Vincentiusfreundliche Schweiz 

Dominic Bärsch: Von Spanien in die Schweiz

Vincentiusfreundliche Schweiz - Die Verehrung des spätantiken Märtyrers Vinzenz von Saragossa in Bern und der SchweizDominic Bärsch: Von Spanien in die Schweiz10.24894/978-3-7965-5041-6 Maria Lissek, Ueli ZahndVon Spanien in die Schweiz Literarische Aspekte der spätantiken und frühmittelalterlichen Verehrung des heiligen Vinzenz von Saragossa Dominic Bärsch «[…] do nam man ze husherren und patron den heiligen herren sant vincencien, der da alle note hilfet unberwinden ; und ruwet liphaftig in dem küngriche von Hyspanien in der bredier kloster, doch so ist sines heltumes in dem münster ze berne.» 1 Zu Beginn des 15. Jahrhunderts betont Conrad Justinger (1370 - 1438) in seiner Berner Chronik die exponierte Stellung, die Vinzenz von Saragossa als Schutzpatron der Stadt eingenommen hatte. Dieser war im späten 3. und frühen 4. Jahrhundert Diakon des Valerius von Saragossa und erlitt in Valencia während der Christ_innenverfolgung unter Kaiser Diokletian (* zwischen 236 und 245, † 312 ) das Martyrium. Seine Verehrung verbreitete sich schnell in der christlichen Welt und erreichte auch die Schweiz, wo er besonders populär wurde. Beschäftigt sich der vorliegende Sammelband in Detailstudien mit der konkreten Bedeutung des Heiligen für die Schweiz, möchte dieser Beitrag sich darauf fokussieren, welche spätantike und frühmittelalterliche literarische Ausgangslage und besonders welche motivgeschichtlichen Transformationsprozesse die hoch- und spätmittelalterliche Verehrung des Vinzenz von Saragossa jenseits der spanischen Grenzen begünstigt haben könnten. Dafür sollen einzelne Schlaglichter gesetzt werden, ohne den Anspruch einer erschöpfenden Darstellung liefern zu wollen. Zunächst soll dabei der Blick auf die Peristephanon-Dichtungen des Prudentius (348 - 413 ) sowie auf ausgewählte Predigten des Augustinus von Hippo (354 - 430 ) ge- 1 Justinger, Berner-Chronik 10, ed. Studer, 9. richtet werden. Seitenblicke werden zudem auf Dichtungen des Paulinus von Nola (354 - 431) und des Venantius Fortunatus (530 - 610 ) und Mirakelberichte Gregors von Tours (538 - 594 ) geworfen. Im Anschluss daran sollen die verschiedenen Fassungen der Passio Sancti Vincentii untersucht und auf ihre Beziehung zu den zuvor behandelten Werken befragt werden. In einem dritten Schritt wird sodann die Vinzenz-Translation nach dem Bericht Aimoins von St. Germain († 889 ) untersucht. 1. Verdichtetes Leiden : Vinzenz von Saragossa im Peristephanon des Prudentius Aurelius Prudentius Clemens, ein christlicher Aristokrat aus Calahorra in der spanischen Provinz Tarraconensis, zog sich nach einer Karriere als hoher Beamter in der kaiserlichen Bürokratie in Rom aus dem öffentlichen Leben zurück, um sich in dieser Abgeschiedenheit der literarischen Beschäftigung mit dem christlichen Glauben zu widmen. In dieser Lebensphase verfasste er verschiedene poetische Werke, darunter das Peristephanon, wörtlich «Über die Kronen [der Märtyrer]», eine Sammlung von vierzehn Gedichten unterschiedlicher Länge, die das Leben verschiedener Märtyrer_innen behandeln. Informationen zum Leben und Werk des spätantiken Dichters sind durch die Vorrede zu seinen Werken bekannt, die auf das Jahr 405 datiert werden kann. 2 Darüber hinaus finden sich autobiografische Bemerkungen in seinen Schriften, die einen (freilich subjektiv geprägten) Einblick auf seine Person bieten. 3 Der heilige Vinzenz begegnet zunächst in der vierten Märtyrerhymne. In ihr wird Saragossa als besonders bedeutender Ort für das christliche Martyrium hervorgehoben, da die Stadt achtzehn berühmte Märtyrer_innen hervorgebracht hat, die als Vorbilder für ein tugendhaft-christliches Leben dienen. In diesem Kontext ( Perist. 4,77- 108 ) werden lediglich kleinere Details über Vinzenz präsentiert, wie etwa seine angeblich noble Abstammung. Eine ausführliche Beschreibung der Umstände seines Martyriums wird wiederum in der fünften Hymne dargeboten, die ihm vollständig gewidmet ist. Gerade 2 Zur Datierung von Peristephanon vgl. Fux, Prudence et les martyrs, 9. 3 Vgl. Palmer, Prudentius on the martyrs, 6 - 31. 24 Dominic Bärsch der Vergleich mit anderen, später entstandenen hagiografischen Verarbeitungen seines Lebens macht deutlich, dass Prudentius « eine Version der Passio sancti Vincentii kannte, die um 400 verbreitet war » 4 und diese kreativ umformte, um eine ästhetisch gefällige, metrische Version zu kreieren, die den Ansprüchen seiner römisch-aristokratischen Rezipient_innen gerecht werden konnte. 5 Der Aufbau der Hymne folgt in den Grundzügen dem eines Dreiakt- Dramas : 6 Nach einem kurzen ‹ Präludium › ( Perist. 5,1- 16 ), das die glorreiche ascensio (« Himmelfahrt ») des Märtyrers ankündigt, folgt der erste ‹ Akt › ( Perist. 