Chorismos (griech.
χωρισμός) ist ein weit verbreiteter Begriff zur – vielfach kritischen – Charakterisierung des
Platonismus: Zwischen den Ideen als dem eigentlich Seienden und den Einzelseienden am Rande des Nichtseins bestehe eine scharfe «Trennung», die auch die Teilhabe (
μέθεξις, participatio) nicht überbrücken könne. Vernunft und Wirklichkeit seien auseinandergerissen, die Wahrheit von dieser Welt getrennt. Damit sei die sinnfällige reale Welt sinnentleert, nur noch das Wesenlose, das die Vernunft außer sich habe.
Platon selbst kennt diesen Begriff nicht; das Wort ‹C.› kommt bei ihm nur einmal und in anderem Zusammenhang vor (Phaid. 67 d 9). Auch
χωρίς (getrennt) ist bei ihm keineswegs eine typische Vokabel für das Einzelding-Idee-Verhältnis (Parm. 129 d 7ff. wird die Ideenlehre bewußt simplifiziert); sie dient im Gegenteil oft zum Ausdruck der Negation der Teilhabe an bestimmten Ideen
[1].
Aristoteles setzt zwar seine Kritik Platons gerade am Einzelding-Idee-Verhältnis an, doch ist das Substantiv ‹C.› auch bei ihm nicht der einschlägige Zentralterminus. Freilich verwendet er recht oft das Verbum
χωρίζειν (absondern) und das Adverb
χωρίς (getrennt): Die Platoniker hätten das Allgemeine abgesondert (
ἐχώρισαν) und es Ideen genannt
[2]; nach ihnen bestehe das Allgemeine «getrennt neben den Einzeldingen» (
παρὰ τὰ καθ᾽ ἕκαστα χωρίς)
[3]; sie machten die Ideen «zu einer Art von abgesonderten und einzelnen Dingen» (
ὡς χωριστὰς καὶ τῶν καθ᾽ ἕκαστον)
[4].
Die sich in Aussagen dieser Art ausdrückende massive Kritik des Aristoteles an Platon hat die
Neuplatoniker nicht daran gehindert, Aristoteles und Platon viel enger beieinander zu sehen, als wir es heute gewohnt sind. Ihr Philosophieren bietet deshalb nicht die Voraussetzungen für eine weitere Verfestigung des kritischen aristotelischen Platonverständnisses, dessen Ausdruck ein Terminus ‹C.› gewesen wäre. Weder
Plotin[5] noch
Proklos[6] kennen das Wort in dieser Bedeutung, ebenfalls nicht die neuplatonischen Aristoteleskommentatoren
[7].
Dagegen wird die aristotelische Kritik Hauptquelle für die Interpretation der platonischen Ideen als «ideae (species, formae) separatae» im
Mittelalter, so etwa bei
Thomas von Aquin: «Platon nahm für alle Dinge abgesonderte Ideen an ... So nahm er auch eine abgesonderte Idee (ideam separatam) des Seienden und eine des Einen an ... auf Grund der Teilhabe an ihnen wird ein jedes ‹seiendes› oder ‹eines› genannt ... Diese Meinung dürfte in der Hinsicht unvernünftig sein, daß er abgesonderte, für sich bestehende Ideen (species separatas per se subsistentes) der Naturdinge annahm, wie Aristoteles vielfach darlegt»
[8]. Ein solches Verständnis war um so leichter möglich, als dem Mittelalter als direkte Quelle für Platons Teilhabelehre nur der ‹Phaidon›, ein Teil des ‹Timaios› (31 c–53 c) und der ‹Parmenides› bis
zum Ende der ersten Hypothese (142 a 8) vorlagen, Texte also, die – isoliert betrachtet – die aristotelische Interpretation ermöglichen.
Der Rückgriff auf das griechische Substantiv
χωρισμός, seine Terminologisierung und zentrale Anwendung auf Platon im oben angegebenen Sinne ist erst neueren Datums. Noch
Hegel verwendet es weder bei der Darstellung der platonischen noch der aristotelischen Philosophie
[9]. Ebensowenig findet es sich bei den großen
Philosophiehistorikern des 19. Jh., selbst dann nicht, wenn sie, wie etwa
Brandis[10], Platons Ideenlehre weitgehend von Aristoteles her darstellen.
Nach Ausweis der Texte dürfte der Terminus ‹C.› nach 1900 zunächst im
Umkreis der Neukantianer üblich geworden sein.
Natorp verwendet ihn – noch beiläufig – in seinem Platonbuch
[11],
Cassirer in seiner Darstellung der ‹Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon›
[12], dann aber vor allem
E. Hoffmann. Für Hoffmanns betont «dualistisches» Platonverständnis ist der ‹C.› unverzichtbarer Zentralbegriff: «Wir müssen, um den genuinen Platonismus auffassen zu können ..., gerade mit dem C. anfangen»
[13]. Seine Arbeiten dürften Hauptquelle der gegenwärtigen Verbreitung des C.-Begriffes sein.