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Begehren, Begierde

Begehren, Begierde 409 10.24894/HWPh.409 Ute Schönpflug
Psychologie Begierde Vorstellung desire
Begehren, Begierde. Die Begriffe ‹Begehren› (B.) und ‹Begierde› gehörten in den Psychologien früherer Jh. zu den grundlegenden motivationspsychologischen Konzepten. Vor allem diente der Begriff ‹B.› als Sammelbegriff für alles Antriebsgeschehen; ‹B.› bezeichnete das allgemeine dynamische Prinzip im Bereich des Seelischen und wurde den Erkenntnisfunktionen und dem Fühlen gegenübergestellt; darüber hinaus begegnete man dem Begriff ‹B.› auch in enger Bedeutung als Bezeichnung für eine bestimmte Art motivationalen Geschehens. Als Unterscheidungsmerkmale zu anderen Antriebsformen werden hervorgehoben: 1. Im Unterschied zum Wollen liegt beim B. ein Mangel an Kontrolle durch die Vernunft vor; 2. im Unterschied zum Drang wird dem B. eine klare Zielvorstellung zugeschrieben, 3. im Unterschied zum Trieb wird das B. im Bewußtsein repräsentiert. Sowohl für die umfassende als auch für die enge Bedeutung von ‹B.› findet man ‹Streben› u. ‹Begierde› als Synonyma.
1. Die psychologischen Fachtermini ‹B.› oder ‹Begierde› leiten ihre Bedeutungen aus den vorwissenschaftlichen Psychologien und philosophischen Analysen psychologischer Sachverhalte ab. Die sehr umfassende Bedeutung der Begriffe im Sinne eines dynamischen Prinzips kann einerseits an Aristoteles, andererseits an Chr. Wolff anknüpfen. Aristoteles spricht von B. als dem «bewegenden» Prinzip der Psyche, es entsteht aus gefühlshaften Vorstellungen [1]. Wolff nimmt ein generelles B.-Vermögen an, welches er den Gefühlen und dem Erkenntnisvermögen gegenüberstellt. Wenn auch sein Vermögensbegriff heftig kritisiert wurde, so hatte seine Einteilung der Seelenvermögen doch weitreichende Wirkung auch auf die Psychologie des 19. Jh. [2].
Die umfassende Bedeutung von ‹B.› finden wir vor allem wieder bei Herbart[3], Höfler[4] und nachfolgend bei Strümpell[5]. Herbart definiert B. als eine Vorstellung, die «wider eine Hemmung aufstrebt» [6]. B. entsteht durch Absinken einer Vorstellung unter die Bewußtseinsschwelle; die Vorstellung wirkt dort als Kraft und versucht, die Schwelle zu überschreiten. B. als unspezifiziertes Antriebsgeschehen umfaßt bei Herbart Triebe, Sehnsüchte, Leidenschaften usw. Der Begriff wird bei ihm zuweilen durch ‹Streben› ersetzt. Für ihn ist B. immer eine Bewegung in Richtung auf ein Ziel, doch kann dieses Ziel durchaus auch von negativem Wert für das Individuum sein, wie z.B. bei Gegenständen, die den Reiz der Neuheit haben [7]. Bei Herbart liegt dem B. jedoch nicht die Dimension Aufsuchen-Meiden zugrunde, die bereits früher von v. Volkmar und später von zahlreichen anderen Psychologen als Grunddimension allen Antriebsvorgängen zugeschrieben wird. Ganz im Sinne Herbarts definiert Strümpell ‹B.› als jene «Seelentätigkeit, worin eine Vorstellung trotz der auf sie ausgeübten Hemmungen im Bewußtsein im Gemüte aufstrebt und sich gegenwärtig erhält», indem sie über andere Vorstellungen dominiert [8]. Höflers B.-Begriff beinhaltet alle Formen von Antrieben und Antriebserlebnissen. Auch das Wollen ordnet er dem B.-Vorgang unter, wenn er es auch als vollkommenste Art des B. verstanden wissen möchte [9]. Hier verwendet er ‹B.› noch umfassender als Herbart, der geneigt ist, dem Willen eine Sonderstellung zuzugestehen, weil er nicht nur dem Lustprinzip, sondern auch ethischen Prinzipien unterworfen ist [10].
