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Betrugstheorie

Betrugstheorie 457 10.24894/HWPh.457 Ruth Dölle-Oelmüller
Religionswissenschaft und Religionsphilosophie Priesterbetrug
Betrugstheorie. Das religionskritische Argument vom Priesterbetrug begegnet schon in der Antike. Bei Kritias heißt es z.B., daß «ein schlauer und gedankenkluger Mann die Götterfurcht den Sterblichen erfunden» habe als «Schreckmittel» für die Schlechten: «So, denke ich, hat zuerst einer die Sterblichen dazu bestimmt, zu glauben, es gebe das Geschlecht der Götter» [1]. Auch Cicero spricht bei der Erörterung differierender Deutung der Auspizien durch die Auguren davon, daß «man eingestehen muß, hiervon beruhe ein Teil auf Irrtum, ein Teil auf Aberglauben, vieles auf Betrug» [2].
Die B. im engeren Sinn, die Judentum, Christentum und Islam als Werk dreier Betrüger kritisiert, setzt den Vergleich und die Kritik dieser Religionen voraus und erreicht ihren Höhepunkt erst in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jh. In freigeistigen islamischen Kreisen des 10. Jh. werden Moses, Jesus und Mohammed als die drei großen Betrüger bezeichnet: «In dieser Welt haben drei Individuen die Menschen betrogen, ein Hirt, ein Arzt und ein Kameltreiber» [3]. Die B. wurde in Europa durch die Kreuzzüge bekannt. Gregor IX. beschuldigte Friedrich II., die Äußerung von den drei Betrügern gemacht zu haben. Darauf wurden Friedrich II., Averroes, Machiavelli, Hobbes und fast alle Religionskritiker bis zum 18. Jh. der Autorschaft einer Schrift ‹De tribus impostoribus› verdächtigt, die wahrscheinlich in diesen Jh. nie existiert hat. Erst um die Wende des 17. und 18. Jh. entstanden zwei solche Werke: Das eine, ‹De tribus impostoribus›, dessen Verfasser und Erscheinungsjahr nicht sicher feststehen, übt scharfe Kritik an Moses, Jesus und Mohammed. Das nach 1687 von Johannes Joachim Müller verfaßte Werk ‹De imposturis religionum breve compendium› wurde 1753 unter dem Titel ‹De tribus impostoribus› mit der irreführenden Jahreszahl 1598 herausgebracht. Vom Standpunkt der natürlichen Religion des Deismus aus wird vor allem an Aussagen des Alten und Neuen Testamentes nachgewiesen, daß der Vorwurf des Betrugs gegen die drei Offenbarungsreligionen auf dem Boden der ‹gesunden Vernunft› nicht entkräftet werden kann.
In der französischen Aufklärungsliteratur wird ohne ausdrücklichen Bezug auf den Vergleich und die Kritik der drei Offenbarungsreligionen das Argument des Priesterbetrugs oft wiederholt. Nach dem Artikel ‹Prêtres› in der ‹Encyclopédie› verfolgen die Priester ihre eigenen egoistischen Interessen: «les prêtres surent mettre à profit la haute opinion qu'ils avoient fait naître dans l'esprit de leurs concitoyens; ... Pour établir plus sûrement leur empire, ils peignirent les dieux comme cruels, vindicatifs, implacables» [4]. In gleicher Weise greift Helvétius Klerus und Kirche an: Sie scheuten kein Mittel, die Vernunft zu betrügen, um die Menschen zu unterwerfen: «Pour se soumettre la raison humaine, il falloit que Dieu parlât par sa bouche; il le dit et on le crut» [5]. In noch schärferer Form nimmt Holbach in seiner Kritik der Religion und Kirche das Argument des Betrugs auf: Die Religion beschränke die Freiheit des Geistes durch die bewußte Irreführung der Vernunft, die «von Menschen betrogen» wird, «denen es ... seit langem gelungen ist, die ganze Welt zu unterwerfen» [6]. Condorcet zeichnet das Bild einer künftigen Zeit der absoluten Freiheit und Vernunftherrschaft, in der «es Tyrannen und Sklaven, Priester und ihre stumpfsinnigen oder heuchlerischen Werkzeuge nur noch in den Geschichtsbüchern und auf dem Theater geben wird» [7].