5,17- 174 ). In diesem versucht Dacian, Provinzstatthalter zur Zeit der Diokletianischen Christ_innenverfolgung (303 - 305/ 311), den Diakon von Saragossa dazu zu bringen, für die altrömischen Götter und den Kaiser zu opfern, was Letzterer jedoch ablehnt. Trotz grausamer Folter kann der Statthalter ihn nicht dazu bringen, das Opfer und damit den Akt der Apostasie zu vollziehen, da sich Vinzenz der Gegenwart Christi gewiss ist, diesen sogar in sich spürt, was kulminiert in den folgenden Versen hervorgehoben wird : « jener dagegen, umso heiterer, erhellt die fröhliche Stirn, die frei ist von jeder Trübung, weil er dich, Christus, anwesend erblickt ». 7 Bereits an dieser Stelle wird Vinzenz zur Identifikationsfigur stilisiert, die den von staatlicher Autorität Unterdrückten repräsentiert, der wiederum seine innere Stärke gegen alle Widrigkeiten aus dem christlichen Glauben bezieht. Der zweite ‹ Akt › ( Perist. 5,175 - 376 ) schildert zunächst die Bemühungen Dacians, Vinzenz dazu zu bringen, den Aufenthaltsort der Heiligen Schriften preiszugeben, um diese zu vernichten. 8 Als jener sich weigert, der Forderung Dacians nachzukommen, folgt eine detailliert ausgearbeitete Beschreibung der Foltermassnahmen, die der Statthalter anordnet, welche zu den « most violent of the martyr poems » 9 gehört. Vinzenz wird unter ande- 4 Meyer, Der heilige Vinzenz von Zaragoza, 56. 5 Vgl. Kuhlmann, Christliche Märtyrer, 142. 6 Vgl. die Unterteilung der Hymne bei Clarke, Pain, Speech and Silence in Prudentius, 10. 7 Prud. Perist. 5,125 - 128, ed. Cunningham, 298 : ast ille tanto laetior / omni uacantem nubilo / frontem serenam luminat / te, Christe, praesentem uidens. 8 Es ist überliefert, dass Diokletian 303 die Verbrennung der Heiligen Schrift angeordnet hatte ; vgl. Bleckmann, Diocletianus, 429 - 438. 9 Hershkowitz, Prudentius, 92. Von Spanien in die Schweiz 25 rem gemartert, indem er auf einen Rost über glühenden Kohlen gelegt wird, in einem stockfinsteren Verlies eingekerkert wird und blutende Wunden von einem Bett aus zertrümmerten Töpfen erleiden muss. Die Szenerie wird dabei durch Metaphern des Krieges und des Kampfs unterstrichen, sodass die Protagonisten als Kontrahenten auftreten, die einen Wettstreit auszutragen scheinen. 10 Als dessen Sieger kann freilich nur Vinzenz hervorgehen, 11 der zwar letztlich seinen Wunden erliegt, dessen Seele jedoch begleitet durch mehrere Wunder, die auch die Bekehrung seines Kerkermeisters bewirken, entrückt und in die Schar der Engel und Heiligen aufgenommen wird ( Perist. 5,269 - 376 ). Die Narration des eigentlichen Todesbzw. Entrückungsakts wird dabei ausgedehnt, indem einerseits die genannte Bekehrung eingebettet, andererseits von Gläubigen aus der umliegenden Gegend berichtet wird, die den Kerker aufsuchen. Drei Motivationen kennzeichnen deren Besuch : Zum einen pflegen sie den schwer Verwundeten und versorgen dessen Verletzungen, zum anderen möchten sie in direkten Kontakt zur von Vinzenz verkörperten Heiligkeit kommen, indem sie ihn berühren und sogar das Blut von seinem Körper lecken ( hic purpurantem corporis / gaudet cruorem lambere ). 12 Ausserdem tränken viele ihre Kleidung mit seinem Blut, um diese im Anschluss mitzunehmen und als Schutzreliquien zu verwenden. Mutet diese eingeschobene Erwähnung der Gläubigen zunächst seltsam an, da sie die eigentliche Entrückungsszene unterbricht, 13 könnte sie als Ätiologie dafür zu verstehen sein, dass schon früh entsprechende Reliquien im Umlauf gewesen sein dürften. Im dritten ‹ Akt › ( Perist. 5,377- 524 ) versucht der wutentbrannte Dacian nun zumindest einen finalen Triumph zu erringen, indem er den Leichnam des Märtyrers vernichtet. Dafür wirft er diesen zunächst wilden Tieren zum Frass vor, was jedoch mit göttlicher Anweisung durch einen Raben verhindert wird, der den Körper beschützt. Frustriert von diesem Rückschlag be- 10 Vgl. Prud. Perist. 5,213 - 216, ed. Cunningham, 301 : Ventum ad palestram gloriae, / spes certat et crudelitas, / luctamen anceps conserunt / hinc martyr, illinc carnifex. 11 Besonders deutlich in Prud. Perist. 5,293 - 296, ed. Cunningham, 304 : O miles inuictissime, / fortissimorum fortior, / iam te ipsa saeua et aspera / tormenta uictorem tremunt. 12 Prud. Perist. 5,339 f, ed. Cunningham, 305. 13 Vgl. Auch Roberts, Poetry and the Cult of the Martyrs, 74. 26 Dominic Bärsch schliesst der Statthalter, den Körper im Meer versenken zu lassen, was ein Soldat namens Eumorphius ausführt. 