Wir sind schon immer transkulturell gewesen
II. Kapitel Transformationen
Wir sind schon immer transkulturell gewesen - Das Beispiel der KünsteII. Kapitel Transformationen10.24894/978-3-7965-5055-3Wolfgang WelschII. Kapitel Transformationen Ein anderer Typus von Transkulturalität liegt bei Transformationen vor. Hier steht nicht die Eigen-Fremd-Dialektik im Vordergrund, sondern Übernahme, Aneignung und Integration. 1. Die transkulturellen Wurzeln Griechenlands Nehmen wir als erstes Beispiel Griechenland, die sogenannte Wiege des Abendlandes. Lange Zeit hat man geglaubt, die griechische Kultur sei rein aus sich selbst entsprungen. Das ist jedoch falsch. Ohne Ägypten und Vorderasien, Babylonien und Phönizien wäre die Bildung der griechischen Kultur nicht möglich gewesen. 80 Kunstbezogen kann man die Fremdinspiration Griechenlands am Beispiel der Skulptur gut erkennen. Die griechische Plastik basiert auf ägyptischen Vorbildern. Betrachten wir zunächst drei Beispiele ägyptischer Skulpturen, die einen Zeitraum von ca. 1.300 Jahren umspannen. 80 Der transkulturellen Ursprünge Griechenlands war sich schon Hegel bewusst, der darauf hinwies, dass die griechische Kultur sich « aus einem Zusammenfluss der verschiedensten Nationen entwickelt» hat und auf einer « Kolonisation von gebildeten Völkern » beruht, « die den Griechen in der Bildung schon voraus waren » (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. 12, Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1986, 278 u. 281). Die Griechen waren wesentlich « umbildende Bildner»; sie haben vielerlei aufgenommen und weitergeführt (ebd., 294). Neuerdings hat Martin Bernal die ägyptischen und phönizischen Wurzeln Griechenlands ins Rampenlicht gerückt (Martin Bernal, Schwarze Athene : Die afroasiatischen Wurzeln der griechischen Antike, Bd. 1 : Wie das klassische Griechenland « erfunden » wurde [1987], München : List 1992 ). Abb. 4: Ranofer ( Oberpriester von Memphis ), 15. Dynastie (2563 - 2423 v. Chr.), Kairo, Ägyptisches Museum Abb. 5: Ramses II., ca. 1290 - 1224 v. Chr., Kairo, Ägyptisches Museum 54 II. Kapitel Transformationen Abb. 6: Sethos II., ca. 1200 v. Chr., Turin, Ägyptisches Museum Es fällt auf, dass der Darstellungstypus während dieser langen Zeit derselbe bleibt. Die Figuren, die jeweils einen Lendenschurz und Kopfschmuck tragen, zeigen eine völlig gerade aufrechte Haltung, der linke Fuß ist vorgesetzt, die Arme sind fest an den Körper gepresst, die Hände zu Fäusten geschlossen. 1. Die transkulturellen Wurzeln Griechenlands 55 Abb. 7: Dipylon-Meister, Stehender Jüngling aus Attika, gegen 620 v. Chr., New York, Metropolitan Museum of Art Betrachten wir nun, wie die frühe griechische Plastik an diesen ägyptischen Typus anknüpft. Auch hier ist die Haltung statuarisch, der linke Fuß ist vorgesetzt, ebenso ist der Kopfschmuck ähnlich geformt wie bei den ägyptischen Vorbildern. Nur ist die Figur jetzt nackt, die Arme beginnen sich zu lösen, und der Körperbau wird feingliedriger. 60 Jahre später sind die Veränderungen noch immer gering. Aber die Figur wird jetzt heiterer. Dabei nimmt die Lockerung vom Gesicht her ihren Anfang - der Kouros lächelt. 