II. Seit dem Mittelalter trat der Begriff ‹E.› in verschiedenem, seiner ursprünglichen Bedeutung gegenüber abgeleitetem bzw. fortentwickeltem Sinne auf:
1. Unter dem Ausdruck ‹Endelechaia› im Sinne der Fortdauer eines Lebewesens, vor allem in der medizinisch-pharmazeutischen Literatur; so spielt z.B. bei dem Würzburger Canonicus
B. Blumentrost um 1330 der Begriff ‹permanentia› als Charakteristikum des Seienden, namentlich des Lebendigen, eine Rolle
[1].
Cicero hatte bereits den aristotelischen Begriff
ἐντελέχεια[2], bei ihm
ἐνδελέχεια, mit «continuatam quandam motionem et perennem» erklärend umschrieben
[3]. Obwohl von vielen Peripatetikern diese Interpretation keineswegs gebilligt wurde – noch der Humanist
Johannes Argyropoulos Byzantinos gehört zu ihnen – gab es viele andere, z.B. den einflußreichen, aber prinzipienlosen Eklektiker
Angiolo Poliziano, die sich Cicero anschlossen.
2. Zur Bezeichnung für den Tätigkeitsvollzug des Le bens wird der Begriff ‹E.› vor allem in der Philosophie des 16. Jh. benutzt: In diesem Sinne bestimmte
Melanchthon E. als «agitatio».
3. Das griechische Wort
ἐντελέχεια war bei den Arabern oft mit ‹kamal› (Vollkommenheit, Reife) wie dergegeben worden, da ‹kamal› den Sinn von ‹E.› im Arabischen genau trifft. Dies führte bei den Kommentatoren und vor allem bei den Übersetzern der griechischen Werke ins Lateinische zu einer Umdeutung, in dem man ‹kamal› =
ἐντελέχεια mit ‹perfectihabia› (z.B.
Hermolaus Barbarus) oder direkt mit ‹perfectio› wiedergab. So lautet die Erklärung von
Nikephoros Blemmides:
Ἐντελέχεια δὲ προηγουμένως μὲν ἡ τοῦ ἐντελοῦς ἔχεια λέγεται ἤγουν ἡ κατὰ τὸ ἐντελὲς ἕξις· ἡ τελειóτης τοῦ πράγματος καθ' ἣν τὸ ἐντελὲς ἔχει τὸ πρᾶγμα καθ' ἣν τέλειóν ἐστιν εἶδος τὸ πρᾶγμα. Sie wurde später wie folgt ins Lateinische übertragen: «entelechia autem primario quidem
τοῦ ἐντελοῦς ἔχεια seu
ἡ κατὰ τὸ ἐντελὲς ἕξις dicitur: perfectio rei, per quam res perfectionem habet, per quam res est perfecta forma» (Entelechie nennt man erstlich das Haben des Vollkommenen oder die Verfassung gemäß dem Vollkommenen: die Vollkommenheit der Sache, durch die sie Vollkommenheit hat, durch die sie vollkommene Form ist)
[4]. Unter der Bezeichnung ‹perfectio rei› bzw. ‹perfecta forma› ist der E.-Begriff in die mittelalterliche Naturphilosophie eingegangen, sofern die Gegner der alchemistischen Metallumwandlung, die ja von ihren Verfechtern nach Analogie eines lebendigen Wachstumsprozesses gedacht wurde, behaupteten, das alchemistische Gold erreiche nicht die «perfectio formae» des natürlichen Goldes
[5]. Später wurde ‹E.› auch in der Biologie
mit ‹perfectio› erklärt. So heißt es bei
Van Helmont dem Älteren: «nam imprimis, cum omnis causa ... caussato sit prior certe, forma compositi causa esse nequit producti sed potius entelechia est ultima generationis, ipsissimaque generati essentia atque perfectio»
[6]. Diese Auffassung von E. bei Van Helmont entspricht genau derjenigen, welche bei Nikephoros Blemmides zum Ausdruck kommt, wenn dieser behauptet: «entelechia non est embryo, qui in matrice conficitur.»
4. In der Neuzeit löst sich der Terminus teilweise aus dem strengen Zusammenhang der Akt-Potenz-Lehre heraus, obwohl diese unterschwellig noch wirksam ist. ‹E.› wird häufig zum Schlüsselwort eines Denkens, welches – teilweise teleologisch und damit in Gegenposition zu einer rein mechanistisch-kausalen Erklärungsweise – jedes einzelne Wesen durch innere Konstitution auf ein bestimmtes Ziel hingeordnet sieht, dessen Erreichung es von innen her, d.h. aus sich selbst anstrebt. Diese Entwicklung führt vor allem unter dem Einfluß des frühneuzeitlichen Nominalismus zu einer weiteren Bedeutung: Die Monaden, die
Leibniz ausdrücklich als E. bezeichnet, haben außer einem mittelalterlich prädikativen auch bereits einen neuzeitlich funktionalen Charakter, d.h. sie sind metaphysischer Ausdruck des mathematischen Kalküls
f(
x)
= ∫
d f(
x)
. Andererseits glaubte Leibniz im biologischen Präformismus seinerzeit eine Bestätigung der Monadenlehre finden zu können
[7].