14 Dies scheitert jedoch ebenfalls insofern, als der Leichnam trotz des angehängten Mühlsteins nicht etwa untergeht, sondern durch göttliche Fügung an den naheliegenden Strand angeschwemmt wird und dort sein Grab findet. Unterstrichen wird diese göttliche Fügung durch Verweise auf das Alte und Neue Testament (Auszug der Israeliten aus Ägypten mit der Spaltung des Roten Meeres [ Ex 14,21 f] und Gang Jesu über das Wasser [Mk 6,48 ]), die zugleich die Vorstellung einer direkten Kontinuität des Heilsgeschehens evozieren : So wie Gott bereits in der Vergangenheit sein erwähltes Volk bewahrt und sich in Christus offenbart hat, so unterstützt er auch noch seine erwählten Streiter in der Gegenwart der Rezipient_innen. Prudentius schildert sodann, dass in der Folgezeit, in der die christliche Religion zum Staatskult des römischen Reiches avanciert, ein Heiligtum für Vinzenz errichtet wird, in dem seine Gebeine aufbewahrt werden. Zugleich betont er die besondere Stellung Vinzenz’ selbst unter den Märtyrer_innen, da nicht nur dessen Seele entrückt, sondern sogar dessen Leichnam vor der Vernichtung bewahrt worden sei, was ihn zum zweifachen Sieger über die Verfolger mache. 15 Abgeschlossen wird die Hymne durch eine Anrufung Vinzenz’, dass dieser für die Gläubigen als Fürsprecher vor Christus fungieren möge. In diesem Zuge wird eine Do-ut-des-Konzeption des frühchristlichen Märtyrerkults besonders evident, auf die Kuhlmann aufmerksam macht : « Der christliche Märtyrerkult weist zum einen deutliche orthopraxe Züge auf ; zum anderen besteht eine Art Klientelverhältnis zwischen den Märtyrern […] auf der einen Seite und den im Diesseits lebenden Menschen auf der anderen Seite. Die Menschen als Klienten der […] Märtyrer verrichten den Kult korrekt und erhalten dafür von ihren himmlischen patroni entsprechende Wohltaten. Der Märtyrerkult ist wie der traditionelle Götter- und Heroenkult lokal organisiert, d. h. ein Gott oder Heros war zunächst für seine Stadt 14 Dass sogar der Name einer Nebenfigur bekannt ist, dient wohl dazu den Wahrheitsgehalt des Berichts zu betonen. 15 Prud. Perist. 5,537- 540, ed. Cunningham, 312 : Tu solus, o bis inclyte, / solus brauii duplicis / palmam tulisti, tu duas / simul parasti laureas. Von Spanien in die Schweiz 27 zuständig ». 16 Deckt sich diese letzte Annahme zwar mit dem Befund, dass Prudentius die Gründung eines Heiligtums für Vinzenz an dem Ort schildert, an dem sein Leichnam angeblich angeschwemmt worden sei, zeigt sich doch, dass der Heilige bereits in der Hymne selbst nicht ausschliesslich einem Territorialbereich zugewiesen wird. So wird, wie Elliot betont, keine explizite Verbindung zwischen dem Heiligen und seiner spanischen Herkunft evoziert. 17 Vielmehr wird er geradezu als universale Helden- und Identifikationsfigur für die christlichen Tugenden inszeniert, die im Angesicht von Unterdrückung und Gewalt göttlichen Beistand erfahren hat. Der heilige Vinzenz steht dabei für « die siegende Kirche, der heidnische Verfolger für die Gefahren, denen die Kirche ausgesetzt ist ». 18 Gerade diese Aspekte könnten wesentlich zur Beliebtheit sowie zu der frühen und weiten Verbreitung seines Kultes beigetragen haben. 19 Zugleich ist zu konstatieren, dass Vinzenz trotzdem eine besondere Verbindung zur iberischen Halbinsel zugeschrieben wird, wie etwa an einem Gedicht des aquitanischen Bischofs Paulinus von Nola ebenfalls im frühen 5. Jahrhundert zu erkennen ist. Zwar widmet er diesem lediglich einen Halbvers (Vincentius extat Hiberis ), 20 ordnet ihn damit aber in eine Reihe zentraler Heiliger mit je eigenem regionalem Zuständigkeitsbereich ein : So seien etwa die Apostel Petrus und Paulus für Rom von zentraler Bedeutung, während der Apostel Andreas in Patras besonders verehrt wird. Der Apostel Johannes hingegen sei für Ephesus wichtig und der Apostel Thomas für Indien. Neben den Aposteln wird auch die Bedeutung Cyprians († 258 ) für Karthago und die des Ambrosius von Mailand († 397 ) für Italien hervorgehoben. In diesem Zusammenhang scheint Paulinus von Nola jedoch weniger darauf abzuzielen, einen Heiligen auf eine bestimmte Region einzugrenzen, sondern vielmehr die universale Verbreitung der Heiligenverehrung insgesamt zu betonen. Ähnlich verweist Venantius Fortunatus im 6. Jahrhundert in einem Gedicht De virginitate auf Vinzenz, in dem er dessen besondere Verehrung 16 Fuhrmann, Christliche Märtyrer, 149. 17 Vgl. Elliott, Roads to Paradise, 28 f. 18 Meyer, Der heilige Vinzenz von Zaragoza, 55. 19 Eine ähnliche Begründung für die Beliebtheit des Heiligen wird auch für das mittelalterliche Portugal angesetzt ; vgl. Ferreira, The Lisbon Office, 62. 20 Paulinus Nolanus, Carmen 19,153, ed. Dolveck, 427. 28 Dominic Bärsch in Spanien hervorhebt. 21 Zwei weitere Gedichte, die dieser über eine basilica sancti Vincenti verfasst hat, behandeln wahrscheinlich den homonymen heiligen Vinzenz von Agen, wobei die Namensgleichheit gerade auch zur Verbreitung des heiligen Vinzenz von Saragossa in Gallien beigetragen haben könnte. 