2. Der Begriff des B. oder der Begierde im Sinne einer bestimmten Form des Antriebs findet sich bereits bei v. Volkmar[11]. In seiner Psychologie taucht die aristotelische Ableitung des B. aus gefühlsbetonten Vorstellungen wieder auf; er konkretisiert sie dahingehend, daß die Verstandestätigkeit des Vorstellens den Gegenstand des Lustgefühls vorgibt. B. bedeutet für Volkmar eine Bewegkraft, die im Gegensatz zum Trieb an eine Zielvorstellung gebunden ist. Das B. ist eine sekundäre Kraft, die ihre energetisierende Wirkung vom Trieb her erhält. B. ist durch die Verbindung mit der Vorstellungstätigkeit eine höhere Form des Antriebsgeschehens, welches ihm die Richtung, den ‹Inhalt› gibt. Die Parameter ‹Stärke› und ‹Rhythmik› werden unmittelbar von der Triebkraft bestimmt [12].
Zu den Psychologen, die das B. als dem Trieb übergeordnete Antriebsart definieren, gehören weiterhin Wundt, Höffding und Külpe. W. Wundt unterscheidet als niedrigstes motivierendes Agens den Trieb. Mittels Zielvorstellungen wird aus der Triebkraft B. Indem das B. in Kontakt zur Außenwelt tritt, d.h. die Handlung vorbereitet, wird es zum Streben. B. geht in Wollen über, wenn intellektuelle Beweggründe hinzutreten [13]. In anderem Zusammenhang betont er ebenfalls, daß B. eine Vorstufe des Wollens sei, er macht aber gleichzeitig deutlich, daß er B. und Wollen als zeitlich aufeinander folgende Vorgänge verstanden wissen möchte: B. bedeutet ein vorbereitendes Stadium, «die Gefühlslage eines gehemmten Wollens» [14]. Bei Höffding findet sich eine ähnliche Auffassung. B. stellt ein sekundäres Phänomen gegenüber dem Trieb dar, es hebt sich von ihm ab durch die Kontrolle, die die Vorstellungen über die Triebkraft ausüben [15]. Für Külpe sind Begierde und Abneigung Triebformen, die eine Ähnlichkeit mit den Affekten aufweisen [16].
In der angloamerikanischen Psychologie werden die Begriffe ‹B.› oder Begierde (desire) zur gleichen Zeit in unterschiedlicher Bedeutung verwendet. Es herrscht aber der enge Sinngehalt des Begriffes vor. So definiert McDougall B. als einen in seinem Ablauf gehinderten starken Trieb, der Anlaß zu den von ihm so benannten B.-Gefühlen gibt. Diese sind abgeleitete (im Gegensatz zu primären) Emotionen, die im Verlauf der Wirksamkeit eines fortgesetzten B. entstehen. Er unterscheidet prospektive von retrospektiven B.-Emotionen. Als Beispiele für die prospektiven Emotionen nennt er Vertrauen, Hoffnung, Enttäuschung, für die retrospektiven führt er Bedauern, Reue, Leid an [17]. McDougall bezieht sich in seinen Ausführungen auf Shand[18]; dieser nimmt eine erbmäßig festgelegte Disposition zu B.-Gefühlen an, eine Auffassung, die McDougall jedoch verwirft. In enger Übereinstimmung mit dem traditionellen B.-Begriff in der deutschen Psychologie steht die Definition Stouts. In seinem ‹Manual of Psychology› [19] beschreibt er das Wirken der B. als eine Kraft, die von bewußten Ziel vor Stellungen ausgeht und andere Vorstellungen nach sich zieht. Höhere Formen des B. können demnach nur durch die Fähigkeit zu komplexen Vorstellungssequenzen (bei ihm: Gedanken) möglich werden.