56 II. Kapitel Transformationen Abb. 8: Kouros von Tenea, ca. 560 v. Chr., München, Glyptothek Abb. 9: Kopf des Kouros von Tenea Abb. 10: Grabstatue des Kroisos, gegen 520 v. Chr., Athen, Nationalmuseum Vierzig Jahre darauf ist das stämmige ägyptische Vorbild noch immer erkennbar, aber der Körper gewinnt jetzt an Binnenartikulation ( man betrachte den Brustkorb und die Bauchpartie ). 1. Die transkulturellen Wurzeln Griechenlands 57 Abb. 11: Apollon, Marmorkopie nach einem Bronzeoriginal, vermutlich des Onatas von Aigina, ca. 460 v. Chr., London, British Museum Und dann, nur 60 Jahre später, beginnt von solchen Anfängen her das, was uns bis heute als das Eigentümliche der griechischen Plastik gilt : Die Figur entfaltet sich aus sich selbst, sie folgt nicht mehr einem starren, von außen auferlegten 58 II. Kapitel Transformationen Abb. 12: Apollon, Marmorreplik eines Bronzewerks des Phidias gegen 450 v. Chr., Kassel, Museum Wilhelmshöhe Schema, sondern wird zu einer Manifestation selbstbewussten organischen Lebens. Sie greift aus ihrer eigenen Mitte in den Raum aus und wird ihren Gliedern wie ihrer Bewegung nach zu einer Gestalt der Selbstartikulation. 1. Die transkulturellen Wurzeln Griechenlands 59 Abb. 13: Diadumenos, Marmorkopie nach einem Bronzeoriginal des Polyklet gegen 420 v. Chr., Athen, Nationalmuseum 60 II. Kapitel Transformationen Dieser Übergang von Statik zu Bewegung und Gelöstheit setzt sich in den folgenden Jahrzehnten fort. Das ägyptische Vorbild wird ganz ins Freiheitliche und Spielerische gewendet. Der Kontrapost ( Standbein versus Spielbein ) kann zu geradezu tänzerischer Anmut führen. Ähnlich war übrigens auch die philosophische Entwicklung im alten Griechenland durch einen Übergang von Statik zu Vielfältigkeit und Freiheit gekennzeichnet. Die ältesten griechischen Philosophen, die in Kleinasien lebenden Vorsokratiker, suchten nach asiatischem Vorbild die Einheit der Welt, die tiefliegende Einheit des vordergründig Vielen, und sie bestimmten diese auf verschiedene Weise : als Wasser, Luft, Feuer, Geist etc. In Unteritalien kulminierte diese Ausrichtung schließlich im Einheitsdenken des Parmenides. Aber schon kurz darauf wurde dieses Einheitsgebot aufgebrochen. Parmenidesʼ Schüler Zenon verhalf dem freien und spitzfindigen Geist zum Durchbruch ( man denke nur an das von ihm formulierte Paradoxon, demzufolge der extrem hurtige Achilles nicht imstande ist, eine Schildkröte einzuholen ). Fortan ging es darum, in Rede und Gegenrede komplexe und raffinierte Argumente zu entwickeln, um zu neuen und besseren Antworten zu gelangen. Die Eigendynamik des Geistes hatte sich Bahn gebrochen. Von da an stand der Weg für die große Philosophie in Athen und später anderswo offen. Man kann in der Bewegung der Philosophie die gleiche Tendenz zur Freiheit erkennen wie in der Entwicklung der Skulptur. In beiden Fällen ist jedoch klar : Zur Freiheit der klassischen Periode konnte es nur kommen, weil die ägyptischen bzw. vorderasiatischen Anfänge und Vorbilder aufgenommen und dann verwandelt wurden. Ohne Ägypten und Vorderasien kein Griechenland. Sie gehören zum Genom der griechischen Kultur. Diese ist intrinsisch transkulturell. 