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Aseität

Aseität 285 10.24894/HWPh.285 Dietrich Schlüter
Metaphysik ursprungslos anarchos (ἄναρχος)1 537 essentia Dei metaphysica1 538 a se ab alio
Aseität, gebildet von lateinisch ‹aseitas›, bezeichnet das Durch-sich-sein oder das Von-sich-her-sein (esse a se) als den von nichts anderem abhängigen, jede wirkende Ursache ausschließenden Selbstand Gottes im Gegensatz zur Seinsweise dessen, was als Verursachtes seinen Bestand «von anderem her» hat (esse ab alio).
Seit den Anfängen in der Patristik gilt in der christlichen Theologie als unbetrittene Lehre, daß Gott keine Ursache seines Seins hat: Der Schöpfer selbst ist «ursprungslos» (ἄναρχος) [1] und «ungezeugt» (ἀγέννητος) [2].
Bei Anselm von Canterbury findet sich erstmals der Versuch, aus dem Gegensatz von «durch sich selbst» (per seipsum) und «durch etwas anderes» (per aliud) die Natur des «höchsten Seienden» zu bestimmen. In ausdrücklicher Verneinung eines Bewirkenden, eines Stoffes oder irgendeines Hilfsmittels ist Gott «durch sich selbst und aus sich selbst all das, was er ist» [3].
Die Ersetzung der Differenz «per seipsum – per aliud» durch die Formulierung «a se – ab alio» bei Johannes Duns Scotus[4] dürfte kaum mehr als eine nur sprachliche Änderung sein. Sachliche Bedeutung kommt auch dem wahrscheinlich in der skotistischen Schule [5] geprägte Terminus ‹aseitas› bis zum 17. Jh. nicht zu. Das Wort wird in Indizes zu Werken von Duns Scotus, Ockham, Capreolus, R. Lullus, Nicolaus Cusanus, Cajetan, Suáreznicht aufgeführt.
Größeres Gewicht erhielt der Begriff ‹A.› erst anläßlich der seit der Barockscholastik unter dem Stichwort «essentia Dei metaphysica» in der Theologie behandelten Frage nach jenem Grundattribut Gottes, welches ihn für unsere Erkenntnisweise 1. am meisten von allem Geschöpflichen unterscheide und 2. die Möglichkeit biete, die übrigen göttlichen Eigenschaften logisch abzuleiten [6].
Während in der skotischen Schule die Unendlichkeit, von mehreren Thomisten die Geistigkeit als die «metaphysische Wesenheit» Gottes behauptet wurde, setzten sie andere Theologen in das subsistierende oder aus sich bestehende Sein (ens a se) [7]. Dafür trat wahrscheinlich erst seit dem 18. Jh. der Terminus ‹aseitas› [8]. Der Begriff der ‹A.› als eigentliche Kennzeichnung des Wesens Gottes fand vor allem in der Neuscholastik nahezu allgemeine Anerkennung [9]. In seinem Durch-sich-sein ist Gott zuerst und unmittelbar von der Schöpfung verschieden [10].
Gegenüber dem Einwand, der Begriff ‹A.› besage im strengen Sinne nur, Gott habe keine Ursache seines Seins und bringe somit bloß eine Verneinung zum Ausdruck [11], wurde darauf hingewiesen, daß im Durch-sich-sein unmittelbar die notwendige Existenz, die absolute Wirklichkeit und die unendliche Vollkommenheit Gottes eingeschlossen sei [12]. Die Interpretation der A. als Selbstverwirklichung oder Selbstsetzung Gottes [13] stieß auf heftige Kritik [14].
Der Begriff der A. läßt sich für die deutsche Schulphilosophie des 18. Jh. (Wolff, Crusius, Baumgarten) nicht nachweisen, ebenso nicht für Kant und Hegel. Schopenhauer spricht von der «A. des Willens» [15], Ed. v. Hartmann von der «A. der Substanz» [16].
[1]
Tatian, Adv. Graec. c. 4. MPG 6, 813.
[2]
Irenaeus, Contr. haer. IV, 38, n. 1. 3. MPG 7, 1105. 1108.
[3]
Anselm von Canterbury, Monologion c. 6.
[4]
Joh. Duns Scotus, Tractatus de Primo Principio 3, cond. 4, hg. M. Müller (1941) 45f.; Rep. Paris. I, d. 2, q. 2, n. 4. Ed. Vivès 22, 64; Lect. in lib. I Sent. I, d. 2, P. 1, q. 2. Ed. Vatic. 16, 126; a.a.O. q. 3. 16, 151; Ordinat. 1 d. 2, p. 1, q. 2. Ed. Vatic. 2, 164f. 170f.
[5]
Belegt bei: Hieronymus de Montefortino: Ven. Joan. Duns Scoti ... S. theol. I, 3, 4 ad 1 (Neudruck Rom 1900) 101.
[6]
Zur Fragestellung vgl. Fr. Suárez: Tract. de divina substantia I, 2, n. 1–2. Opera omnia (Paris 1854) I/1, 5f.
[7]
Übersicht bei: W. Brugger: Theol. nat. (21964) 263f.
[8]
«aseitas» als «essentia Dei metaphysica» belegt bei: F. C. R. Billuart: Summa St. Thomae ... I, Diss. II, art. 1, § 1ff. (1747, Neudruck Paris o.J.) 41ff.; Theol. Wirceburgensis (1766–1777) II, disp. I, c. 2, art. 4 (Neudruck Paris 1852) 38f.
[9]
J. Kleutgen: Die Theol. der Vorzeit 1 (21867) 226–236; J. B. Heinrich: Dogmat. Theol. 3 (21883) 322–351; A. Lehmen/H. Lennerz, Lehrb. der Philos. 3: Theodizee (4/51923) 148–154.
[10]
Heinrich, a.a.O. 336.
[11]
Billuart, a.a.O. [8] 43; vgl. G. Feldner: Die sogenannte A. Gottes als konstitutives Prinzip seiner Wesenheit. Jb. Philos. u. spekulative Theol. 7 (1893) 421–440.
[12]
J. A. Becker: Art. ‹Gott›, in: Wetzer/Welte, Kirchenlex. 5 (21888) 869ff.
[13]
Vgl. H. Schell: Kleinere Schriften (1908) 206–211.
[14]
Lit. bei J. Pohle/J. Gummersbach: Lehrb. der Dogmatik 1 (101952) 205.
[15]
A. Schopenhauer: Über den Willen in der Natur. Werke, hg. A. Hübscher (1946–1950) 4, 142; vgl. Reg. Stichwort ‹A.›.
[16]
Ed. v. Hartmann: Kategorienlehre (1896) 527f.
J. Pohle/J. Gummersbach s. Anm. [14] 201ff. –W. Brugger s. Anm. [7] 263ff. (dort weitere Lit.).