In der neueren psychologischen Literatur tauchen die Begriffe ‹B.› und ‹Begierde› nur vereinzelt auf. So findet man ‹B.› bei Rohracher in seiner Theorie des Willens als Unterkategorie des Strebens. B. ist immer auf ein Ziel gerichtet, welches eine starke Lustbetonung aufweist. Gerade diese Herrschaft des Lustprinzips ist nach Rohracher die unterscheidende Komponente zu den Willens Vorgängen [20]. ‹Begierde› drückt nach Rohracher im Unterschied zu ‹B.› einen unlustvollen Zustand des Individuums aus, ein sehr starkes Erleben der Dringlichkeit der Zielerreichung [21]. Das Wort ‹B.› begegnet bei Rohracher vor allem im Zusammenhang mit der Abhandlung von Fragen der Sexualität. Klages ordnet das B. ebenfalls den Strebensvorgängen unter. B. ist für ihn gekennzeichnet durch zwei entgegengesetzte Kräfte: die auf das Ziel gerichtete Triebkraft und die Staukraft (seelischer Widerstand). Die Resultante dieser beiden Kräfte ergibt die Stärke des B. [22].
Die Begriffe ‹B.› und ‹Begierde›, auch die Termini ‹Drang›, ‹Streben› usw. sind Unterscheidungen von Antriebsformen, die einer phänomenologischen Betrachtungsweise psychologischer Sachverhalte entstammen. In der gegenwärtigen Psychologie ist an ihre Stelle die funktionale Analyse psychologischer Probleme getreten. Daraus ergibt sich der Verzicht auf introspektiv unterscheidbare Antriebsformen zugunsten der Annahme eines einheitlichen Antriebssystems, welches meist mit dem umfassenden Begriff der (Motivation) belegt wird. Zuweilen wird auch (Bedürfnis) oder (Trieb) bzw. (Antrieb) in diesem Sinne verwendet [23].
[1]
Aristoteles. De anima II, 3, 414 b 4; II, 3, 414 b 66; III, 9, 432 b 6.
[2]
Chr. Wolff: Psychol. empirica (1732); Psychol. rationalis (1734).
[3]
J. F. Herbart, Werke, hg. Kehrbach 4, 339ff.; 5, 217; 6, 53ff.
[4]
A. Höfler: Psychol. (1897).
[5]
L. Strümpell: Grundriß der Psychol. (1884).
[6]
Herbart, a.a.O. [3] 6, 254.
[7]
6, 83.
[8]
Strümpell, a.a.O. [5] 94.
[9]
Höfler, a.a.O. [4].
[10]
Herbart, a.a.O. [3] 6, 264.
[11]
W. V. Ritter v. Volkmar: Lehrb. der Psychol. vom Standpunkte des Realismus und nach genetischer Methode (1876) 386ff.
[12]
a.a.O. 401.
[13]
W. Wundt: Grundzüge der physiol. Psychol. 3 (61911) 221ff.
[14]
a.a.O. 227.
[15]
H. Höffding: Psychol. (21893) 325.
[16]
O. Külpe: Grundriß der Psychol. (1893).
[17]
W. McDougall: Grundlagen einer Sozialpsychol. (211928) 279.
[18]
A. F. Shand: Foundations of character (London 1914).
[19]
G. F. Stout: A manual of psychol. (London 31921) 705f.
[20]
H. Rohracher: Theorie des Willens auf exp. Grundlage. Z. Psychol. Erg.Bd. 21 (1932).
[21]
a.a.O.
[22]
L. Klages: Grundlagen der Charakterkunde (1936) 111f.
[23]
H. Thomae: Das Wesen der menschl. Antriebsstruktur (1944); Die Bedeutungen des Motivationsbegriffes, in: Hb. der Psychol. 2: Motivation (1965) 3–44.