22 2. Tugenden und Wunder: Vinzenz von Saragossa bei Augustinus von Hippo und Gregor von Tours Der Kirchenvater Augustinus, der ab dem Jahr 396 Bischof von Hippo war, hat in sieben seiner überlieferten Predigten auf den heiligen Vinzenz von Saragossa Bezug genommen. Auch wenn diese keine weiteren Details über das Leben des spanischen Märtyrers liefern, die nicht bereits im Peristephanon des Prudentius geschildert worden sind, belegen sie dennoch, dass es um das Jahr 400 n. Chr. eine weitverbreitete Passio (« Leidensgeschichte ») des Heiligen gab. Eine Version dieser Passio wurde zumindest in der nordafrikanischen Kirche am 22. Januar, dem Jahrestag des Heiligen, vor der Predigt verlesen. Dies zeigt sich daran, dass Augustinus innerhalb seiner Predigten mehrfach auf genau diesen Akt des vorhergehenden Vorlesens beziehungsweise Hörens rekurriert. 23 Dass der Kult des Heiligen in dieser Region offenbar bereits früh und weit verbreitet gewesen ist, bezeugen « zahlreiche Inschriften sowie die liturgischen Kalender von Karthago und des Codex Sinaiticus ». 24 Augustinus selbst geht jedoch noch einen Schritt weiter und proklamiert in Sermo 276 die ubiquitäre Verehrung des Märtyrers : « Welche Region oder welche Provinz, wohin auch immer sich das römische Reich 21 Venantius Fortunatus, Carmen 8,3,154, ed. Leo, 185. 22 Vgl. Meyer, Der heilige Vinzenz von Zaragoza, 162. 23 Vgl. Saxer, La Passion de S. Vincent, 279. Beispiele sind Augustin, Sermo Dolbeau 2, ed. Dolbeau, 77 : Vidimus, interfuimus ; Augustin, Sermo 274, ed. Migne, 1252 : Magnum spectaculum spectavimus und 1253 : Longam lectionem audivimus ; Augustin, Sermo 275, ed. Migne, 1254 : Magnum et multum mirandum spectaculum noster animus cepit […] cum beati Vincentii gloriosa passio legeretur […] decursa lectio declaravit ; Augustin, Sermo 276, ed. Migne, 1255 : In passione, quae nobis hodie recitata est ; Augustin, Sermo 277, ed. Migne, 1257 : Oculis fidei certantem exspectavimus Martyrem. 24 Drobner, Die « Passio », 134 f. Von Spanien in die Schweiz 29 oder der christliche Name erstreckt, freut sich heute nicht, den Geburtstag des Vinzenz zu feiern ? Wer hätte heute auch nur den Namen Dacians gekannt, wenn er nicht die Passio Vincentii gelesen hätte ? » 25 Obwohl es sich bei dieser generalisierenden Aussage sicherlich um rhetorische Überspitzung handelt, 26 betont sie doch das Potenzial, das der Kult des Märtyrers besessen hat. Ähnlich wie es bereits Prudentius in seiner fünften Peristephanon-Hymne getan hat, ordnet auch Augustinus den Heiligen nicht explizit dem spanischen Raum zu, da er keine spezifischen Orte nennt, die mit dem Heiligen in Verbindung stehen. Vielmehr typologisiert der Kirchenvater die Figur des Märtyrers, indem er dessen Leidensgeschichte als Sinnbild für verschiedene Aspekte des christlichen Glaubens nutzt. Damit installiert er diesen geradezu als Projektionsfläche, die für ihn verschiedene Funktionen zu bedienen vermag : So treten in seinen Predigten besonders pädagogische ( die extrapolierten Tugenden des Märtyrers sind für die Gläubigen erstrebenswert, Dacian verkörpert wiederum die sündigen Verlockungen) sowie didaktisch-polemische Aspekte hervor ( der wahre Märtyrer dient als Sinnbild des orthodoxen Glaubens gegen heterodoxe Strömungen, die wiederum von Dacian vertreten werden). 27 Zugleich stellt er den Rezipient_innen die Identifikationsfigur des Heiligen vor Augen, dem diese nacheifern können. Den von Augustinus angepriesenen Tugenden nachzufolgen, erscheint dabei als valider Weg, sich direkt der göttlichen Gunst zu versichern : Wie der heilige Vinzenz durch seine Beharrlichkeit und Standhaftigkeit im Glauben den Versuchungen und der Folter seiner Peiniger widerstanden hat, so widerstehen auch die « Soldaten Christi » ( milites Christi) inneren und äusseren Bedrängnissen, um zum ewigen Leben zu gelangen. 28 Da vermutlich auch in der zuvor von den Rezipient_innen gehörten Passio Semantiken von Kampf und Krieg gebraucht wurden, bietet das Konzept des « Soldaten Christi » eine gelungene Andock- 25 Augustin, Sermo 276,4, ed. Migne, 1257. 26 Vgl. Drobner, Die « Passio », 134. 27 Vgl. Meyer, Der heilige Vinzenz von Zaragoza, 65 - 69. 28 Vgl. etwa Augustin, Sermo 276, ed. Migne, 1256 : Duplicem mundus arciem producit contra milites Christi. Advertite, fratres. […] Banditur enim, ut decipiat ; terret, ut frangat. Non nos teneat voluptas propria, non nos terreat crudelitas aliena ; et victus est mundus. Ad utrosque aditus occurit Christus, et non vincitur christianus. 30 Dominic Bärsch möglichkeit für die versammelte Gemeinde, um sich selbst als direkte Nachfolger_innen des Märtyrers zu identifizieren. 