I. Das Wort ‹existentia› (E.) taucht im Lateinischen zum ersten Mal in den theologischen Werken von
Marius Victorinus auf (um 360 n.Chr.), wo es fast immer zur Übersetzung von
ὕπαρξις dient und im Gegensatz steht zu ‹substantia›, das
οὐσία wiedergibt, während ‹subsistentia› der Übersetzung von
ὑπóστασις vorbehalten ist. ‹E.› ist von ‹existere› abgeleitet, das in der philosophischen Sprache oft an die Stelle von ‹esse› gesetzt wurde, besonders in der Partizipialform. Auf Grund dieser Bedeutungsgleichheit von ‹existere› und ‹esse› ist das Wort ‹E.› bei Victorinus gleichbedeutend mit ‹essentia› – das Victorinus selbst nur sehr selten gebraucht
[1] – und bedeutet ganz allgemein ‹das Sein›. Aber entsprechend dem jeweils besonderen Sinn, der in den von Victorinus benutzten griechischen Quellentexten den Wörtern
ὕπαρξις und
οὐσία beigelegt wird, kann ‹E.› bei Victorinus drei verschiedene Bedeutungen annehmen:
a) In einer ersten Bedeutung steht ‹E.› (
ὕπαρξις) im Gegensatz zu ‹substantia› (
οὐσία), wie das reine Sein, das weder Subjekt noch Prädikat ist, im Gegensatz steht zum konkreten Subjekt, das durch seine Prädikate bestimmt ist
[2]. Diese Gegenüberstellung setzt eine Ontologie voraus, derzufolge das Sein ursprünglich absolut universal und unbestimmt ist (eben das ist E.) und sich fortschreitend bestimmt, um durch das Hinzukommen immer mehr besonderer Bestimmungen oder Qualitäten zur konkreten Wirklichkeit zu gelangen (substantia). Die gleiche Gegenüberstellung von
ὕπαρξις und
οὐσία findet sich bei
Damaskios[3], und wahrscheinlich hat Victorinus selbst diese Unterscheidung von
Porphyrios[4]. Man kann sie durch eine enge wechselseitige Beeinflussung zwischen Platonismus, Aristotelismus und Stoizismus erklären. In der Tat entspricht diese Gegenüberstellung zunächst dem
aristotelischen Gegensatz zwischen dem idealen Sein einer Sache und der Sache selbst (
τὸ ἑκαστῷ εἶναι und
ἑκαστός)
[5]. Aber in der aristotelischen Überlieferung wird
ὕπαρξις niemals verwendet, um das ideale Sein einer Sache zu bezeichnen. Das Wort
ὕπαρξις hat seine philosophische Bedeutung in der
stoischen Tradition angenommen, in der es sich scharf von
οὐσία oder
ὑπóστασις abhebt. Für die Stoiker bedeutet
οὐσία oder
ὑπóστασις das konkrete, stoffliche Subjekt, das als solches die Fülle der ontologischen Realität besitzt, während
ὕπαρξις ein aktuelles Prädikat dieses konkreten Subjekts bedeutet, ein Geschehnis, das in ihren Augen lediglich eine Scheinrealität hat, weil es nicht stofflich ist
[6]. Im
Neuplatonismus wird dieses stoische Nicht-Stoffliche ein platonisches Nicht-Stoffliches; dieses des Eigenstandes entbehrende Prädikat wird ein Prädikat, wie die Platoniker es auffassen, d.h. eine präexistente Idee, an der die Substanz oder das konkrete Subjekt teilhat. Was substanzloses Wirken war, wird reines Wirken des universalen und unbestimmten Seins. So kann der aristotelische Begriff des ‹idealen Seins der Sache› (
τὸ ἑκαστῷ εἶναι) wieder seinen ursprünglichen platonischen Sinn annehmen: Das noch nicht konkretisierte Sein wird die präexistente Idee.