2. Europa - ein Importgut aus Phönizien Betrachten wir ein Detail aus dieser transkulturellen Verfassung des antiken Griechenland : den Mythos, dem der Kontinent, den wir heute « Europa » nennen, seinen Namen verdankt. Ovid und andere berichten Folgendes : Europa war die Tochter des phönizischen Königs Agenor und seiner Frau Telephassa. Sie war wunderschön. Als Zeus, der notorische Schwerenöter, von ihrer Schönheit erfuhr, bat er seinen listigen Sohn Hermes, ihm den Weg zu ihr zu bahnen. Hermes riet Zeus, sich in einen Stier zu verwandeln. Als solcher näherte sich Zeus inmitten einer friedlich weidenden Rinderherde der bezaubernden Königstochter. Sie war von der Schönheit des schneeweißen Stieres mit den edelsteinähnlichen Hörnern angetan, zudem fand sie ihn sanft wie ein Lamm. So überwand sie ihre anfängliche Furcht und begann, mit ihm zu spielen, sie legte Blumen in sein Maul und hängte Girlanden über seine Hörner ; schließlich kletterte sie auf seinen Rücken und trab- 2. Europa - ein Importgut aus Phönizien 61 te mit ihm zum Meeresufer hinab. Aber da war es plötzlich mit der Spielerei vorbei, der Stier schwamm mit ihr aufs Meer hinaus - und gar bis nach Kreta. Dort verwandelt er sich in einen Adler und flog mit Europa in die Nähe der Stadt Gortyn, um sich schließlich in seiner wahren Gestalt zu offenbaren und mit ihr zu vereinen. Daraus ging als erster Sohn Minos hervor, dem zwei weitere folgten. Schließlich führte Zeus Europa dem Asterios, dem König von Kreta, zu. Dieser adoptierte die Söhne der Europa, und Minos wurde sein Nachfolger. 81 Warum aber wurde « Europa », wenn die mythische Person dieses Namens nur zur Königin von Kreta wurde, zur Bezeichnung für den Kontinent im Norden von Kreta ? Dafür gibt es bis heute keine wirklich befriedigende Erklärung. Klar ist nur, dass der Kontinent, den wir als Europa kennen, spätestens seit dem 5. vorchristlichen Jahrhundert diesen Namen trug. Der griechische Geschichts- 81 Ausführlich schildert Ovid dies alles in seinen Metamorphosen (II 833 -875 ). Zuvor hatte die Begebnisse schon Moschos, ein griechischer Grammatiker und bukolischer Dichter um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr., in Verse gesetzt. Abb. 14: Die Entführung der Europa, Vasenbild, ca. 480 v. Chr., Tarquinia, Museo Nazionale Etrusco 62 II. Kapitel Transformationen schreiber Herodot ist der Gewährsmann dafür. Er unterschied bereits ganz im heutigen Sinne zwischen Europa, Asien und Afrika. Herodot nennt auch eine weitere Folge der Entführung Europas. Ihr Vater Agenor war untröstlich über den Verlust seiner Tochter und sandte seine Söhne zur Suche nach ihr aus. Zwar konnten sie Europa nicht finden, aber stattdessen brachten sie Griechenland ein eminentes Kulturgut : die Schrift. Deshalb hat man das griechische Alphabet als « phönizische Buchstaben » bezeichnet. 82 Was wäre die hellenische Kultur ohne diese Gabe geworden ? Nichts. Kein Homer, kein Sophokles, kein Platon, kein Aristoteles. Die griechische Kultur war gewiss auch eine Kultur großartiger Redner. Aber was wüssten wir ohne ihre umfangreichen Schriften heute noch von ihr ? Phönizien, das Herkunftsland Europas, war ein kulturell hochentwickelter Landstreifen an der östlichen, also der vorderasiatischen Mittelmeerküste auf dem Gebiet der heutigen Staaten Israel, Libanon und Syrien. Die Schrift, die zur Grundlage sowohl der europäischen als auch der hebräischen und arabischen Schrift wurde, war dort schon im 12. Jahrhundert v. Chr. entwickelt worden. Was also bedeutet die Verschleppung Europas von Vorderasien in den Westen ? Die griechische Kultur war, wie gesagt, keineswegs ein autochthones Gebilde, sondern hat sich aus ägyptischen, babylonischen und