Fideismus (von lat. fides, Glaube) nennt man die ursprünglich von
Kant, Schleiermacher und dem Neukantianismus (besonders von
R. Lipsius) beeinflußte Auffassung, wonach metaphysische, moralische und religiöse Wahrheiten nicht durch die Vernunft, sondern
nur durch Glauben erkannt werden. Sie nahm als
Symbolo-Fideismus, für den das
religiöse Erkennen im Unterschied zum
objektiv-raumzeitlichen auf einer
subjektiv-symbolischen Darstellung religiöser Gefühle beruhte, ihren Ausgang von der seit 1877 bestehenden Pariser
reformierten theologischen Fakultät, wo
A. Sabatier und
E. Ménégoz Ende des vergangenen Jh. lehrten, daß die religiösen Begriffe und Dogmen
keine transzendente Wirklichkeit zu erreichen vermöchten, sondern lediglich als unzulängliche und wandelbare Versuche zu betrachten seien, den Ausdruck religiöser Gefühle dem jeweiligen Stand der Geistesentwicklung anzupassen. Dieser als Reaktion auf den rationalistischen Spiritualismus verständlichen Kritik an aller natürlichen philosophischen Erkenntnis analog war im katholischen Raum auf den Hermesianismus und Güntherianismus sowie auf den belgischen und italienischen Ontologismus zunächst das gegenteilige Extrem des Traditionalismus und sodann um die Jahrhundertwende der Modernismus gefolgt, dessen
scientistische Haltung der
fideistischen des damaligen
protestantischen theologischen Denkens entsprach. Die dem Katholizismus zugeordneten vorgenannten Deutungen des Verhältnisses von Glauben und Wissen sind in der Zeit von 1835 bis 1907 kirchlicherseits verurteilt worden.
In
philosophischer Hinsicht spielt der Fideismusbegriff bei den Vertretern des
dialektischen Materialismus auch heute noch eine große Rolle. Da
Lenin in einem Brief an seine Schwester Anna Elizarova vom 8. Nov. 1908 den Fideismus (Synonym für «Pfaffentum») als eine
Lehre definierte, «die den Glauben an die Stelle des Wissens setzt oder überhaupt dem Glauben eine gewisse Bedeutung beilegt»
[1], verdächtigen sie jede
nicht-materialistische, besonders aber die
neuthomistische Philosophie rigoros der Ansicht, daß «der religiöse Glaube
das einzige Kriterium der Wahrheit»
[2] sei, um die Ablehnung des Materialismus als fideistische Voreingenommenheit erweisen zu können. Begründete Einwände
[3] haben jedoch in letzter Zeit zu einer selbstkritischen Überprüfung dieser extremen Argumentation geführt
[4]. Der sowjetische Philosoph
V. Garadža hat dargelegt, daß nach der Auffassung des thomistischen Intellektualismus «alles dem Gericht der Vernunft» unterliege, und somit könne nur das als wahr anerkannt werden, was die Vernunft gebilligt hat und den «rationalen Kriterien der Wahrheit entspricht», woraus folge, daß von der Transzendenz nichts mehr übrigbleibe, da «der Glaube sich seinem Inhalt nach entweder in keiner Hinsicht vom Wissen unterscheiden darf, oder aber falsch ist»
[5]. Diese Ansicht greift in erstaunlicher Weise die Kritik des russischen Existentialisten
Lev Šestov an der gnostischen Hellenisierung des Christentums sowie am Rationalismus des russischen Philosophen
Vladimir Solov'ev (1853–1900) auf
[6]. Zwar stimmen die Argumente von
Garadža und
Šestov in
dieser Hinsicht unverkennbar überein, aber ihre Interessen laufen gleichwohl in völlig entgegengesetzte Richtungen.