29 Auch in den Sermones des Augustinus wird also deutlich, dass die eigentliche Lebens- und Leidensgeschichte des Diakons Vinzenz von Saragossa und dessen regionaler Bezug in den Hintergrund rücken, um ihn zu einem überregionalen Sinnbild zu stilisieren. Dadurch wird es möglich, dass Christ_innen auch ausserhalb von Spanien Vinzenz als Vorbild besonders für christliche Tugenden und die Beharrlichkeit im Glauben betrachten können. Dies könnte neben anderen Aspekten dazu geführt haben, dass der Heiligenkult um Vinzenz bereits früh weite Verbreitung über geografische und kulturelle Grenzen hinweg gefunden hat. Dass dies der Fall gewesen ist, zeigt sich etwa auch im Liber in gloria martyrum (« Buch zum Ruhm der Märtyrer_innen ») Gregors von Tours, das um 590 verfasst wurde und Informationen über verschiedene Heilige, deren Reliquien, Patrozinien und überlieferte Wunder enthält. Dabei lässt sich eine intensive Rezeption der Peristephanon-Hymnen des Prudentius nachzeichnen. 30 Neben dem heiligen Vinzenz erwähnt er auch andere spanische Märtyrer wie Eulalia von Mérida, Felix von Girona sowie Emetherius und Celedonius. 31 Die Ausführungen zu Vinzenz von Saragossa beginnen mit einer knappen Vorstellung des Heiligen und behandeln dann verschiedene Orte, an denen Reliquien des Heiligen aufbewahrt werden oder an denen mit ihm in Verbindung stehende Wunder bezeugt sind. 32 Zunächst wird ein Becciaco genanntes Dorf angeführt, in dem man Reliquien des Heiligen besitzt und dessen Festtag an den 12. Kalenden des 11. Monats gefeiert wird, wobei an einem dieser Festtage drei Besessene geheilt worden seien. In Céré hätten sich weitere Wunderheilungen von zwei Lahmen und einem Blinden ereignet, da vorbeiziehende Pilger_innen Reliquien des Heiligen mit sich geführt hätten. Im Dorf Orbigny, unweit von Céré, sei ebenfalls eine solche Heilung aufgetreten, als zuvor gestohlene Vinzenz- Reliquien in das Dorf zurückgebracht worden seien und dabei ein schwerkranker Mann wieder habe gehen können. Auch im Kapitel über den heili- 29 Vgl. zum Konzept Brennecke, Militia Christi, 1231 f. 30 Vgl. Meyer, Der heilige Vinzenz von Zaragoza, 184. 31 Gregor von Tours, Miracula 1,90 - 92, ed. Krusch, 98 - 100. 32 Gregor von Tours, Miracula 1,89, ed. Krusch, 97 f. Von Spanien in die Schweiz 31 gen Andreas taucht Vinzenz auf : So berichtet Gregor, dass in einer zuvor Andreas und Saturnius geweihten gallischen Kirche Vinzenz deren Stellung als Patron eingenommen habe, was auf sein hohes Ansehen in Gallien hinweist. 33 3. Ein Heiliger in vielen Fassungen: Vinzenz von Saragossa in den Versionen der Passio sancti Vincentii Wie in den Predigten des Augustinus betont wurde, gab es spätestens im ausgehenden 4. Jahrhundert eine Passio sancti Vincentii, die die Lebens- und Leidensgeschichte des Märtyrers darstellte und vermutlich aus frühen prokonsularischen Akten oder aus eng damit verwandten Acta martyrum (« Märtyrer_innenakten ») hervorgegangen ist. 34 Eine solche ist vermutlich auch die Vorlage für die Peristephanon-Hymne des Prudentius gewesen. Zwar sind mehrere Fassungen der Passio in der Bibliotheca Hagiographica Latina ( BHL) überliefert, jedoch konnte anhand stilistischer Analysen und kodikologischer Untersuchungen gezeigt werden, dass alle heute erhaltenen Versionen erst nach Augustinus und Prudentius entstanden sein können. 35 Auch Saxer konstatierte bei seinem Versuch, die den überlieferten Texten zugrundeliegende, ‹ originale › Passio zu rekonstruieren, dass diese mit grosser Sicherheit in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts entstanden ist. 36 Dieser Text ist jedoch nicht überliefert und auch nicht wiederherzustellen. 37 Viele Anhaltspunkte sprechen dafür, dass die Passio-Version BHL 8631 im 6. Jahrhundert in Spanien angefertigt wurde und damit die älteste erhaltene Fassung darstellt. 38 Diese scheint auch als Vorlage für die meisten der spä- 33 Gregor von Tours, Miracula 1,30, ed. Krusch, 56. 34 Vgl. Meyer, Der heilige Vinzenz von Zaragoza, 101, die vermutet, dass sich bereits die frühen Passiones relativ weit von der Textgestalt dieser Akten entfernt haben dürften. 35 Vgl. de Lacger, Saint Vincent, 311- 320. 36 Vgl. Saxer, La Passion de S. Vincent, 296. 37 Vgl. den umfangreichen Forschungsüberblick bei Meyer, Der heilige Vinzenz von Zaragoza, 73 - 77. 38 Vgl. Saxer, La version BHL 8628 -8631, 175 - 177. 32 Dominic Bärsch teren Versionen gedient zu haben. 