einen Schlüssel bietet der psychoanalytisch orientierte Entwicklungspsychologe René Spitz, der von der »Urhöhle« des Mundes sprach. 59 In der Interaktion zwischen Mutter und Kind kommt der Mundhöhle eine grundlegende Funktion zu : Gerade über dieses Organ bildet der Säugling Kriterien der Wahr-Nehmung aus. Der Mund ist ein Kommunikationsraum, in dem innere Triebregungen und äußere Wahrnehmungen zusammentreffen und Erinnerungsspuren hinterlassen. Dieses Organ ist eine Prägestätte und Prüfungsinstanz - lange bevor die ersten der Hand erreichbaren Gegenstände »begriffen« und im Munde geprüft werden. Da innere Triebregungen ebenso wie die Mutterbrust in der Mundhöhle wahr-genommen werden und die äußere Welt als eine innere erfahren wird, verknüpfen sich Unsicherheiten der Wahrnehmung und Versagungserfahrungen mit einer bedrohlichen Mutterimago : Was Mutter und Amme anzubieten haben, dem kann man nicht mehr trauen. So korrespondiert die verzweifelte Frage des existenziell betroffenen Gustav, ob das, was ihm über die Motive und die missverstandene Handlungsweise 57 Vgl. auch S. 161. 58 S. 194. 59 René Spitz : Vom Säugling zum Kleinkind. Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehung im ersten Lebensjahr. Stuttgart 1967, S. 79 -82. 7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung 133 der von ihm impulsiv hingemordeten Geliebten erzählt wurde, wirklich wahr sei, 60 mit der immer wieder durchgespielten Vorstellung, dass der Tod in der Brust sei, 61 dass die Milch im Topf vergiftet sei, 62 erfrischende Getränke Gift enthalten könnten. 63 Wiederholt wird eine Mutterfigur oder die einstmals Geliebte als »Giftmischerin« bezeichnet - so das letzte Wort in Das Käthchen von Heilbronn. Aus diesem psychologischen Grund reimen sich auch Küsse auf Bisse 64 und bedeutet Lieben Morden. 65 Die Urhöhle, in der Worte gebildet, Gefühle geprägt und Beziehungen gestiftet werden, ist von tiefer Ambivalenz durchdrungen. Als großer Anthropologe blieb Kleist dieser psychischen Spannung schreibend auf der Spur, und als er in freier Assoziation ihren Ursprungsort gewahr wurde, zielte er mit sicherer Hand. Kleist greift im Augenblick einer schweren Entwicklungshemmung, aus der ihm Triebkräfte seiner Kreativität zuwachsen, auf den platonischen Höhlenmythos zurück, in dem das Erkenntnisproblem, welches ihn bewegt, traditionsstiftend formuliert wurde. Da dieses am Beispiel der Höhle expliziert wird, findet Kleists Imagination einen vorgegebenen topischen Rahmen, den er als Dichter bearbeitend sich aneignet. Wie jeder literarische Ort hat auch der Topos Höhle seine eigene Vorgeschichte, die sich in den ihn umstellenden Bildern, Pathosformeln und Argumentationsfiguren ablagert und verdichtet. Die Höhle ist ein Topos im rhetorischen Sinne, sie ist Erinnerungsort und Argumentationssitz zugleich. An diesem Erinnerungsort der Gattungsgeschichte haften Bilder gesteigerter Affektivität, die von Gründung, Opfer und Recht, von sozialen Grundsituationen zeugen. Die Höhle wird zu einem Experimentierraum, in dem die von der Tradition angebotenen Elemente neu kombiniert, rhetorisch bearbeitet und in weitere Zusammenhänge übertragen werden. So verlagert Kleist den Topos Höhle zunehmend ins Körperinnere, wo schon Francis Bacons »idola specus« den Blick auf das wahrhaft Seiende verstellten. 66 Während Platon, der seine Tragödien verbrannt hatte, um sich ganz der Philosophie des Sokrates zu widmen, einen Ausweg aus der dumpfen Schattenwelt der Höhle weist, gelangen Kleists Helden wie von ungefähr in die Höhle, wo sie durch ein Labyrinth von 60 S. 193. 61 S. 170. 62 S. 178. 63 S. 168 sowie Die Familie Schroffenstein v 1298 f. 64 S. 657 u. Penthesilea v 2981. 65 Die Familie Schroffenstein v 774. 66 Francis Bacon : Neues Organon. Hamburg 1990, Bd. 1, S. 103 : »Die Idole der Höhle sind die Idole des einzelnen Menschen. Denn ein jeder hat ( neben den Abirrungen der menschlichen Natur im allgemeinen ) eine Höhle oder eine gewisse Grotte, welche das Licht der Natur bricht und verdirbt.« Und S. 115 : »Die Idole der Höhle haben ihren Ursprung in der seelischen und körperlichen Eigenart eines jeden, aber auch in der Erziehung, der Gewohnheit und in Zufälligem.« 134 7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung Schein und Erkenntnis geführt werden und sich schließlich so verstricken, dass sie nicht mehr den Ausgang der Höhle finden. Nicht, wie einstmals im Aufstieg der Seele, sondern im Abstieg werden jetzt Erinnerungshemmungen aufgehoben, Verstellungen rückgängig gemacht und Einblicke in den Unterbau der Seele gewährt, die allerdings bei der tragischen Aufeinanderfolge von Peripetie und Anagnorisis Furcht und Schrecken erregen. Nicht zuletzt mit diesem Kunstgriff der Tragödie stellt sich Kleist, wie Aristoteles ihm bescheinigen würde, in philosophische Traditionen. Die Höhle erweist sich als Schauplatz der Urgeschichte des Individuums und als Substruktur der Gesellschaft. In dieser Unterwelt finden sich die Triebgründe : Geburt und Tod, Liebe und Haß lagern in ihrer Gegensätzlichkeit ungeordnet nebeneinander. Es ist ein Ort ungeheurer Verdichtung und dadurch höchster Affektivität. In diesem subterranen Raum der Leidenschaften wurden immer schon plötzliche Peripetien inszeniert, Umschwünge von affektiver Bindung und Entfesselung, Dunkelheit und Licht, Schein und Wahrheit. Die vorherrschende Dunkelheit und Enge geht einher mit einer mangelnden Distanz gegenüber Bildern und Worten, die schockartig überwältigen und die Grenze zwischen Innen und Außen verschwimmen lassen. Im Innern der Höhle wird äußere Inszenierung zum inneren Erlebnis. So erscheint der Höhlenraum als Matrix, als eine Prägestätte von Imagination, Argumentation und Kultur. 7 Höhle. Ort der Prägung, Erinnerung und Täuschung 135