phönizischen Quellen genährt. Der Ursprungsmythos Europas vergegenwärtigt - in einer irritierenden Kombination von Entführung und Heimischwerden, von Vergewaltigung und Zuneigung, von Raub und Gabe - einen kulturellen Transfer und das Entstehen eines neuen kulturellen Großraums. Keine eigene Tat, sondern der Raub durch einen Gott steht am Anfang, Gewalt und Unrecht also bilden den Auftakt. Aber dann verwandelt sich die Missetat in Zuneigung, der Raub in Kultur, die Konfrontation in Gemeinsamkeit. Das ist Transkulturalität in ihrer idealen Form. Aber bleibt ein Bewusstsein davon, dass Griechenland durch Phönizien inspiriert wurde ? Bei einem Historiker wie Herodot gewiss. Aber bei den Philosophen, den Politikern, den Intellektuellen ? Da wird die transkulturelle Inspiration eher vergessen. Die Philosophen denken an überzeitliche Wahrheiten, die Politiker an Staatenbünde, die Intellektuellen an die Diskurshoheit. - Gut, dass es den Mythos gibt. Er ist nie ganz ohne Wahrheitsgehalt. Und er bewahrt, was nach seiner «Überwindung » verlorenging. 82 Herodot, Historien, V 58. 2. Europa - ein Importgut aus Phönizien 63 3. Gandhara - ein Scharnier zwischen West und Ost Betrachten wir nach dieser Europa betreffenden Transformationskette eine andere, die für Ostasien entscheidend wurde. Gandhara ist eine Region, die im heutigen Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan liegt. In der Antike bildete die Stadt Peschawar ihr Zentrum. Die Region war damals ein Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen. Zugleich wurde sie zur Ursprungsstätte buddhistischer Kunst. Denn seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. entstanden dort die ersten Bildwerke, die Buddha zeigen. 83 Nun beruht die in Gandhara entstandene Darstellungsweise des Buddha ihrerseits auf einem Transfer, nämlich auf griechisch-römischen Vorbildern. Seit dem Indienfeldzug Alexanders des Großen, im Gefolge der Migrationsbewegungen hellenisierter Völkerschaften sowie durch den Fernhandel des Römischen Reiches mit Indien war die Gegend von Gandhara von griechisch-römischen Kulturelementen durchdrungen. Die Künstler waren mit den Gestalten und Motiven der antiken Bildwelt vertraut und schöpften für die Buddha-Figur aus diesem Fundus. Den Ausgangspunkt bildeten dabei Darstellungen Apolls, und die römische Toga gab das Vorbild für Buddhas Mönchsgewand ab. Bei manchen Darstellungen sitzt Buddha zwischen korinthischen Säulen, und gelegentlich ist Herakles sein Begleiter, wobei dessen Keule durch eine indische Waffe ersetzt wird. Neben der griechisch-römischen Inspiration kam es in Anknüpfung an iranische Lichtgottheiten auch zu einer Verschiebung in der Auffassung Buddhas von der Überwindung der Leidenschaften hin zur tätigen Barmherzigkeit. Über die Seidenstraße, an die Gandhara Anschluss hatte, war der Buddhismus nicht nur von Indien nach Gandhara gelangt, sondern er breitete sich im ersten Jahrhundert in umgekehrter Richtung auch nach China aus, und das nicht nur als religiöse Vorstellung, sondern zugleich in der künstlerischen Ausdrucksform, die er in Gandhara angenommen hatte. Die buddhistische Kunst Ostasiens ist weithin durch die in Gandhara entstandene Darstellungsweise Buddhas geprägt. In den ostasiatischen Buddha-Darstellungen schimmert noch immer deren Muster durch - und das heißt zugleich: das