Apeiron (
τὸ ἄπειρον, das Unbegrenzte, Unendliche). Das A. wird in der griechischen Philosophie erstmals als Prinzip aller Dinge angesetzt von
Anaximander, welcher lehrt, daß die seienden Dinge aus dem A. heraus entstehen und auch wieder in das A. hinein vergehen
[1]. Dieses A. kann, gerade weil es keine bestimmte und begrenzte Substanz ist, wie etwa das Wasser des Thales, unendlich viele als Götter aufgefaßte Welten aus sich entstehen und wieder in sich vergehen lassen
[2]. Dennoch darf es wahrscheinlich nicht nach
Aristoteles und den ihm folgenden antiken Berichten als passive Materie verstanden werden
[3], da nach einem andern Zeugnis des Aristoteles, welches nach Ansicht der neueren Forschung echtes Gedankengut des Anaximander enthält, das A. nicht nur unsterblich, unentstanden und unvergänglich ist, sondern auch als das Göttliche schlechthin alles umfaßt und alles lenkt
[4].
In der übrigen Vorsokratik außer bei Anaximander und von ihm abhängigen Denkern (
Anaximenes, Diogenes von Apollonia[5], welche die Luft als unendlich bezeichnen), wird das A. selten als das oberste, alles umfassende und lenkende Prinzip angesetzt, denn zu sehr ist für den Griechen wahres Sein und göttliche Unsterblichkeit mit begrenzter Gestalt und Form identisch, wie das besonders deutlich im Seinsbegriff des Eleaten
Parmenides zur Geltung kommt
[6], wobei freilich
Melissos von Samos das eleatische Sein dennoch als A. interpretieren kann
[7].
Eine Unendlichkeit anderer Art, nämlich im Sinne der unendlichen Erstreckung in der Zeit bzw. im Raum muß man in der Lehre von der Weltperiodik, d.h. in der Lehre von der immer neuen, unbegrenzt fortdauernden Entstehung von Welten nach zyklischem Gesetz und Rhythmus bei
Anaximander[8],
Heraklit[9],
Empedokles[10] bis hin zur alten, mittleren und späteren
Stoa[11] einerseits und in der Lehre vom Aufbau der physischen Welt aus unendlich vielen Grundbestandteilen, den Homöomerien bei
Anaxagoras[12] sowie den Atomen bei
Leukipp und
Demokrit[13], andererseits erblicken.
Daß Unbegrenztheit und Unbestimmtheit im griechischen Denken vorwiegend negativ bewertet wird, geht vor allem aus der
pythagoreischen Tafel der zehn Gegensatzpaare als der Elemente und Prinzipien alles zahlenhaft bestimmten Seienden hervor, wo die
Grenze (
πέρας) mit dem Einen und Guten, das
Unbegrenzte (
ἄπειρον) aber mit dem Vielen und Schlechten zusammen auf derselben Seite der Liste erscheint
[14].
In gewisser Übereinstimmung mit dieser Bewertung steht
Platons Lehre vom A.: Im ‹Philebos› unterscheidet er vier Arten des Seienden im Gesamtaufbau der Welt, nämlich Unbegrenztes (A.), Grenze, die Mischung von beidem und die Ursache dieser Mischung, und er kennzeichnet das A. dort näher als all das, was der bestimmten Zahl- und Maßverhältnisse sowie der Größe ermangelt, hinsichtlich des Grades fließend ist und in seinem Werden ein Mehr wie auch ein Weniger, ein Sehr wie auch ein Wenig aufweist, z.B. das Kältere und das Wärmere
[15]. Wenn man dazu die Aussage des ‹Timaios› vergleicht, daß der göttliche Demiurg (der göttlichen Vernunft als Ursache der Mischung im ‹Philebos› vergleichbar) die ungeordnete präkosmische Materie (das A. des ‹Philebos›) mittels Zahlen und Formen (der Grenze im ‹Philebos›) zu einem möglichst Schönen und Guten aus einem nicht so Beschaffenen heraus gestaltet
[16], dann erkennt man, daß auch für Platon das A. im Sinne des Ungeordneten und Unbestimmten einen negativen Aspekt erhält. Indirekte Berichte vor allem des
Aristoteles über Platons Prinzipienlehre wollen nun noch wissen, daß
Platon das A. nicht nur in den Sinnendingen, sondern auch in den Ideen als Materialprinzip wirksam sein ließ und daß er statt des
einen A., welches er wie die Pythagoreer als für sich bestehende Substanz und nicht als Attribut von etwas ansetzte, eine
