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Anmutung

Anmutung 162 10.24894/HWPh.162 Albert Wellek
Psychologie Anmutungsqualität Zumutesein Komplexqualität Gestimmtheit Befindlichkeit Artungsqualitäten1 328 Fühldenken1 328
Anmutung, meist auch ‹A.-Qualität› (von Mut [engl. mood], Zumutesein), ist ein im Rahmen der Kruegerschen Theorie der Komplexqualitäten [1] von dessen Schülern eingeführter Spezialbegriff zur Bezeichnung farbig diffusganzheitlicher «gefühlsartiger» Eindrücke oder Erlebnisweisen mit (oft kaum merklichem) Einfluß auf die Gesamt-Gestimmtheit des Erlebenden. Sie sind von «physiognomischer Bedeutsamkeit» und werden daher auch als «physiognomische» Qualitäten gefaßt. Sie spielen in der Wahrnehmungs-, Gefühls- und Ausdruckspsychologie, sodann für die Entwicklungspsychologie eine entscheidende Rolle.
Schon Th. Lipps spricht in seiner Ästhetik [2] davon, daß der Betrachter sich «von dem Gegenstande lust- oder unlustvoll ‹angemutet› fühle», als Reaktion auf die «Zumutung» eben des sinnlichen Gegenstandes oder Reizes an ihn. Dieses Angemutet- oder «Berührtwerden» durch den Gegenstand wird dem «Zumutesein» des Subjekts theoretisch gegenübergestellt und geht faktisch in dieses ein. Statt «Zumutesein» (so bei Krueger) wird bei Lipps zunächst «(Ich-)Zuständlichkeit», bei Krueger und späteren Autoren auch «Gestimmtheit» und «Befindlichkeit» gesagt. Eine erste Definition und theoretische Aufgliederung der A.-Qualität gibt Kruegers Schüler Dürckheim 1932 [3]: Die «Ganzqualitäten», mit denen z.B. «der physiognomisch erlebte Raum ... den Erlebenden anspricht» oder «berührt», «das erlebende Subjekt in bestimmter Weise ‹anmutet› ... bezeichnen wir daher ... als ‹A.-Qualitäten› oder ‹A.-Charaktere›. Wir unterscheiden an solchen ‹A.-Qualitäten›: Artungsqualitäten, Stimmungsqualitäten und Stellungsqualitäten.» Die «Artungsqualität» eignet einer Gegebenheit (z.B. Umraum) durch ihr objektives, wenn auch subjektbezogenes Sosein im Erleben; die «Stimmungsqualität» ist die Farbe (vom Subjekt verfärbbar), die an diesem Sosein für uns hängt; die «Stellungsqualität» ist die Weise, wie wir uns zu dieser Gegebenheit (z.B. Umraum) «stellen», sie sich zu uns «stellt» [4]. ‹A.› ist hiernach ein binnenpsychologischer Beschreibungsbegriff mit funktionalen Implikationen, wobei die Einheit von Empfindung (Wahrnehmung) und Gefühl vorausgesetzt wird. Definitionen, die den neurophysiologischen Aspekt der gefühlshaften Beeindruckung betonen oder eine funktionale Trennung von Wahrnehmung und Gefühl unterstellen [5], werden vom ganzheitspsychologischen Standpunkt aus als «objektivistisch» abgelehnt.
Während noch Lipps den Subjekt-Objekt-Gegensatz allgemein und auch für das Ausdrucks- und Kunsterleben als fundamental voraussetzt, ist dieser nach ganzheitspsychologischer Auffassung im unreflektierten Erleben – und ein solches ist das A.-Erleben ex definitione – nicht immanent oder thematisch. Eben deshalb ist diese Art subjekt-objekt-neutralen Erlebens beherrschend auf onto- wie phylogenetisch frühen Stufen. Das Kleinkind lebt und «denkt» «physiognomisch», in A. Aber auch das von H. F. Hoffmann so genannte «Fühldenken» des Erwachsenen wird von Wellek als ein «A.-Denken» eingeordnet [6]. Eine A.-Qualität ist u.a. auch die «Bekanntheitsqualität» der Gedächtnispsychologie. Eine sehr differenzierte Aufgliederung, aber auch Ergänzung in Richtung auf Komplexqualitäten der Verhaltens erfahren die A.-Qualitäten gleichfalls im Rahmen der Krueger-Schule durch H. Volkelt und A. Rüssel[7] in der Annahme von Tuns-, Funktions-, Umgangsqualitäten u. dgl. Umgangsqualitäten bieten sich nicht allein im Umgang mit Gegenständen (z.B. spielend beim Kind), sondern werden auf Grund solchen Umgangs zu «Gegenstandsbeschaffenheiten» [8]. Was Volkelt als «Seins-(besser: Soseins-)qualität» anspricht, entspricht der Dürckheimschen Artungsqualität als einer Unterart oder Seite der A.-Qualitäten. Die Umgangs- und Funktionsqualitäten werden von Volkelt mit den schon von N. Ach für die Willens-(Handlungs-)psychologie angenommenen «Gefügigkeitsqualitäten» in Parallele gesetzt [9]. Auch in der objektivierenden (messenden) Ausdruckspsychologie sprechen W. H. Müller[10] für die Graphologie, P. R. Hofstätter[11] für die Physiognomik von «A.-Qualitäten».
