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Chthonismus

Chthonismus 560 10.24894/HWPh.560 Eike Haberland
Religionswissenschaft und Religionsphilosophie Schulen, Strömungen und Positionen Erde Religion, chthonische Mutter Erde
Chthonismus (von griech. χθών, Erde). Der Begriff gehört in den Bereich der Religionsphilosophie und Ethnologie; er stellt die personifiziert gedachte Erde (Erdmutter) in den Mittelpunkt von Glaube und Kult. Häufig ist der C. mit manistischen Ideen verbunden und gehört oft zu einem kosmischen Dualismus, wobei männlicher Himmel und weibliche Erde als kosmogonisches Urpaar angesehen werden. Die Bedeutung des einen wie der anderen kann dabei je nach Region und kulturhistorischen Verhältnissen stärker oder schwächer sein. Chthonische Vorstellungen sind weit über die Erde verbreitet und zu allen bekannten Epochen aufgetreten -allerdings mit ganz unterschiedlicher Akzentuierung. Die Skala reicht dabei von Glaubensformen, die untergeordnete Bedeutung haben, bis zu solchen, die den Mittelpunkt eines Religionssystems bilden. In zwei ganz unterschiedlichen Regionen und Zeiten hat der C. starke Bedeutung erlangt: 1. in der Welt des frühen Mediterraneums und 2. in dem uns seit hundert Jahren bekannten westlichen Sudan.
1. Das früheste Auftreten dieses Begriffes in der Literatur ist nicht mit Sicherheit belegt, auf jeden Fall ist er «eine Frucht der romantischen [deutschen] Naturphilosophie» [1]. Zuerst hat F. Creuzer darauf aufmerksam gemacht, daß bei den Griechen vor der «olympischen Religion», wie sie von Homer in einer die Jahrhunderte prägenden Weise dargestellt wurde, ältere Vorstellungen über «die Mächte der Erdtiefe» bestanden, und daß diese die «Uranfänge des religiösen Lebens» der Griechen darstellten [2]. K. O. Müller hat dann als erster den Versuch unternommen, die «chthonische Religion» der Griechen zu beschreiben [3]. Bleibende Wirkung hat gegenüber den Arbeiten der Vorgänger – ungeachtet zeitlich bedingter philologischer und methodischer Mängel – das Werk von J. J. Bachofen. Nach ihm folgen drei große Stufen der Menschheitsentwicklung aufeinander: Hetärismus (schrankenlose Promiskuität), Gynaikokratie (Mutterrecht) und apollinische Paternität (Vaterrecht). Die mutterrechtliche Stufe, die er aus antiken Berichten über verschiedene mediterrane Völker rekonstruiert (Lyker, Kreter, Lemnier, Lesbier, Lokrer), war von einer chthonischen Religion bestimmt, die in der Vorstellungsreihe von Erde-Mutter-Tod-Wiedergeburt ihren wichtigsten Inhalt hatte. Auch im Pythagoreismus sieht Bachofen ein bewußtes Zurückgehen auf das «chthonische Muttertum der Erde» der pelasgischen Welt [4].
2. Noch stärker ausgeprägte Vorstellungen von der Erde als großer Mutter, aus der alles hervorgeht und in die alles zurückkehrt, trifft man bei den «altnigritischen» Feldbauern, der Urbevölkerung des Sudans, vom Nil im Osten bis zum Senegal im Westen. Ob es möglich ist, diesen afrikanischen C. mit dem des antiken Mediterraneums in einen historischen Zusammenhang zu bringen, muß offen bleiben. Fast immer erscheint die Erde in dieser Region als Frau des Himmels- und Regengottes; aus beider Vereinigung geht alles Leben hervor: «Alle Vegetabilien sind ihre Kinder, ebenso alle Dinge in der Welt» [5]. Ebenso wie die Pflanzen entstanden der Mythe nach häufig auch die Menschen, indem sie aus der Erde emporwuchsen oder von ihr geboren wurden: «Die Erde ist die Wohnung der Toten und Ahnen» [6], ihr Kult ist daher manistisch bestimmt. Frobenius spricht davon, daß diese chthonische Religion «einerseits im Farmdienst, andererseits im Manismus» gipfele und daß Saat und Ernte ebenso wie das Erd- und Ahnenopfer Ausdruck eines religiösen Grundgesetzes seien [7]. Sehr oft wird der chthonische Kult und alles, was im religiösen Bezug dazu steht (z.B. Sühnung eines Mordes, durch den die Erde mit Blut befleckt wurde), einem besonderen Priester, dem «Erd-Herrn» zugeordnet [8].
[1]
A. Baeumler: Der Mythus vom Orient und Occident. Eine Met. der Alten Welt, in: J. J. Bachofen, Auswahl, hg. M. Schroeter (1926) CLXXXV.
[2]
F. Creuzer, Dtsch. Schriften (1836–1858) II/2, 188f.
[3]
K. O. Müller: Gesch. hellen. Stämme und Städte (1820–1824); Prolegomena zu einer allg. a prior. wiss. mythol. (1825).
[4]
J. J. Bachofen, Werke, hg. K. Meuli 2. 3: Mutterrecht (1948) 3, 875.
[5]
H. Baumann: Schöpfung und Urzeit des Menschen im Mythos der afrikanischen Völker (21964) 168.
[6]
a.a.O. 387.
[7]
L. Frobenius: Unter den unsträflichen Äthiopen (1913) 135.
[8]
J. Zwernemann: Die Erde in Vorstellungswelt und Kultpraktiken der sudanischen Völker (1968) 99f.; vgl. K. Dittmer: Die sakralen Häuptlinge der Gurunsi im Obervolta-Gebiet (1961) 10f.
J. J. Bachofen s. Anm. [4] Bd. 1–4. 6–8. 10.