Die deutsche Aufklärung gebraucht das Argument des Priesterbetrugs in milderer Form. Thomasius z.B. kritisiert die Hexenprozesse und diejenigen, die «sich enthalten solchen Betrügereyen öffentlich zu widerstehen» [8]. Reimarus kritisiert, ausgehend von seinem Begriff der natürlichen Religion, die überlieferte Offenbarung als Betrug. Für die klassische deutsche Philosophie sind die Religionskritik der Aufklärung und die B. unzureichend. Gegen die Kritik des Deismus wendet sich Lessing. Wenn die drei Offenbarungsreligionen nicht mehr die «Wunderkraft» besitzen, «vor Gott und Menschen angenehm» zu machen, dann wären nach den Worten des Richters in der ‹Ringparabel› «alle drei betrogene Betrüger» [9].
Nach Hegels Deutung der Religion als einer Weise der Offenbarung des absoluten Geistes sind es «absurde Vorstellungen, daß Priester dem Volke zum Betrug und Eigennutz eine Religion überhaupt gedichtet haben u.s.f.; es ist eben so seicht, als verkehrt, die Religion als eine Sache der Willkühr, der Täuschung anzusehen» [10]. Für Karl Rosenkranz sind B. «höchst merkwürdige Denkmale» des 17. und 18. Jh. für die Deutung der Religion vom «modernen Skeptizismus und Materialismus» aus [11]. Auch für Engels können mit der B. der Ursprung und die geschichtliche Wirkung der christlichen Religion nicht mehr zureichend erklärt werden [12]. Nietzsche allerdings bezeichnet die Religion als «fromme Lüge der Priester und der Philosophen». Ihre Wirkung sei «die ärgste Verstümmelung des Menschen, die man sich vorstellen kann» [13].
[1]
Kritias, Frg. B 25.
[2]
Cicero, De div. II, 83.
[3]
Zit. nach J. Presser: Das Buch ‹De tribus impostoribus› (Von den drei Betrügern) (1926) 5.
[4]
Encyclop., hg. Diderot/d'Alembert (21780) 27, 346.
[5]
Helvétius: De l'homme, de ses facultés et de son éducation. Oeuvres (Paris 1795) 5, 98.
[6]
Holbach, Briefe an Eugénie, dtsch. v. F.-G. Voigt (1959) 58f.
[7]
Condorcet, Entwurf einer hist. Darstellung der Fortschritte des menschl. Geistes, dtsch. W. Alff (1963) 355.
[8]
Thomasius, Über die Hexenprozesse, überarb. R. Lieberwirth (1967) 177.
[9]
Lessing, Werke, hg. P. Rilla (1954–1958) 2, 408; zu Reimarus und Lessing vgl. W. Oelmüller: Die unbefriedigte Aufklärung. Beiträge zu einer Theorie der Moderne von Lessing, Kant und Hegel (1969) 35–102.
[10]
Hegel, Werke hg. Glockner 17, 94.
[11]
K. Rosenkranz: Der Zweifel am Glauben. Kritik der Schriften: De tribus impostoribus (1830) 88.
[12]
F. Engels: Bruno Bauer und das Urchristentum, in: K. Marx/F. Engels, Über Religion, hg. Inst. f. Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (1958) 155.
[13]
Nietzsche, Musarion-A. 18, 110. 112.
De tribus impostoribus, anno mdiic – Von den drei Betrügern 1598 (Moses, Jesus, Mohammed), hg. G. Bartsch, dtsch. R. Walther (1960).