griechische Muster von Apoll und das der römischen Toga. Gandhara, dessen Blütezeit vom 1. bis 5. Jahrhundert dauerte, war fürwahr ein Scharnier zwischen West und Ost - nicht nur in Handelsdingen, sondern auch in puncto Religion und Kunst. Wir haben es hier also mit einer doppelten Transkulturalität zu tun : der in Gandhara entstandene Buddha-Typus ist eine transkulturelle Mixtur von Griechischem und Römischem, Iranischem und Indischem. Und dann hat er sich über ganz Ostasien verbreitet. Nicht nur Buddha ist ein gemeinsamer Nenner der 83 Zuvor war « der Erwachte » nicht bildhaft, sondern nur in Symbolen vergegenwärtigt worden. 64 II. Kapitel Transformationen dortigen Länder, sondern auch sein Bild, sein Aussehen, seine Darstellung verbindet die dortigen Kulturen über alle politischen Grenzen hinweg. Abb. 15: Stehender Buddha, Gandhara, 2.- 3. Jh. n. Chr. 3. Gandhara - ein Scharnier zwischen West und Ost 65 Abb. 16: Sitzender Buddha, Gandhara, 2.- 3. Jh. n. Chr. 66 II. Kapitel Transformationen Die Taliban haben im März 2001 die in Fels gehauenen Buddhastatuen in Bamiyan (die in der Tradition der Gandhara-Kultur standen und weltweit die größten Buddhastatuen überhaupt waren) gesprengt. Sie wollten die vorislamische Vergangenheit des Landes auslöschen. Sie haben die Zeugnisse einer frühen, nahezu kosmopolitischen Vielvölkerkultur zerstört. Aber diese Kultur lebt nicht nur in vielen Werken auf der ganzen Welt, sondern auch aktuell und unauslöschlich in ganz Ostasien fort. Einzelkulturelles kann untergehen, Transkulturelles setzt sich fort. Abb. 17: Buddha Amida Nyorai, Japan, ca. 1490 - 1550 3. Gandhara - ein Scharnier zwischen West und Ost 67 4. China und Japan: Das Fremde wird zum Eigenen Richten wir den Blick nun ausschließlich auf Ostasien und betrachten das Verhältnis zwischen der chinesischen und der japanischen Kunst. Bekanntlich ist die japanische Kultur stark von der chinesischen beeinflusst. Für jemanden, der aus einem anderen Kulturkreis stammt, sind die Unterschiede oft kaum zu erkennen. Vom 6. bis 8. Jahrhundert (in der Asuka- und Nara-Zeit ) hat Japan die Kultur Chinas ( der Sui- und Tang-Dynastie ) weithin aufgenommen. Zuvor, seit dem fünften Jahrhundert, hatte man von den Chinesen bereits die Schriftzeichen übernommen. Nun übernimmt man auch den chinesischen Kalender, errichtet nach chinesischem Vorbild einen Beamtenstaat mit kaiserlicher Zentralgewalt, und der Buddhismus wird zur Staatsreligion. Auch in der Architektur gibt China das Vorbild ab. Nara, die erste japanische Hauptstadt, ist nach dem Muster der chinesischen Hauptstadt Xiʼan schachbrettartig angelegt. Auch die Tempelarchitektur folgt, zumindest auf den ersten Blick, dem chinesischen Vorbild. Wenn man den Hōryū-ji in Nara, den ältesten noch erhaltene n T empel aus jener Zeit erb lickt ( e rstmals 587 - 607 errichtet ), könnte man glauben, ein Stück chinesischer Architektur vor sich zu haben. Abb. 18: Hōryū-ji, 587- 607, Nara ( Japan ) Abb. 19: Qiongzhu-Tempel in Kunming ( China, Provinz Yunnan ), erbaut vor 1300 Erst auf den zweiten Blick bemerkt man Unterschiede. Die Dächer japanischer Tempel sind weniger « aufgeregt » ( weniger stark geschwungen), als dies bei den chinesischen Tempeln üblich ist. Dadurch entsteht der Eindruck einer Harmonie zwischen Schwere und Leichtigkeit, zwischen Schweben und Ruhen. Vor allem aber brechen die Japaner mit dem chinesischen Prinzip der strikt symmetrischen Anlagengestaltung. Beim Hōryū-ji stehen zwei ungleichartige Gebäude, der Haupttempel (Kondo ) und die Pagode, nebeneinander. Eine derartige Asymmetrie findet sich in keiner chinesischen Tempelanlage. 