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Antithetik

Antithetik 210 10.24894/HWPh.210Norbert Hinske
Rhetorik und Argumentationstheorie Antithese Thetik1 417 Gewissheit1 417 Widerstreit1 417 Verfahren, analytisches/synthetisches1 418 analytisch/synthetisch1 418 Entgegensetzung1 417 Dialektik, transzendentale
1. Der Begriff der A., abgeleitet vom griechischen ἀντίθεσις[1], ist allem Anschein nach erst durch Kant zu einem spezifisch philosophischen Terminus geworden. Davor findet er sich vereinzelt als Adjektiv in der antiken Rhetorik [2] und Skepsis. Häufiger zitiert wird im 18. Jh. eine Stelle aus den ‹Grundzügen der Pyrrhonischen Philosophie› des Sextus Empiricus, in der von einer δύναμις ἀντιθετικὴ φαινομένων τε καὶ νοουμένων (einem Vermögen der Entgegensetzung von Wahrgenommenem und Gedachtem) die Rede ist [3].
Eine wichtige Rolle spielt der Terminus in der kontroverstheologischen Literatur des 17. und 18. Jh. So stellt schon Johann Wilhelm Bajer in seiner ‹Collatio› die strittigen Auffassungen mit Hilfe der stereotyp wiederkehrenden Überschriften ‹Thesis› und ‹Antithesis› derart gegeneinander, daß die linke Spalte jeder Seite die katholische Lehrmeinung (die Thesis), die rechte die protestantische (die Antithesis) wiedergibt [4]. Einen eindrucksvollen Beleg für den kontroverstheologischen Gebrauch des Terminus liefert das ‹Collegium Anti-Theticum› von Paulus Antonius, das eine durchdachte und interessante Theorie der A. enthält [5]. Thema seines ‹Collegiums› sind die verschiedenen «Religions-Streitigkeiten» [6], wie sie in den «Collegiis Polemicis» [7] zur Diskussion stehen. Es heißt «antitheticum», «weil darin eigentlich Antithesis gezeiget, aber auch refutieret ist» [8]. Es heißt «fundamentale», weil «bei einem jeglichen Artikul die Fundamenta der Antitheseos offensivae aller bekannten Religions-Parteien, und der dawider zu führenden Antitheseos defensivae» aufgedeckt werden [ ]. Die A., von der hier gehandelt wird, ist nun aber für Antonius keineswegs eine zufällige, bloß historisch zustande gekommene, sondern erwächst mit innerer Notwendigkeit: «saltim subindicat thesis antithesin» (zumindest offenbart die Behauptung unter der Hand die Gegenbehauptung). Deshalb sind «alle libri thetici auch mit antithetici» [9]. Der Grund für diese innere und notwendige Verknüpfung von Thesis und Antithesis liegt in dem «korrumpierten Verstände und Willen» des Menschen [10]: «weil man die Erb-Sünde in sich hat», hat «ein jeder alle haereses in seinem Busen zu suchen» [11]. – Vermutlich in unmittelbarer Abhängigkeit von Antonius hat noch Franz Albert Schultz 1741–1746 an der Königsberger Universität unter dem Titel ‹Theologia Thetico-Antithetica› Vorlesungen gehalten; dieses Dogmatikkolleg hat auch der junge Kant besucht [12].
[1]
Vgl. Platon, Soph. 257 e/f.
[2]
Vgl. Demosthenes, XXI Argumentum II, 9.
[3]
Sextus Empiricus, Hyp. Pyrrh. 1, 4, 8.
[4]
J. W. Bajer: Collatio doctrinae pontificiorum et protestantium (1686).
[5]
P. Antonius: Collegium Anti-Theticum universale fundamentale. Nach der in den Thesibus Breithauptianis befindlichen Ordnung der theol. Materien Anno 1718 und 1719 gehalten, hg. Joh. Ulrico Schwentzel (1732).
[6]
a.a.O. Vorrede des Hg. §§ 1. 3.
[7]
a.a.O. Vorrede des Hg. § 5.
[8]
a.a.O. Vorrede des Hg. § 15.
[9]
a.a.O. 6.
[10]
a.a.O. 5.
[11]
a.a.O. 3; vgl. 7f. 19 u.ö.
[12]
G. Hollmann: Prolegomena zur Genesis der Religionsphilos. Kants. Altpreuß. Mschr. NF 36 (1899) 48ff.
2. Im Felde der Philosophie gelangt der Begriff der A. vor Kant bereits bei Alexander Gottlieb Baumgarten zur Anwendung: in seiner Nachlaßschrift ‹Philosophia generalis› ist das zweite Kapitel, das von der philosophischen Gewißheit handelt, in die beiden Abschnitte ‹Thetica› und ‹Antithetica› eingeteilt [1]. Dabei untersucht der erste Abschnitt (über ‹das Thetische›), was Gewißheit heißt und unter welchen verschiedenen Bedingungen sie zustande kommt, der zweite (über ‹das Antithetische›) erörtert Erscheinungsformen und Geschichte des Skeptizismus. ‹Thetik› bedeutete demgemäß soviel wie Lehre von der Gewißheit, ‹Antithetik› soviel wie Lehre vom Zweifel oder Theorie des Skeptizismus. Doch tritt der Terminus bei Baumgarten nur als dekorativer Titel begriff auf: In den Ausführungen des Kapitels ist weder von Thetik noch von A. die Rede. – Dagegen finden sich, von der Sache her gesehen, wichtige Überlegungen zu einer Theorie der A. in der Einleitung des Herausgebers Johann Christian Förster. Als vierte (dem eigenen Zeitalter kongeniale) Form des Zweifels nennt Förster den Fall, daß die Gründe auf beiden Seiten «gleich schwer sind» [2]: «ubi, ad utramque partem quando aeque gravia momenta deprehenduntur, neque unum verum, neque alterum falsum statuit aequus rationum aestimator» (wo der gerechte Beurteiler der Gründe weder das eine als wahr noch das andere als falsch hinstellt, weil für beide Seiten gleich schwere Beweggründe gefunden werden) [3].