39 Folgend soll zunächst der Plot dieser Passio erläutert werden : Der Statthalter Dacian erfüllt den Befehl der Kaiser und lässt Bischöfe und Geistliche festnehmen, woraufhin Valerius, der Bischof von Saragossa, und sein Diakon Vinzenz zu diesem aufbrechen, um ihren Glauben zu bekennen ( BHL 8631,2, ed. Saxer, 187 f ). Dacian lässt sie nach Valencia führen, um sie dort vor Gericht zu stellen ( BHL 8631,3, ed. Saxer, 188 f). Nachdem sie in Ketten gelegt wurden, beginnt Dacian Valerius zu verhören. Vinzenz schreitet ein und kritisiert den Bischof scharf für seine scheinbar mangelnde Widerstandskraft gegenüber Dacian ( BHL 8631,5, ed. Saxer, 191 f). An dem auffälligen Verhalten des Diakons, das in anderen Kontexten nicht überliefert ist, wird besonders deutlich, dass die Passio den Fokus auf Vinzenz’ Tugend legt und betont, dass dieser bereits als Heiliger zu erkennen ist. Dacian befiehlt, Valerius aus dem Saal zu bringen und nun Vinzenz zu foltern ( BHL 8631,6, ed. Saxer, 194 f ). Doch obwohl dieser üblen Qualen ausgesetzt wird, bleibt er stark und unerschüttert, lächelt sogar ob der Folter und bekräftigt, dass er sich dieses Schicksal gewünscht habe, um seinen Glauben bekennen zu können ( BHL 8631,7, ed. Saxer, 195 f). Schliesslich wird er nach umfangreich beschriebenen Martern in einen finsteren Kerker gesperrt, wo er weiterhin gequält wird ( BHL 8631,17, ed. Saxer, 207- 209 ). Die Wärter hören jedoch auf, ihn zu quälen und schlafen ein, woraufhin sich plötzlich ein Lichtwunder im Kerker ereignet und Vinzenz Psalmen zu singen beginnt, um Gott zu ehren ( BHL 8631,18, ed. Saxer, 209 f). Dacian befiehlt daraufhin, dass Vinzenz in ein weicheres Bett gelegt wird, um ihn vor einem glorreichen Märtyrertod zu bewahren und ihm diesen finalen Triumph zu versagen ( BHL 8631,20, ed. Saxer, 212 ). Doch dieser lässt sich nicht mehr abwenden und der Diakon stirbt im Beisein von Gläubigen. Im Anschluss soll der Leichnam des Heiligen vernichtet werden, um ihn wenigstens im Tod zu besiegen, und wird dafür auf ein Feld geworfen, damit er von wilden Tieren gefressen werde, was jedoch von einem Raben verhindert wird, der den Toten beschützt ( BHL 8631,21 f, ed. Saxer, 214 - 217 ). Auf Dacians Befehl heuert der Leichenträger Eumorphius Seeleute an, die den Leichnam ins Meer werfen, doch dieser treibt an Land ( BHL 8631,23 f, ed. Saxer, 219 - 221). Dort findet Vinzenz ein vorläufiges Grab im Sand. Ein 39 Vgl. Meyer, Der heilige Vinzenz von Zaragoza, 96. Von Spanien in die Schweiz 33 Mann wird später von Gott auf die Ruhestätte des Heiligen aufmerksam gemacht, aber eine fromme alte Frau kommt ihm zuvor und entdeckt das Grab ( BHL 8631,25 f, ed. Saxer, 223 - 225 ). Die leiblichen Überreste werden schliesslich von den Gläubigen in eine Kirche gebracht und später unter einem Altar in der Kathedrale von Valencia beigesetzt ( BHL 8631,26, ed. Saxer, 225 f). Vergleicht man die Passio mit Prudentius’ Peristephanon und den Sermones des Augustinus, werden die verbindenden Elemente klar ersichtlich, die Grundzüge der Handlung im Peristephanon und in der Passio BHL 8631 sind deutlich der ‹ originalen Passio › entlehnt. Viel stärker gestaltet sich jedoch die Stilisierung Dacians als Diener beziehungsweise Verkörperung des Teufels, die durchgängig in BHL 8631 auftritt, worin sich ein Element widerspiegelt, das bereits in den frühen Märtyrer_innenakten, etwa der Passio Polycarpi oder der Passio Perpetuae et Felicitatis, auftaucht, wenn der weltliche Richter oder Statthalter als Teufel charakterisiert wird. 40 Gelegentlich tritt dieser Aspekt auch in Augustinus’ Predigten auf, wenn der Tugend des Vinzenz typologisch die teuflische Versuchung gegenübergestellt wird, mit der Dacian identifiziert wird. Eine weitere Version der Passio, BHL 8630, zeigt, wie kreativ-produktiv der Umgang mit den verschiedenen Quellen zu Vinzenz von Saragossa besonders im Frankenreich gewesen ist. Höchstwahrscheinlich entstand diese Fassung in Saint-Germain-des-Prés, 41 wobei diese Kirche ursprünglich dem heiligen Vinzenz von Saragossa gewidmet gewesen ist. So soll diese im 6. Jahrhundert gegründet worden sein, um zwei Reliquien zu beherbergen, die die fränkischen Könige Childebert I. (496 - 558 ) und Chlothar I. (497- 561) bei ihrer Belagerung Saragossas 541 erbeutet hatten : Ein Kreuz des Königs von Toledo und die Stola des heiligen Märtyrer-Diakons. 42 BHL 8630 ergänzt seine Vorlage BHL 8631 aus verschiedenen Quellen und reichert dadurch den Ausgangstext mit zusätzlichen Informationen an, wobei besonders eine intensive sprachliche Überarbeitung unter Rückgriff auf Prudentius’ Peristephanon vorgenommen wurde. Zusätzlich arbeitet der anonyme Verfasser 40 Vgl. Meyer, Der heilige Vinzenz von Zaragoza, 84. 41 Vgl. Saxer, Passion et translation, 257- 260. 42 Vgl. Nelson, The Franks, 68. Bildliche Szenen dieser Belagerung sind ebenfalls erhalten ; vgl. Shepard, The Relics Window, 259. 