Historisches Wörterbuch der Philosophie online 

Epoché

Epoché Urteilsenthaltung Innehalten 5112 10.24894/HWPh.5112Malte HossenfelderUlrich Claesges
Epoché I (erk.) 901 Hossenfelder Malte Antike Philosophie Erkenntnistheorie epoche (ἐποχή) Epoché II (phän.) 902 Claesges Ulrich Phänomenologie Einklammerung Ausschaltung Zuschauer, uninteressierter2 596 Seinsglaube2 595
I. E. (griech. ἐποχή, Anhalten) ist ein zentraler Begriff des antiken Skeptizismus. Das Wort scheint von der pyrrhonischen Schule in die Philosophie eingeführt worden zu sein und hier ursprünglich das «Innehalten» mit der Suche nach der Wahrheit bezeichnet zu haben, welches im Pyrrhonismus der entscheidende Schritt zur Erreichung der Glückseligkeit war. Der Pyrrhoneer sah sich beunruhigt durch die Vielzahl einander widerstreitender philosophischer Systeme. Er begann zu philosophieren, um sich ein Urteil bilden zu können, welches dieser Systeme das wahre sei. Als er dazu nicht imstande war, «hielt er inne» (ἐπέσχεν), und dabei stellte sich ihm die «Seelenruhe» (ἀταραξία) ein, in der er die Glückseligkeit fand [1]. Die Wirkung dieser E. war, daß die Urteilslosigkeit gegenüber den dogmatischen Lehren zu einem skeptischen Dauerzustand wurde. – Das mag für den Akademiker Arkesilaos der Anlaß gewesen sein, das Wort ‹E.› zu übernehmen, um mit ihm die stoische Urteilsenthaltung zu bezeichnen. Das Verb ἐπέχειν kann (wie das deutsche «anhalten») sowohl intransitiv im Sinne von «innehalten» als auch transitiv im Sinne von «zurückhalten» gebraucht werden, und Arkesilaos verstand ‹E.› im transitiven Sinne als «Zurückhaltung der Zustimmung» [2]. Die «Zustimmung» (συγκατάθεσις) zu einer «Vorstellung» (φαντασία), d.h. die Anerkennung ihrer Wahrheit, bildete nach stoischer Lehre die Voraussetzung dafür, daß diese Vorstellung das praktische Verhalten des Menschen bestimmen konnte. Sie war abhängig von seiner freien Entscheidung, so daß die Stoiker die ethische Forderung erheben konnten, daß man seine Zustimmung niemals «voreilig» (προπετῶς), sondern nur solchen Vorstellungen geben dürfe, die absolut gewiß seien [3]. Arkesilaos und seine Nachfolger, die Neuakademiker, nun bewiesen, daß es nur wahrscheinliche Vorstellungen gebe, aber keine, die absolut gewiß sei. Daher müsse man seine Zustimmung gegenüber jeder Vorstellung zurückhalten, d.h. es gelte die ethische Forderung einer «E. gegenüber allen Dingen» (ἐποχὴ περὶ πάντων) [4]. – Diesen veränderten E.-Begriff, die Urteilsenthaltung über Wahrheit oder Unwahrheit einer Vorstellung, holten die späten Pyrrhoneer (vermutlich Änesidem) ihrerseits von den Akademikern zurück. Jedoch ist die Urteilsenthaltung für sie kein Akt der freien Entscheidung und die «E. gegenüber allen Dingen» daher keine ethische Forderung, sondern sie tritt von selbst ein durch die Tatsache, daß jeder Vorstellung eine gleich überzeugende widerstreitet [5]. Freilich konnten die Pyrrhoneer ihren ursprünglichen E.-Begriff (das «Innehalten» mit der Wahrheitssuche) nicht aufgeben. Deshalb lassen sich im Werk des Sextus Empiricus zwei verschiedene Bedeutungen von ‹E.› nachweisen [6].
Malte Hossenfelder
[1]
Sext. Emp., Pyrrh. Hyp. I, 26ff.
[2]
Cicero, Acad. pr. II, 59; Ad Att. XIII, 21, 3; Sext. Emp., Adv. math. VII, 157.
[3]
SVF III, Fr. 548.
[4]
Sext. Emp., Adv. math. VII, 150ff.; Pyrrh. Hyp. I, 232f.
[5]
a.a.O. I, 31; 9f.
[6]
a.a.O. 26 und 196.
P. Couissin: L'origine et l'évolution de l'epoché. Rev. Ét. grecques 42 (1929) 373–397. – M. Hossenfelder: Einl. zu Sextus Empiricus, Grundriß der pyrrhonischen Skepsis (1968) 54ff.