In der Folgezeit lebte der biologische E.-Begriff im «modulus interior» als innerer Form bei
Buffon, den «forces réelles productives»
Needhamms, der «vis essentialis» von
Chr. Wolff und dem «nisus formativus»
Blumenbachs weiter. Nirgendwo jedoch wird bei diesen Autoren das Wort ‹E.› selbst gebraucht und die genannten Begriffe haben auch im allgemeinen mehr den Charakter dessen, was seit
Paracelsus ‹Archeus› heißt und später Bildungs-E. genannt wurde. Erst
Goethe wendet nach dem Vorgange von Leibniz für Monade und Seele den Ausdruck ‹E.› wieder an
[8].
Im 19. Jh. findet sich das Wort dann vor allem bei
W. Wundt, der ebenfalls die Seele als eine E. betrachtet, und bei dem Biologen
C. L. Morgan[9], aber ohne wesentlichen Bedeutungswandel und auch ohne im Zentrum der Betrachtung zu stehen. Erst bei
Driesch gewinnt ‹E.› eine neue, zentrale Stellung und erfährt eine spezifische Abwandlung in seiner Philosophie des Organischen
[10]. Dabei enthält der E.-Begriff Drieschs neben einem formal-kausalen ein instrumental-kausales Moment. Eng an Driesch lehnt sich
A. Wenzl an
[11].
H. Conrad-Martius versucht in kritischer Auseinandersetzung mit Driesch und im Rückgriff auf aristotelisch-scholastisches Gedankengut sowie unter Berücksichtigung der frühneuzeitlichen Biologie den E.-Begriff zu klären und zu differenzieren. Sie kommt dabei zu einer Unterscheidung von Wesens-E. und Bildungs-E.
[12], welche im Grunde derjenigen von forma substantialis und Archeus bzw. nisus formativus entspricht. Hinsichtlich der Wesens-E. greift sie auf die averroistisch-skotistische Unterscheidung von forma unica und forma ultima zurück
[13], wobei ‹forma unica› den ontischen Einheitsgrundder Substanz meint, während ‹forma ultima› die jeweilige ontische Perfektionsstufe bezeichnet, im biologischen Bereich also die forma substantialis als anima vegetativa bei den Pflanzen, als anima sensitiva bei den Tieren und als anima intellectiva beim Menschen. Diese mit phänomenologischer Methode auf dem Hintergrundalter Begriffsbildungen neugewonnene Fassung des E.-Begriffes scheint sich besonders
als fruchtbares kategoriales Mittel in der komplexen Psychologie
C. G. Jungs zu bewähren
[14].
|
B. Blumentrost, Tractatus de cautelis venenorum (14. Jh.). Cod. Monac. Clm 26875 fol. 127r. |
|
Aristoteles, De an. II, 1, 412 a 20f. |
|
Cicero, Tusc. 1, 10 gegen Ende. |
|
Nikephoros Blemmides, Epitome physica c. IV, 2. MPG 142, 1050 b (lat. J. Wegelinus, Wien 1605). |
|
Johannes XXII., De crimine falsi. Corp. jur. can. Gregor XIV (Rom 1582) Tom. I, lib. V, tit. VI. |
|
J. B. Van Helmont: Causae et initiae naturalium, cap. 5 (Amsterdam 1648) 33. |
|
J. O. Fleckenstein: G. W. Leibniz. Barock und Universalismus (1948) 118. 141; Leibniz. Algorithmic interpretation of Lullus art. Organon 4 (1967) 177. |
|
Goethe, Gespräche mit Eckermann 11. 3. 1828, 1. 9. 1829, 3. 3. 1830. |
|
C. L. Morgan: Instinkt und Erfahrung (1913) 113. |
|
H. Driesch: Philos. des Organischen ( 11921) 432ff. |
|
A. Wenzl: Met. der Biol. von heute (1937). |
|
Hedwig Conrad-Martius: Der Selbstaufbau der Natur. E. und Energien (1944) 66ff. |
|
Die Geistseele (1960) 67. |
|
C. G. Jung: Psychol. vegetativer Neurosen, in: Der Archetyp. Verh. 2. int. Kongr. analyt. Psychol. Zürich 1962 (Basel/New York 1964) 160. |
J. B. Valentini Monlorii: Quaestio de entelechia (Francof. 1593). – O. Liebmann: Gedanken und Tatsachen 1 (
21899) 89ff. – H. Driesch: Naturbegriff und Naturwiss. (1904) 123ff. 193; Zwei Vorträge zur Naturphilos. (1910) 7ff.; Philos. des Organischen (
21921) 434ff.; Gesch. des Vitalismus (1922); Wirklichkeitslehre (
21922) 332ff.; Ordnungslehre (1923) 298ff. 310ff. 360f. – L. W. Stern: Person und Sache (1906) 1, 190. 234; Die menschl. Persönlichkeit (1918) 68. – D. Mahnke: Eine neue Monadol. (1917) 17f. – J. Sylvester: Vom Wesen der Dinge (1920) 298. 378. – K. Sapper: Das Element der Wirklichkeit und die Welt der Erfahrung (1924). – A. Mittasch: E., in: Slg. Wissen und Glauben 10 (1952). – H. M. Nobis: Über die immaterielle Dynamik als Innen der materiellen Körpersubstanz (Diss. München 1956) 166ff. – A. Dempf: Krit. der hist. Vernunft (1957) 39.