34 Dominic Bärsch von BHL 8630 die theologische Deutung der geschilderten Ereignisse klarer heraus, indem er auf ihm zur Verfügung stehende Sermones zurückgreift. Ausserdem werden Einzelheiten zur edlen Abstammung des Diakons ergänzt sowie dessen ausserordentliche Bildung hervorgehoben ( BHL 8630,2 ed. Saxer, 300 ), wobei « die edle Herkunft der Heiligen […] ein häufiger Topos in den merowingischen und karolingischen Viten » 43 ist. Aussagekräftig ist ebenfalls der Überlieferungskontext der Passio BHL 8630. 44 Die älteste erhaltene Handschrift des Textes ist im Kodex Paris, BN, lat. 13760 enthalten und wurde in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts in Saint-Germain-des-Prés geschrieben. In diesem Kodex sind ebenfalls, vermutlich jedoch zu einem späteren Zeitpunkt, 45 weitere Texte über den heiligen Vinzenz zusammengebunden, so etwa zwei Sermones des Augustinus und zwei Werke eines Mönches aus Saint-Germain-des-Prés namens Aimoin : Ein Bericht über eine gescheiterte Suche nach Vinzenz-Reliquien für Saint-Germain-des-Prés von 858 n. Chr. und einer über die erfolgreiche Überführung der Gebeine des Märtyrerdiakons nach Castres von 863 n. Chr. Es zeigt sich, dass BHL 8630 deutliche Anknüpfungspunkte an den letzteren Bericht aufweist, da in diesen beiden Texten zum ersten Mal die Namen der Eltern des spanischen Märtyrers genannt werden. Sofia Meyer argumentiert in diesem Zusammenhang überzeugend, dass die beiden Mönche Usuard und Odilard, die die gescheiterte Suche nach Reliquien unternommen hatten, von ihrer Reise zumindest die Version der Passio BHL 8631 mit nach Saint- Germain-des-Prés gebracht haben könnten, da zuvor offenbar keine Fassung dieses Textes dort vorgelegen habe : « Die späte Beschaffung der Quelle würde auch erklären, weshalb die erste Fassung des Martyrologiums Usuards nur Augustinus und Prudentius erwähnt, während die zweite Fassung ausschließlich die Passio anführt.» 46 Im Folgenden soll nun der eigentliche Transfer der Gebeine des heiligen Vinzenz nach Castres beleuchtet werden, wie er im zweiten Translationsbericht Aimoins überliefert ist. Von besonderem Interesse wird dabei sein, wie die Überführung der Gebeine legitimiert wird. 43 Vgl. Meyer, Der heilige Vinzenz von Zaragoza, 104. Meyer vermutet daher, dass die Passio Ende der 850er Jahre oder in den 860er Jahren abgefasst worden ist. 44 Vgl. zum Folgenden die Editionsbemerkungen von Saxer, Passion et translation. 45 Vgl. Decker, Die Membra disiecta, 204 - 206. 46 Meyer, Der heilige Vinzenz von Zaragoza, 111. Von Spanien in die Schweiz 35 4. Von Valencia nach Castres: Die Translation des heiligen Vinzenz im Bericht Aimoins Der Beginn der Translatio datiert in das Jahr 855 zur Zeit Karls des Kahlen (823 -877 ). 47 In diesem Jahr habe Hildebert, ein Mönch von Conques, eine göttliche Eingebung gehabt. Eine Stimme befahl ihm, nach Valencia zu reisen und nach der Grabstätte des heiligen Vinzenz zu suchen. Die Kirche, die sich über dem Grab befand, sei von den Heiden zerstört worden, da die Einwohner Valencias moralisch verkommen seien, und der Leib des Märtyrers sei den Elementen ausgesetzt. Es entspreche dem göttlichen Willen ( Domini voluntas ), den Heiligen an einen Ort des Friedens und der rechtmässigen Anbetung zu bringen. 48 Dabei handelt es sich ganz offensichtlich um eine Autorisierungsstrategie, die den Transfer der Reliquien rechtfertigen sollte. 49 Hildebert überzeugte daraufhin seinen Mitbruder Audaldus, ihn nach Valencia zu begleiten. 50 Allerdings konnte Hildebert wegen einer Erkrankung seinen Auftrag nicht fortsetzen, und sein Begleiter musste mit einem Diener allein weiterreisen. 51 In Valencia half ihnen ein Maure namens Zacharias, das Grab des Märtyrers zu finden, auf dem sich auch die Aufschrift mit den Namen der Eltern, Eutitius und Enola, befand, 52 woraufhin es dem Mönch gelang, die Reliquien zu bergen. Auf dem Weg nach Saragossa gerieten sie jedoch in Verdacht, und Bischof Senior liess den Leib des Märtyrers in die Marienkirche bringen und Audaldus gefangen nehmen. 53 Obwohl er gefoltert wurde, verriet Audaldus nicht, dass es sich bei den heiligen Gebeinen um den Diakon Vinzenz handelte, sondern gab an, dass sie von einem Heiligen namens Marinus stammten. 54 Schliesslich war Audaldus gezwungen, ohne die Reliquien in sein Klos- 47 Aimoin, Inventio sive translatio 1, ed. Saxer, 318. 48 Aimoin, Inventio sive translatio 1, ed. Saxer, 319. 49 Vgl. Meyer, Der heilige Vinzenz von Zaragoza, 179. 50 Aimoin, Inventio sive translatio 2, ed. Saxer, 319 f. 51 Aimoin, Inventio sive translatio 3, ed. Saxer, 320 f. 52 Aimoin, Inventio sive translatio 3, ed. Saxer, 322 : In quo erat super inscriptum, quod illic requiesceret sanctus laeuita et martyr Vincentius. Praeclarorum quoque nomina patris Eutitii, matris vero Enolae. 