[1]
A. G. Baumgarten: Philos. generalis. Edidit cum dissertatione prooemiali de dubitatione et certitudine Joh. Christian Foerster (1770, Nachdruck 1968) 19ff.
[2]
a.a.O. diss. prooemialis § 6.
[3]
a.a.O. diss. prooemialis § 2.
3. Bei Kant erscheint der Begriff der A. im Rahmen der transzendentalen Dialektik, und zwar bei Behandlung des Antinomieproblems – allem Vermuten nach ist er zugleich derjenige Begriff, von dem Kants Theorie der Dialektik, ‹entwicklungsgeschichtlich› betrachtet, ihren Ausgang genommen hat. Kant gebraucht die Begriffe ‹antithetisch› und ‹A.› ähnlich wie Antonius, Schultz und Baumgarten als Gegenbegriffe zu ‹thetisch› bzw. ‹Thetik› [1]. Während er dabei unter ‹Thetik› einen «Inbegriff dogmatischer Lehren» versteht, definiert er A. in weitester Bedeutung als den «Widerstreit» von irgendwelchen «dem Scheine nach dogmatischen Erkenntnissen (thesin cum antithesi), ohne daß man einer vor der andern einen vorzüglichen Anspruch auf Beifall beilegt». Die A. im allgemeinen «beschäftigt sich also» bei Kant – im Unterschied zu Antonius – «gar nicht mit einseitigen Behauptungen, sondern betrachtet allgemeine Erkenntnisse ... nur nach dem Widerstreite derselben unter einander und den Ursachen desselben» [2].
Eine derartige A. findet Kant nun auch im Felde der Metaphysik, und zwar der cosmologia transscendentalis. Dort stehen sich z.B. in der sogenannten ersten Antinomie die Thesis: «Die Welt hat einen Anfang in der Zeit» und die Antithesis: «Die Welt hat keinen Anfang», mit gleich guten oder schlechten Gründen bewiesen, antithetisch gegenüber [3]. Diese A. ist eine «ganz natürliche» (nicht künstlich ersonnene) und «unvermeidliche» A., sofern sie in bestimmten, gegenläufigen Gesetzen der Vernunft (der Antinomie im engeren Sinne) ihre Wurzeln hat [4]. Sie ist aber andererseits für Kant eine bloß «scheinbare A.», da sie «auf einem Mißverstande», der Verwechslung von Ding an sich und Erscheinung, beruht [5].
Die Ursachen und Konsequenzen dieser A. im Felde der reinen, rationalen, a priori argumentierenden Philosophie erforscht die transzendentale A.: diese ist daher «eine Untersuchung über die Antinomie der reinen Vernunft, die Ursachen und das Resultat derselben» [6]. – Einen abweichenden Sprachgebrauch zeigt Kants handschriftlicher Nachlaß, wo mit transzendentaler A. gelegentlich nicht die Frage nach den apriorischen Gründen der Möglichkeit von so etwas wie A., sondern einfach die natürliche A. der überlieferten Transzendentalphilosophie (= Metaphysik) gemeint ist [7].
[1]
Kant, Reflexionen 4985. 4929. 4938. Akad.-A. 18, 51f. 31. 35.
[2]
KrV (21787) 448.
[3]
a.a.O. 452ff.
[4]
a.a.O. 433f.
[5]
a.a.O. 768.
[6]
a.a.O. 448.
[7]
Reflexion 4985. a.a.O. [1] 52.
N. Hinske: Kants Begriff der Antinomie und die Etappen seiner Ausarbeitung. Kantstudien 56 (1966) 485–496. –G. Tonelli: Kant und die antiken Skeptiker, in: Studien zu Kants philos. Entwicklung. Studien und Materialien zur Gesch. der Philos. Bd. 6, hg. H. Heimsoeth u.a. (1967). –N. Hinske: Kants Weg zur Transzendentalphilos. Der dreißigjährige Kant (1969).
4. Eine völlig neue, vom traditionellen Sinn von A. weithin losgelöste Bedeutung gewinnt der Terminus bei Fichte, bei dem das Adjektiv ‹antithetisch› in verschiedenen Verbindungen (antithetische Handlung, antithetisches Verfahren, antithetisches Urteil) im Kontext seiner Wissenschaftslehre auftaucht. Es bezeichnet hier eine ursprüngliche Handlung des Ich, und zwar diejenige, durch die das Ich «etwas sich entgegen» setzt [1]. Das antithetische Verfahren (das von Fichte mit dem analytischen gleichgesetzt wird) meint dementsprechend ganz allgemein diejenige «Handlung, da man in Verglichenen das Merkmal aufsucht, worin sie entgegengesetzt sind» [2]; ihm steht das synthetische Verfahren gegenüber, das darin besteht, «daß man in Entgegengesetzten dasjenige Merkmal aufsuche, worin sie gleich sind» [3]. Auch die geläufig gewordene Dreiteilung von thetisch, antithetisch und synthetisch ist in diesem Zusammenhang bereits bei Fichte zu finden [4].
Norbert Hinske
[1]
J. G. Fichte: Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen (11795) § 2, 1. Ausgewählte Werke in 6 Bd., hg. F. Medicus 1 (1962) 527.
[2]
Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (11794) § 3. a.a.O. 1, 307.
[3]
ebda.
[4]
Grundriß des Eigentümlichen ... § 2, II. a.a.O. 529.