Victorinus kann also E. definieren als «prae-existens substantia», d.h. als die der konkreten Wirklichkeit präexistente Voraussetzung
[7]. Diese letzte Definition spielt auf den etymologischen Sinn von
ὕπαρξις an, der als «Voraus-Beginn» gedeutet wird und den die Übersetzung mit ‹E.› nicht zu fassen vermag. Die absolute Voraussetzung ist Gott selbst, den Victorinus
[8] – hierin wahrscheinlich
Porphyrios folgend
[9] – ohne Zögern ‹E.› nennt. Es gibt
eine Selbstsetzung der göttlichen Wirklichkeit, wodurch die ursprüngliche und absolut unbestimmte E. aus sich ins «Leben» tritt, um in der Selbsterkenntnis zu sich selbst zurückzukehren, und so konstituiert sie sich durch einen dreiphasigen Prozeß als voll bestimmte substantia
[10].
b) In einer zweiten Bedeutung bezeichnet nun umgekehrt ‹substantia› (
οὐσία) das noch unbestimmte Sein und ‹existentia› (
ὕπαρξις) das bestimmte Sein, das eine Form empfangen hat
[11]. Dieser Sinn stammt aus der
kirchlichen Überlieferung des beginnenden 4. Jh., die einerseits
ὕπαρξις und
ὑπóστασις vermengte und andererseits die
οὐσία (= substantia für Victorinus) als unbestimmt, die
ὑπóστασις aber als bestimmt auffaßte
[12]. Diese neue Unterscheidung dient nun bei
Victorinus dazu, die Beziehungen zwischen Vater, Sohn und Heiligem Geist zu beschreiben: Jeder von diesen dreien ist die gemeinsame göttliche substantia, aber gemäß der Art, die jedem von ihnen eigentümlich ist, d.h. gemäß ihrer besonderen E. (Eigentümlichkeit, Bestimmung, Beschaffenheit, Tätigkeit)
[13]. Dieser theologische Wortgebrauch von ‹E.› findet sich in der Folgezeit nur selten, weil die Lateiner vom Ende des 4. Jh. an fast immer
ὑπóστασις mit ‹substantia› wiedergeben. Die Gleichsetzung von ‹E.› mit ‹proprietas› taucht später nur noch bei
Orosius auf
[14], ferner in einem anonymen Glaubensbekenntnis
[15] und schließlich in gewissen lateinischen Übersetzungen von Konzilsdokumenten, in denen ‹E.› dem Wort
ὑπóστασις entspricht
[16].
c) In einer dritten Bedeutung wird ‹E.› bei Victorinus schlicht zum einfachen Synonym für ‹substantia› und bezeichnet so auf ungenaue Weise das «aliquid esse», das Etwas-Sein
[17].
Nach Victorinus reflektiert man im
ausgehenden Altertum nicht mehr über den Sinn von existentia, und das Wort, das nur selten gebraucht wird, hat einen sehr unbestimmten Sinn. An den sehr wenigen Stellen, wo es bei
Augustinus[18],
Calcidius (zweite Hälfte des 4. Jh.)
[19],
Pelagius[20],
Claudianus Mamertus[21] und
Cassiodor[22] begegnet, bezeichnet es die konkrete Realität einer Sache. In einem engeren Wortsinn bedeutet es einen Prozeß der Verwirklichung, ein Erscheinen oder Heraus-Treten (im etymologischen Sinn von ‹ex-sistentia›) bei
Calcidius[23] (im Gegensatz zu possibilitas), bei
Julian von Eclan[24] (im Gegensatz zu possibilitas), bei
Leo dem
Grossen[25] und bei dem anonymen Verfasser der Schrift ‹De attributis personae›
[26]. Bei
Makrobius und
Boethius – der Traktat ‹De fide›
[27], in dem das Wort einmal auftaucht, ist wahrscheinlich apokryph – scheint ‹E.› ganz zu fehlen. Es ist bemerkenswert, daß
Scotus Eriugena es vermeidet und das Wort ‹substantia› zur Wiedergabe von
ὕπαρξις gebraucht
[28]. Obwohl das Wort ‹E.› also ungebräuchlich wurde, waren die Formulierungen des Victorinus, die den Terminus auf Gott anwandten und auf eine Trias ‹existentia – vita – intelligentia› anspielten, dem Mittelalter durch
Alcuin bekannt, der sie in ‹De fide› zitiert
[29].