Zweiheit von Unbegrenzten, nämlich die unbegrenzte Zweiheit des Großen und des Kleinen, annahm
[17]. Diese Lehre vom A. in den Ideen wird vielleicht von Platon selbst bereits in der zweiten ideen-dialektischen Hypothese seines ‹Parmenides› angedeutet
[18], aber sicher hat er das A. in den Ideen nicht als dualistisch von unten gegen das Eine-Gute als Formalprinzip wirkendes Materialprinzip aufgefaßt
[19], sondern mehr als ideelles Urbild des Unbegrenzten im sinnlich Wahrnehmbaren. Ob diese Lehre vom A. als Materialprinzip der Ideen nun echt platonisch ist oder nicht, jedenfalls hat sie in der späteren Tradition des Platonismus und des Neupythagoreismus eine Fülle ähnlicher Spekulationen nach sich gezogen
[20],
Nach
Aristoteles gibt es kein substantiell für sich bestehendes A., wie er es den Pythagoreern und Platon zuschreibt
[21], noch gibt es für ihn einen unendlichen sinnlich wahrnehmbaren Körper, da der Körper seiner Ansicht nach als das durch eine Oberfläche Begrenzte definiert ist
[22]. Aber nicht nur das: auch dort, wo es nach ihm Unbegrenztheit durch Vergrößerung (Hinzufügung: Prosthesis) oder durch Verkleinerung (Unterteilung: Dihairesis) gibt, nämlich bei Zahlen bzw. bei räumlichen Größen, kann es für ihn keine aktual wirklich seiende Unbegrenztheit, sondern nur Unbegrenztheit der Möglichkeit nach geben
[23], und dasselbe gilt auch von der Unbegrenztheit der Zeit und der Bewegung (die Welt hat nach Aristoteles, obwohl räumlich als das Größtmögliche begrenzt, weder zeitlichen Anfang noch zeitliches Ende, sondern ist wie die Bewegung in ihr ewig)
[24]. Da also die unbegrenzte Erstreckung in räumlicher Unterteilung, in arithmetischer Vergrößerung sowie in Zeit und Bewegung nur ein Potentielles ist und da es kein vollendet wirklich seiendes Unendliches (A.) gibt
[25], kann das A. für Aristoteles nur eine Materialursache (nicht aber eine Formal-, Bewegungs- oder Zweckursache) sein, kann es nur eine Art Nicht-Sein als Abwesenheit von Begrenzung haben und ist nichts substantiell für sich Bestehendes, sondern kommt dem kontinuierlichen sinnlich Wahrnehmbaren lediglich als Eigenschaft zu
[26].
Das Vorherrschen der Begrenzung in der Bestimmung des aktual wirklichen Seins bei Aristoteles hat sich auch in der
Stoa insofern fortgesetzt, als für sie die Welt als Ganzes begrenzt und nur der leere Raum unendlich (ein A.) ist
[27], während für
Epikur zum Teil im Anschluß an die Atomisten sowohl der leere Raum als auch das All der Dinge wie die Anzahl der Elementarkörper und die Zahl der Welten unendlich sind
[28].
Als Wesensbestimmung Gottes oder des höchsten Prinzips gewinnt der Begriff des A. erst im
kaiserzeitlichen Platonismus seine volle Bedeutung, wenn man nicht das A. des Anaximander, das unendliche Sein des Melissos und eine Bemerkung Platons, wonach das von aller Vielheit freie absolut Eine unendlich sei
[29], als die Vorläufer dieser Wesensbestimmung ansehen will. Bereits
Philon von Alexandrien kann die Vollkommenheit Gottes als seine Unendlichkeit auffassen
[30], und vollends
Plotin bezeichnet das vollkommen Eine und Gute als unendlich in seiner allverursachenden Kraft
[31]. Von der Unendlichkeit des Einen-Guten ist bei ihm zu unterscheiden die Unendlichkeit der Ideen und Zahlen im göttlichen Geist als der Ursache zweiten Ranges, wobei er diese Unendlichkeit, der Tradition der indirekten Berichte über Platons Ideen- und Prinzipienlehre folgend, als intelligible Materie interpretiert
[32]. Daneben kennt er auch die unendliche Teilbarkeit der Körper
[33] und bezeichnet die der sinnlich wahrnehmbaren Welt zugrunde liegende Materie ebenfalls als unbegrenzt, allerdings in höherem Maße als etwa die intelligible Materie, nämlich im Sinne der am wenigsten vereinheitlichten Vielheit
[34].