68 II. Kapitel Transformationen Abb. 20: Hōryū-ji, Grundriss, Nara Abb. 21: Himmelstempel, 1420, Grundriss, Beijing Abb. 22: Hōryū-ji, Kondo und Pagode Dadurch, dass Haupttempel und Pagode durch einen den Hof umgrenzenden Umgang zusammengebunden sind, wird die Wirkung der Asymmetrie noch verstärkt. Für die japanische Tempelarchitektur ist - anders als für die chinesische - 4. China und Japan: Das Fremde wird zum Eigenen 69 die rhythmische Aufeinanderfolge von ähnlichen, aber keineswegs gleichen Formen charakteristisch. Asymmetrie, Einfachheit und Natürlichkeit sind Kennzeichen, welche die japanische Kunst auch in den folgenden Jahrhunderten von der chinesischen unterscheiden. Gewiss bleibt China vielfach das Vorbild, beispielsweise in der Malerei bis zur Abschottung Japans in der Edo-Zeit (1603 - 1867 ). Aber es gibt doch immer auch eine japanische Note. Das fremde Vorbild wird subtil japanisiert. Zwar stimmt es nicht, wie oft behauptet wird, dass Japan gar nichts Eigenes hervorgebracht habe. Das Nō-Spiel, die Haiku-Gedichte, die Ukiyo-e -Grafik haben keine chinesischen Vorbilder. Aber die japanische Kultur ist doch eigentümlich fähig zur Aufnahme von Fremdem, das man in Eigenes verwandelt. Die Substanz ist oftmals chinesisch, aber die Anmutung, die Atmosphäre, die Erscheinung ist deutlich japanisch. Wie wenn man das Fremde auf eigene Weise verpackt und dadurch zu einem Eigenen gemacht hätte. ( Und wie großartig ist die japanische Kunst der Verpackung selbst im einfachsten Ladengeschäft.) Abb. 23: Teeschale aus Kanazawa, Präfektur Ishikawa ( Japan ), Berlin, Humboldt-Forum 70 II. Kapitel Transformationen Vielleicht kommt das Folgende dem ästhetischen Geheimnis Japans nahe : Was immer übernommen wird, es wird sanften, aber wirkungsvollen Maßnahmen der Vereinfachung, der Natürlichkeit, der Unvollkommenheit und der Asymmetrie unterzogen, und so entsteht im Endeffekt, was immer der Ausgangsbestand gewesen sein mag, eine japanische Anmutung. Das ästhetische Prinzip des wabi-sabi hat eine derartige Überformung zum Kern : nicht der simpel-strahlende Glanz der Sonne, sondern der gebrochene Glanz des Mondes oder der von leichtem Moos überzogene Fels oder der Teekessel, der schon etwas Rost angesetzt hat, sind in einem tiefen Sinne schön - schöner als das vordergründig Schöne. Man hat es hier also mit einer Transkulturalität zu tun, die das Fremde nicht verleugnet, sondern sanft in Eigenes transformiert. Und die ihre Freude an diesem Doppelspiel hat. Genau genommen, gibt es nichts Fremdes. Wenn man nicht auf der Opposition von Eigenem gegen Fremdes beharrt, vermag alles Fremde ein Eigenes zu werden. Kommen wir noch einmal auf den Hōryū-ji zurück. Ryōsuke Ōhashi, ein großer Kenner der japanischen Ästhetik und Kultur, hat festgehalten, dass ein Japaner des 7. Jahrhunderts diesen Tempel wohl unweigerlich als Manifestation einer anderen, der chinesischen Kultur ansehen musste. Wohingegen heute jedermann in ihm ein exemplarisches Monument der japanischen Kultur erblickt. 