I. E. (griech.
ἐποχή, Anhalten) ist ein zentraler Begriff des antiken Skeptizismus. Das Wort scheint von der
pyrrhonischen Schule in die Philosophie eingeführt worden zu sein und hier ursprünglich das «Innehalten» mit der Suche nach der Wahrheit bezeichnet zu haben, welches im Pyrrhonismus der entscheidende Schritt zur Erreichung der Glückseligkeit war. Der Pyrrhoneer sah sich beunruhigt durch die Vielzahl einander widerstreitender philosophischer Systeme. Er begann zu philosophieren, um sich ein Urteil bilden zu können, welches dieser Systeme das wahre sei. Als er dazu nicht imstande war, «hielt er inne» (
ἐπέσχεν), und dabei stellte sich ihm die «Seelenruhe» (
ἀταραξία) ein, in der er die Glückseligkeit fand
[1]. Die Wirkung dieser E. war, daß die Urteilslosigkeit gegenüber den dogmatischen Lehren zu einem skeptischen Dauerzustand wurde. – Das mag für
den Akademiker
Arkesilaos der Anlaß gewesen sein, das Wort ‹E.› zu übernehmen, um mit ihm die
stoische Urteilsenthaltung zu bezeichnen. Das Verb
ἐπέχειν kann (wie das deutsche «anhalten») sowohl intransitiv im Sinne von «innehalten» als auch transitiv im Sinne von «zurückhalten» gebraucht werden, und Arkesilaos verstand ‹E.› im transitiven Sinne als «Zurückhaltung der Zustimmung»
[2]. Die «Zustimmung» (
συγκατάθεσις) zu einer «Vorstellung» (
φαντασία), d.h. die Anerkennung ihrer Wahrheit, bildete nach stoischer Lehre die Voraussetzung dafür, daß diese Vorstellung das praktische Verhalten des Menschen bestimmen konnte. Sie war abhängig von seiner freien Entscheidung, so daß die Stoiker die ethische Forderung erheben konnten, daß man seine Zustimmung niemals «voreilig» (
προπετῶς), sondern nur solchen Vorstellungen geben dürfe, die absolut gewiß seien
[3]. Arkesilaos und seine Nachfolger, die
Neuakademiker, nun bewiesen, daß es nur wahrscheinliche Vorstellungen gebe, aber keine, die absolut gewiß sei. Daher müsse man seine Zustimmung gegenüber jeder Vorstellung zurückhalten, d.h. es gelte die ethische Forderung einer «E. gegenüber allen Dingen» (
ἐποχὴ περὶ πάντων)
[4]. – Diesen veränderten E.-Begriff, die Urteilsenthaltung über Wahrheit oder Unwahrheit einer Vorstellung, holten die
späten Pyrrhoneer (vermutlich
Änesidem) ihrerseits von den Akademikern zurück. Jedoch ist die Urteilsenthaltung für sie kein Akt der freien Entscheidung und die «E. gegenüber allen Dingen» daher keine ethische Forderung, sondern sie tritt von selbst ein durch die Tatsache, daß jeder Vorstellung eine gleich überzeugende widerstreitet
[5]. Freilich konnten die Pyrrhoneer ihren ursprünglichen E.-Begriff (das «Innehalten» mit der Wahrheitssuche) nicht aufgeben. Deshalb lassen sich im Werk des
Sextus Empiricus zwei verschiedene Bedeutungen von ‹E.› nachweisen
[6].
P. Couissin: L'origine et l'évolution de l'epoché. Rev. Ét. grecques 42 (1929) 373–397. – M. Hossenfelder: Einl. zu Sextus Empiricus, Grundriß der pyrrhonischen Skepsis (1968) 54ff.