II. In der Phänomenologie E. Husserls ist die «phänomenologische» oder «transzendentale E.» der Übergang von der natürlichen Einstellung zur phänomenologischen Einstellung. In diesem Sinne ist E. zunächst gleichbedeutend mit «phänomenologischer Reduktion» [1]. E. bedeutet das Außer-Vollzug-Setzen des die natürliche Einstellung als solche definierenden universalen Seinsglaubens (Generalthesis der natürlichen Einstellung). Damit werden zugleich alle theoretischen Vormeinungen hinsichtlich der thematisierten Gegenstände ausgeschaltet [2]. Im Unterschied zur «skeptischen E.», die alles Gegebene mit dem Index der Zweifelhaftigkeit versieht, enthält sich die phänomenologische E. jeglicher Stellungnahme zu Sein oder Nichtsein des Gegebenen [3].
Die E. setzt an der schon in psychologischer Erfahrung aufweisbaren intentionalen Grundstruktur des Bewußtseins an. Gemäß der mit dem Begriff der Intentionalität bezeichneten Korrelation von Bewußtsein (Vermeinen als cogitare im weitesten Sinn) und Gegenstand (Vermeintem als cogitatum) erscheint die E. in doppelter Gestalt. Hinsichtlich des Bewußtseins selbst ist sie die «Ausschaltung» der auf den Gegenstand bezogenen Seinssetzung [4], hinsichtlich des Gegenstandes ist sie die «Einklammerung» des Seinscharakters des Gegenstandes selbst [5]. Indem sie so alle transzendente Geltung des Gegenstandsbewußtseins inhibiert, ist sie zugleich die Thematisierung der in sich geschlossenen (immanenten) Region des reinen Bewußtseins [6]. In ihr sind die Welt und der gesamte Bestand des natürlichen Bewußtseins als Phänomen erhalten [7], wobei auch alle Seinssetzungen des natürlichen Bewußtseins mit zum Phänomen gehören. Als Phänomen in diesem Sinne wird sowohl das Vermeinen im weitesten Sinne (Noesis) als auch das Vermeinte als dessen intentionales Korrelat (Noema) bezeichnet [8]. Dieser Bereich der Phänomene ist für das Ich, das in der E. zum «uninteressierten Zuschauer» [9] seines reinen Bewußtseinslebens geworden ist, in singulärer und eidetischer Deskription zugänglich. Da aber die in dieser Weise bestimmte phänomenologische E. die zur Generalthesis der natürlichen Einstellung gehörige verweltlichende (mundane) Selbstapperzeption des Ich [10] und damit die Bodengeltung der Welt [11] – wie Husserl später erkannt hat – in Vollzug beläßt, ist sie noch nicht der Zugang zur transzendentalen Subjektivität. Die E. ermöglicht zwar als Zugang zum reinen Bewußtsein eine rein phänomenologische Psychologie und heißt deshalb «phänomenologisch-psychologische Reduktion» [12]; von ihr muß aber die «transzendentale Reduktion» im strengen Sinn geschieden werden [13].
Ulrich Claesges
[1]
Vgl. E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenol. und phänomenol. Philos. 3. Buch. Husserliana 5 (Den Haag 1952) 141. 145.
[2]
Ideen ... 1. Buch Husserliana 3 (Den Haag 1950) 63ff.; vgl. 3. Buch a.a.O. [1] 145.
[3]
Die Krisis der europäischen Wiss. und die transzendentale Phänomenol. Eine Einleitung in die phänomenol. Philos. Husserliana 6 (Den Haag 21962) 243.
[4]
Ideen ... 1. Buch a.a.O. [2] 66.
[5]
Erste Philos. (1923/24) 2. Teil: Theorie der phänomenol. Reduktion. Husserliana 8 (Den Haag 1959) 65. 111.
[6]
Ideen ... 1. Buch a.a.O. [2] 174.
[7]
a.a.O. 174; vgl. Phänomenol. Psychol. Vorlesungen Sommersemester 1925. Husserliana 9 (Den Haag 1962) 341.
[8]
Zur Phänomenol. des inneren Zeitbewußtseins (1893–1917). Husserliana 10 (Den Haag 1966) 336.
[9]
Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Husserliana 1 (Den Haag 21963) 15.
[10]
a.a.O. 130.
[11]
Die Krisis ... a.a.O. [3] 265.
[12]
a.a.O. 239; vgl.: Erste Philos. a.a.O. [5] 276.
[13]
Die Krisis ... a.a.O. [3] 154.
Literaturhinweis. E. Ströker: Das Problem der epoché in der Philos. Edmund Husserls (Dordrecht 1970).