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Marius Victorinus, Adversus Arium, hg. Henry/Hadot III, 7, 29–35; dtsch. bei P. Hadot: M. Victorinus. Christl. Platonismus, in: Bibliothek der Alten Welt (= BAW) (1967) 246. |
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a.a.O. I, 30, 21–26. BAW 74; vgl. Candidi Ep. (= M. Victorinus) I, 2, 19. BAW 74. |
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Damaskios, Dub. et Sol. § 120, hg. Ruelle 1, 312, 11. |
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Vgl. P. Hadot: Porphyre et Victorinus (Paris 1968) 267–271. 489. |
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Aristoteles, Met. VIII, 3, 1043 b 2 und VII, 6, 1031 a 15. |
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Arius Didymus 26, Doxogr. graec., hg. Diels 461, 19–20; Sextus Empiricus, Pyrrh. Hyp. II, 80; vgl. H. Dörrie: hypostasis. Nachr. Akad. Wiss. Göttingen, philos.-hist. Kl. 3 (1955) 51–54. 63; Hadot, a.a.O. [4] 489. |
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M. Victorinus, a.a.O. [1] I, 30, 22. BAW 158; vgl. Damaskios, a.a.O. [3] § 34, 1, 66, 22. |
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Victorinus, Hymn. III, 38. BAW 332; Adv. Arium I, 33, 24. BAW 165; Candidi Ep. I, 1, 16; 2, 19; 3, 16. BAW 73–75. |
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Hadot, a.a.O. [4] 267–271. |
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Victorinus, a.a.O. [1] I, 51, 19–27. BAW 194; I, 60, 5–12. BAW 205; vgl. Damaskios, a.a.O. [3] § 121, 1, 312, 16. |
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Victorinus, a.a.O. [1] II, 4, 11. 31. BAW 219. |
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Athanasius, Ep. ad Afros 4. MPG 26, 1036 b; Basilius von Cesarea, Ep. I, 38, 3. MPG 32, 328 b. |
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Victorinus, a.a.O. [1] IV, 33, 32. BAW 318; III, 8, 41–44. BAW 248. |
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Orosius, Common. 2, hg. Schepps, 154, 19. |
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C. Caspari: Kirchenhist. Anecdota 1 (Christiania 1883) 310. |
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Acta Conciliorum Oecumenicorum, hg. Schwarz II, 2, 2, 65, 15. |
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a.a.O. [1] I, 30, 26. BAW 158; I, 55, 19. BAW 199. |
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Calcidius, In Tim. 25 d, hg. Waszink 18, 2. |
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Pelagius bei Augustin, De natura et gratia XIX, 21. |
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Claudianus Mamertus, De statu animae III, 12. |
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Cassiodor, Var., hg. Mommsen, I, 10, 19, 14. |
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Calcidius, a.a.O. [19] § 235 = 289, 2. |
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Julian von Eclan bei Augustinus, Contra Julianum op. imperf. I, 47. |
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Leo der Grosse, Sermo 76, 2. |
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Rhetores lat. minores, hg. Halm 306, 10. |
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Boethius, De fide, Zeile 57 Rand. |
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Scotus Eriugena, MPL 122, 1119 c (= Übersetzung von Pseudo-Dionysius, De div. nom. II, 1); 1121 c (= De div. nom. II, 4). |
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Alcuin, De fide II, 2. MPL 101, 24 d (= Victorinus, Ad Cand. 13, 6; Adv. Arium I, 33, 24). |
Thesaurus Linguae latinae 5/2 (1950) 1867–1868. – P. Hadot s. Anm. [1] und [4]; Marius Victorinus et Alcuin. Arch. Hist. doctrinale et litt. du M.A. 21 (1954) 5–19. G. Huber: Das Sein und das Absolute (1955).