Zur Einteilung dessen, was er «Gestalt-Eigenschaften» nennt, spricht auch der Gestalttheoretiker W. Metzger von «A.-Weisen», die er den «Wesenseigenschaften» nach Klages zurechnet. Metzger definiert die «A.-Weisen» als die «Gruppe von Eigenschaften, die ... das ... Verhältnis zwischen dem Wahrnehmungsgegenstand und dem Wahrnehmenden – und zwar genauer seine eigentümliche Wirkung auf diesen – betreffen» [12]. In gleichem Sinne spricht auch Lersch von «A.-Erlebnissen» wie auch von «Angemutetwerden», welches beides seinen Ort im «endothymen Grund» hat [13]. Die «physiognomischen» Erlebnisweisen nach H. Werner[14], zumal beim Kinde, meinen das gleiche, ebenso die «atmosphärischen Qualitäten» nach Mühle/Wellek[15]. Nicht ohne weiteres damit gleichzusetzen ist das, was v. Allesch als «Allgemeingegebenheit» einführt [16].
[1]
F. Krueger: Zur Philos. und Psychol. der Ganzheit, hg. E. Heuss (1953).
[2]
Th. Lipps: Ästhetik 2 (1906) 16.
[3]
K. von Dürckheim: Untersuchungen zum gelebten Raum. Neue Psychol. Stud. 6 (1932) 441.
[4]
Dazu A. Wellek: Der Raum in der Musik. Arch. ges. Psychol. 91 (1934) 433f.; Musikpsychol. und Musikästhetik (1963) 327f.
[5]
W. Hehlmann: Wb. der Psychol. (3o.J.) 22; F. Dorsch und W. Traxel: Psychol. Wb. (61959) 18.
[6]
A. Wellek: Die Polarität im Aufbau des Charakters (31966) 207.
[7]
H. Volkelt: Grundfragen der Psychol. (1963) 94ff. 113ff.; A. Rüssel: Zur Psychol. der optischen Agnosien. Neue psychol. Stud. 13 (1937) 8ff. («Primitivqualitäten»).
[8]
a.a.O. 101f.
[9]
a.a.O. 94; N. Ach: Über Gefügigkeitsqualität. Ber. 11. Kongr. exp. Psychol. Jena 1930; Ach u. Mitarb.: Finale Qualität (Gefügigkeit) und Objektion (1932).
[10]
Wilh. H. Müller: Über die Objektivität von A.-Qualitäten in der Handschrift. Psychol. Beitr. 3 (1957) 364ff.
[11]
P. R. Hofstätter: Objektive Methoden zur Erfassung von A.-Qualitäten, in: Exakte Ästhetik 3/4 (1966) 47ff.
[12]
W. Metzger: Psychol. (21954) 64f.
[13]
Ph. Lersch: Aufbau der Person (31951) 14f. 67.
[14]
H. Werner: Einf. in die Entwicklungspsychol. (31953) 44f. 79; Grundfragen der Sprachphysiognomik (1932); A. Wellek: Das Laut-Sinn-Problem und die Entwicklungspsychol. der Sprache. Phonetica Suppl. ad 4 (1959) 6ff.
[15]
G. W. Mühle und A. Wellek: Ausdruck, Darstellung, Gestaltung. Stud. gen. 5 (1952) 115.
[16]
G. J. von Allesch: Über das Verhältnis des Allgemeinen zum realen Einzelnen. Arch. ges. Psychol. 111 (1942) 23ff.
K. von Dürckheim s. Anm. [3]. –A. Wellek: Ich und Gegenstand, A. und Abstraktion, in: Die Wiederherstellung der Seelenwiss. im Lebenswerk F. Kruegers (1950); Ganzheit, Gestalt und Nichtgestalt, in: Gestalthaftes Sehen, hg. F. Weinhandl (1960); Allg. Probleme der Semantik und Symbolik. Ber. 25. Kongr. Dtsch. Ges. Psychol. 1966 (1967) und in: Wirklichkeit der Mitte: A. Vetter zum 80. Geburtstag, hg. J. Tenzler (1968). –G. W. Mühle und A. Wellek s. Anm. [15].