84 - Das eben ist Transkulturalität : das Eigene ist das Fremde, das Fremde ist das Eigene. Bleiben wir noch einen Moment bei diesem sehr besonderen Verhältnis der japanischen Kultur zu Fremdem. Betrachten wir eine Anekdote. Ein europäischer Besucher wird von seinen Gastgebern in Kyōto zum Mittagessen in ein, wie sie sagen, typisch japanisches Restaurant eingeladen. Als man sich zu Tisch setzt, ist der Europäer verwundert, denn die Stühle sind die gleichen, die er zu Hause stehen hat : das Modell Cab, designt von Mario Bellini und hergestellt von Cassina in Mailand. Unsicher fragt er, ob hier wirklich alles genuin japanisch sei. Die Gastgeber sind über die Frage erstaunt und versichern eifrig, in diesem Restaurant sei alles ganz japanisch. Als die Vorspeise serviert wird, steigert sich die Irritation des Besuchers, denn die Teller sind ebenfalls die gleichen, die er zu Hause hat: aus der Serie Suomi, die der finnische Designer Timo Sarpaneva entworfen hat und die in Deutschland von Rosenthal produziert wird. Natürlich wagt er nicht, die Frage, ob hier tatsächlich alles genuin japanisch sei, noch einmal zu stellen. So viel Höflichkeit hat er inzwischen von den Japanern gelernt. 84 Vgl. Ryōsuke Ōhashi, Kire - Das ‹ Schöne › in Japan. Philosophisch-ästhetische Reflexionen zu Geschichte und Moderne, Köln : DuMont 1994, 33. 4. China und Japan: Das Fremde wird zum Eigenen 71 Abb. 24: Mario Bellini, Cab 412, Mailand, Cassina Abb. 25: Timo Sarpaneva, Suomi, Rosenthal Er braucht Jahre, bis er die Episode versteht. Offenbar ist für die Japaner die Frage, wo ein Produkt entwickelt wurde oder wo es herstammt, unerheblich. Für sie kommt es nur darauf an, ob das Produkt mit ihrem eigenen Geschmack übereinstimmt. Wenn das der Fall ist, dann ist es japanisch - egal wo es herstammt. Auch wenn es vom Nordpol oder vom Mond käme, wäre es japanisch. Nicht der Ursprung zählt oder die Herkunft, sondern der Stil und die Anmutung. Ob die Stühle und die Teller europäisch oder japanisch sind - was für eine dumme Frage. Sie passen zu uns, sie gefallen uns - also sind sie japanisch. 85 Das ist ein ganz besonderer Typus von Transkulturalität. Er entsteht durch die Inklusivität des Eigenkulturellen. Was wiederum eben deshalb möglich ist, weil nicht die Herkunft, sondern der Stil die entscheidende Bezugsgröße ist. Unter seiner Maßgabe kann Fremdkulturelles Eigenkulturelles sein. Auf diese Weise können Errungenschaften anderer Kulturen in der leichtesten und selbstverständlichsten Weise integriert werden. Ein Stadtpalast kann in seiner Fassadenstruktur ganz japanisch sein und sich in seinen Fensterbildungen zugleich am florentinischen Palazzo Ruccellai orientieren sowie eine Balkonöffnung à la Frank Lloyd Wright aufweisen. Das alles geht unter der Leitung eines feinen Ge- 85 Vgl. Wolfgang Welsch, « Offen und geschlossen - japanische Impressionen», übers. Hiroshi Okabayashi und Ichiko Chiba, Sonderbeitrag zu : Hiroshi Okabayashi, Contemporary Art of Japan - Transculture, Tokyo : Maruzen, 1998, 191-212. 72 II. Kapitel Transformationen schmacks aufs Selbstverständlichste zusammen. Die Transkulturalität hat hier nichts Aufgesetztes oder Demonstratives, sondern verschiedene kulturelle Elemente werden ganz leicht, ohne Härte, in sanften Übergängen verbunden. - Man hat es mit einer Transkulturalität zartester Vereinnahmung zu tun. 4. China und Japan: Das Fremde wird zum Eigenen 73