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Fideismus

Fideismus 1065 10.24894/HWPh.1065 Helmut Dahm
Religionswissenschaft und Religionsphilosophie Russische bzw. Sowjetische Philosophie Schulen, Strömungen und Positionen Theologie
Fideismus (von lat. fides, Glaube) nennt man die ursprünglich von Kant, Schleiermacher und dem Neukantianismus (besonders von R. Lipsius) beeinflußte Auffassung, wonach metaphysische, moralische und religiöse Wahrheiten nicht durch die Vernunft, sondern nur durch Glauben erkannt werden. Sie nahm als Symbolo-Fideismus, für den das religiöse Erkennen im Unterschied zum objektiv-raumzeitlichen auf einer subjektiv-symbolischen Darstellung religiöser Gefühle beruhte, ihren Ausgang von der seit 1877 bestehenden Pariser reformierten theologischen Fakultät, wo A. Sabatier und E. Ménégoz Ende des vergangenen Jh. lehrten, daß die religiösen Begriffe und Dogmen keine transzendente Wirklichkeit zu erreichen vermöchten, sondern lediglich als unzulängliche und wandelbare Versuche zu betrachten seien, den Ausdruck religiöser Gefühle dem jeweiligen Stand der Geistesentwicklung anzupassen. Dieser als Reaktion auf den rationalistischen Spiritualismus verständlichen Kritik an aller natürlichen philosophischen Erkenntnis analog war im katholischen Raum auf den Hermesianismus und Güntherianismus sowie auf den belgischen und italienischen Ontologismus zunächst das gegenteilige Extrem des Traditionalismus und sodann um die Jahrhundertwende der Modernismus gefolgt, dessen scientistische Haltung der fideistischen des damaligen protestantischen theologischen Denkens entsprach. Die dem Katholizismus zugeordneten vorgenannten Deutungen des Verhältnisses von Glauben und Wissen sind in der Zeit von 1835 bis 1907 kirchlicherseits verurteilt worden.
In philosophischer Hinsicht spielt der Fideismusbegriff bei den Vertretern des dialektischen Materialismus auch heute noch eine große Rolle. Da Lenin in einem Brief an seine Schwester Anna Elizarova vom 8. Nov. 1908 den Fideismus (Synonym für «Pfaffentum») als eine Lehre definierte, «die den Glauben an die Stelle des Wissens setzt oder überhaupt dem Glauben eine gewisse Bedeutung beilegt» [1], verdächtigen sie jede nicht-materialistische, besonders aber die neuthomistische Philosophie rigoros der Ansicht, daß «der religiöse Glaube das einzige Kriterium der Wahrheit» [2] sei, um die Ablehnung des Materialismus als fideistische Voreingenommenheit erweisen zu können. Begründete Einwände [3] haben jedoch in letzter Zeit zu einer selbstkritischen Überprüfung dieser extremen Argumentation geführt [4]. Der sowjetische Philosoph V. Garadža hat dargelegt, daß nach der Auffassung des thomistischen Intellektualismus «alles dem Gericht der Vernunft» unterliege, und somit könne nur das als wahr anerkannt werden, was die Vernunft gebilligt hat und den «rationalen Kriterien der Wahrheit entspricht», woraus folge, daß von der Transzendenz nichts mehr übrigbleibe, da «der Glaube sich seinem Inhalt nach entweder in keiner Hinsicht vom Wissen unterscheiden darf, oder aber falsch ist» [5]. Diese Ansicht greift in erstaunlicher Weise die Kritik des russischen Existentialisten Lev Šestov an der gnostischen Hellenisierung des Christentums sowie am Rationalismus des russischen Philosophen Vladimir Solov'ev (1853–1900) auf [6]. Zwar stimmen die Argumente von Garadža und Šestov in dieser Hinsicht unverkennbar überein, aber ihre Interessen laufen gleichwohl in völlig entgegengesetzte Richtungen.
[1]
V. I. Lenin: Pis'ma k rodnym (Briefe an Angehörige) (Leningrad 1931) 318; Polnoe sobranie sočinenij [vollständige Sammlung der Werke] (Moskau 51961) 18, 10. 391; 23, 118.
[2]
B. N. Ponomarev: Političeskij slovar' [Polit. Wo.] (Moskau 21958) 611.
[3]
Vgl. H. Dahm: Die Dialektik im Wandel der Sowjetphilos. (Köln 1963) 9–20.
[4]
Vgl. V. I. Garadža: Neotomizm i estestvoznanie. Mnimoe primirenie nauki i religii [Neothomismus und Naturwiss. Scheinausgleich von Wiss. und Relig.], in: Priroda (Moskau) 54/3 (1965) 65–72, zit. hier 67; Ja. V. Minkjavičjus: Sovremennyj katolicizm i ego filosofija [Der moderne Katholizismus und seine Philos.] (Vilnius 1965) 57; V. I. Garadža: Kritika neotomistskogo psevdoracionalizma [Krit. des neuthomistischen Scheinrationalismus], in: Voprosy filosofii (Moskau) 20 (1966) 99–110, zit. 102.
[5]
V. I. Garadža, in: Voprosy filosofii 20/11 (1966) 104.
[6]
Lev Šestov: Umozrenie i otkrovenie. Religioznaja filosofija Vladimira Solov'eva i drugie stat'i [Spekulation und Offenbarung. Die Religionsphilos. von Vladimir Solov'ev und andere Aufsätze] (Paris 1964) 46; vgl. dtsch. L. Schestow: Spekulation und Offenbarung (1963) 67.
A. Sabatier: Esquisse d'une philos. de la relig. (Paris 1897, 81910); Les relig. d'autorité et la relig. de l'esprit (Paris 1903, 41910). – E. Ménégoz: Réflexions sur l'Evangile du salut (Paris 1879); Publications diverses sur le f. et son application à l'enseignement chrétien traditionnel 1–5 (Paris 1900–1921). Kritisch: E. Doumergue: L'autorité en matière de foi et la nouvelle école (Paris 1892); Les étapes du f. (Paris 1906); Le dernier mot du f. (Paris 1907). – H. Haldimann: Der F. (1907). H. Denzinger und J. Umberg: Enchiridion Symbolorum et definitionum et declarationum de rebus fidei et morum (1854, 261947). – J. Marx: Lehrbuch der Kirchengesch. (1903, 31906). Lex. Theol. u. Kirche 4 (21960) 117f.: Art. ‹F.›. – H. Dahm: Der dialektische Materialismus als F., in: Häresien der Zeit – Ein Buch zur Unterscheidung der Geister, hg. A. Böhm (1961) 315–373.