53 Aimoin, Inventio sive translatio 6, ed. Saxer, 324 f. 54 Aimoin, Inventio sive translatio 7, ed. Saxer, 325 f. 36 Dominic Bärsch ter zurückzukehren, wo man seiner Darlegung der Ereignisse jedoch nicht glaubte und ihn hinauswarf. Das Kloster Conques gab daraufhin seine Ansprüche auf den Leib des spanischen Diakons auf. Achteinhalb Jahre später beschlossen die Mönche von Castres, die Überreste des Märtyrers aus Saragossa zu überführen. 55 Salomo von Cerdanya († 873 ), der enge Beziehungen zu den Mönchen von Castres unterhielt, 56 schloss sich ihnen an, um den Erfolg des Unternehmens zu gewährleisten. So reiste er im Auftrag des Klosters nach Cordoba und behauptete, dass es sich bei den Gebeinen um die seines Vaters handele. 57 Er bestach den Emir, um Bischof Senior dazu zu zwingen, sie freizugeben. So konnte das Unternehmen letztlich erfolgreich durchgeführt werden. Der geschilderte Transfer des Heiligen löste diesen konzeptuell noch einmal entschiedener von seiner ursprünglichen Heimat, die sich seiner - nach der Schilderung Aimoins - nicht als würdig erwiesen hatte. Die neue Ruhestätte des Heiligen zeichnete sich dagegen durch eine intensive Verehrung aus, die sich auch durch die Gründung zahlreicher gallischer beziehungsweise fränkischer Kirchen belegen lässt, die unter dem Patrozinium des heiligen Vinzenz gestanden haben. 58 In diesem Zusammenhang ist es völlig plausibel, dass eine Verbreitung des Heiligenkultes schliesslich auch das Gebiet der heutigen Schweiz erreicht hat, wo sich ab dem 9. Jahrhundert, wie bereits Niederberger gezeigt hat, zahlreiche Kirchen finden, die Vinzenz von Saragossa gewidmet wurden. 59 5. Zusammenfassung und Ausblick Anhand der vorgestellten Texte hat sich gezeigt, dass der Heiligenkult des Vinzenz von Saragossa sich bereits früh von dessen regionalem Bezug gelöst hatte und der spezifisch spanische Märtyrer eine Identifikationsfigur für christliche Tugenden und die Beharrlichkeit im Glauben wurde. Dies wird 55 Aimoin, Inventio sive translatio 8, ed. Saxer, 326 f. 56 Christys, St-Germain-des-Prés, 212. 57 Aimoin, Inventio sive translatio 8, ed. Saxer, 327 f. 58 Vgl. Meyer, Der heilige Vinzenz von Zaragoza, 162 - 175. 59 Vgl. Niederberger, Die Verehrung, 287- 289, sowie den Beitrag von Ueli Zahnd im vorliegenden Band. Von Spanien in die Schweiz 37 schon an der Darstellung des Martyriums im Peristephanon des Prudentius deutlich, verstärkt sich jedoch umso mehr in den Predigten des Augustinus. Beide Textsorten fanden weite Verbreitung und wurden intensiv rezipiert, was auch die Ausbreitung des Kultes begünstigt haben dürfte. Zwar betonen andere Autoren die regionale Zugehörigkeit des Heiligen zu Spanien, wie die kurzen Erwähnungen bei Paulinus von Nola und Venantius Fortunatus zeigen. Dies scheint jedoch keinen Einfluss darauf gehabt zu haben, dass im gallisch-fränkischen Raum bereits früh eine intensive Beschäftigung mit den Reliquien und mit der Passio des Heiligen nachzuweisen ist, von der eine dementsprechende Fülle an Fassungen entstand. BHL 8630 verdeutlicht, wie verschiedene Aspekte aus unterschiedlichen Textsorten genutzt wurden, um Informationen über das Leben des Heiligen zu supplementieren, und auch sprachliche Feinheiten aus der Dichtung des Prudentius rezipiert wurden. Mit der Gründung von Kirchen und Klöstern unter dem Patrozinium des Heiligen, die zunächst mit Berührungsreliquien ausgestattet wurden ( so etwa die Vinzenz-Stola in Saint-Germain-des-Prés ; die bei Gregor von Tours erwähnten Reliquien lassen keinen eindeutigen Schluss zu), intensivierte sich wohl auch die Verehrung des Heiligen und strahlte auf angrenzende Gebiete aus. Spätestens mit der Überführung der Gebeine des Heiligen nach Castres und der damit einhergehenden Legitimierungsstrategie, dass die geistige Heimat des Vinzenz nun im Frankenreich liege, dürfte dies klar zu erkennen sein. Ausgehend von diesem Zentrum der Vinzenz-Verehrung scheint sich der Kult des Märtyrerdiakons auch in das Gebiet der heutigen Schweiz ausgebreitet zu haben, die gerade in der Folgezeit, wie Schreiber proklamiert, als « vincentiusfreundlich » 60 bezeichnet werden kann. 60 Schreiber, Deutschland und Spanien, 43. 38 Dominic Bärsch Literaturverzeichnis Quellen Augustinus von Hippo : Sermones de Vetere Testamento, hg. von Cyrille Lambot ( Corpus Christianorum. Series Latina 41), Turnhout 1961. Augustinus von Hippo : Sermones, hg. von Jacques-Paul Migne ( Patrologia Latina 38 ), Paris 1865. Augustinus von Hippo : Sermo Caillau 1,47, hg. von Germain Morin, in : Miscellanea Agostiniana 1, Rom 1930, 243 - 245. Augustinus von Hippo : Sermo Dolbeau 2, hg. von François Dolbeau als : ders.: « Nouveaux sermons de saint Augustin pour la conversion de païens et des donatistes », in : Revue des Études Augustiniennes 38 (1992 ), 63 - 79. 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