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Glück, Glückseligkeit

Glück, Glückseligkeit Ethik und Moralphilosophie Glückseligkeit eudaimonia (εὐδαιμονία) makariotes (μακαριότης) felicitas beatitudo bonheur luck Leben, glückliches 5161 10.24894/HWPh.5161Joachim RitterOtto Hermann PeschRobert Spaemann
(griech. εὐδαιμονία, μακαριότης; lat. felicitas, beatitudo; ital. felicità, beatitudine; frz. bonheur, félicité, béatitude; engl. luck, happiness, felicity, beatitude)
I. Antike. – 1. Glück (= G.) und die Vorstellung vom G., daß es Reichtum, Ehre, Macht, Gesundheit, langes Leben usf. sei, sind älter als die Philosophie und halten sich, getragen von dem Bedürfnis des Menschen, unabhängig von ihr durch die Zeiten. Das G. wollen alle, die Gebildeten und die Vielen [1]. Die Zuwendung der Philosophie zu ihm setzt ein, wo das noch von den Dichtern bezeugte Zutrauen und Vertrauen brüchig wird, daß G. und Unglück Gabe der Götter und des Geschicks und Heimsuchung durch sie seien [2]. Wo der Mensch sich seines Nichtseins im Verhältnis zum Himmel, dem festen und sicheren Sitz der Götter, bewußt wird, und weder Tag noch Nacht weiß, zu welchem Ziel zu laufen das Schicksal vorschreibt [3], und der Sterbliche Sterbliches allein, nicht Unsterbliches bedenkt [4], wird von Demokrit Tyche ihrer Macht entkleidet und als «Bild» (εἴδωλον) gedeutet, das sich der Mensch zu Vorwand und Ausflucht seiner Ratlosigkeit macht [5]; ihr setzt er positiv verständige Klugheit und Besonnenheit entgegen. Der Klugheit könne Tyche nur in seltenen Fällen entgegenwirken; das meiste wisse ein verständiger Scharfblick in der Lebensführung (ἐν βίῳ) ins Grade zu richten [6]. In dieser Wende von dem G., das man in äußeren Gütern und leiblichen Genüssen hat, in denen der Mensch immer dem Walten der Notwendigkeit und des Geschickes ausgesetzt bleibt, hin zu der guten inneren Verfassung des Menschen und dem aus ihr folgenden Handeln und Leben wird der von der Philosophie getragene Begriff des G. zuerst exponiert. G. ist nicht Reichtum und Besitz, sondern in der Seele und in der seelischen Haltung des Menschen begründet. Ruhm und Reichtum ohne verständige Einsicht sind «unsicherer Besitz» [7]. Ziel ist die Heiterkeit des Gemüts, die in Windstille und Ruhe die Seele ihr Leben verbringen läßt [8]. G. hat so nicht in Gold und in Herden, sondern in der Seele seinen Sitz: εὐδαιμονίη ψυχῆς καὶ κακοδαιμονίη (G. und Unglück gehören der Seele) [9]. Für Heraklit wird der Spruch überliefert, daß man, falls G. in den Ergötzungen des Leibes bestünde, Ochsen glücklich nennen müßte, wenn sie Erbsen zum Fressen finden [10]. Empedokles nennt glücklich den, der den Reichtum göttlicher Worte erwarb, unglücklich, wen ein finsterer Wahn über die Götter umfangen hält [11]. Thales wird die Bestimmung des G. durch Gesundheit des Leibes, gute Wege der Seele und eine wohlgebildete Natur zugeschrieben [12].
Zeichen für diese Verlagerung des G. von den äußeren Gütern auf das, was der Mensch in sich und aus sich in der Erfüllung seines Lebens unabhängig vom Geschick zu sein und zu tun vermag, ist es, daß mit der Philosophie die alten Worte für G. – so das auf den Besitz verweisendeὄλβιος – zurücktreten und schließlich verschwinden und an ihrer Stelle philosophisch εὐδαιμονία (εὐ.) und die zu ihr gehörigen Worte Leitbegriff werden. Glücklich ist, wer in sich einen guten Dämon zum Führer hat [13]. Für Demokrit ist dieser Sinn des Wortes durchaus bewußt: Er verweist auf die Seele als Sitz des G., da Sitz des Dämons die Seele sei (ψυχὴ οἰκητήριον δαίμονος) [14]. Während für die Menschen εὐ. zum herrschenden Begriff wird, hält sich das alte μακάριος (μακαριότης) als Ausdruck für das über den Menschen erhobene und vom Leben der Sterblichen unterschiedene selige Leben der Götter und Toten [15]; es wird aber zugleich durch die Nähe zu εὐ. affiziert und von seiner Bedeutung durchdrungen [16].
Der Prozeß, in dem bei den Vorsokratikern G. – noch in Sprüchen und von Erfahrung getragener Weisung – im Felde ethischer Ordnung, aber auch schon in der Bestimmung anvisiert wird, G. sei Lust [17], oder in dem G., wie für Hegesias, überhaupt zweifelhaft wird, da die Seele mit dem Leibe leide und das Geschick viele Hoffnungen zunichte mache [18] –, dieser Prozeß kommt mit Platon und Aristoteles darin zur Vollendung, daß die Erkenntnis des G. allgemein an die Philosophie und ihre Einsicht gebunden wird. Was G. sei, wird erst durch die Philosophie und mit ihr begriffen; sie macht den in seinem Meinen und Vorstellen Befangenen das, was G. in seiner Wahrheit ist, allererst sichtbar. Daher gilt, daß denen, die die philosophische und wahrhaft zum G. hinführende Lebensführung nicht zu sehen vermögen, gerade diejenigen das volle G. zu haben scheinen, die unrechten Gewinn und Macht im Überfluß besitzen. Aus dem Schein, in dem die menschliche Art das in Wahrheit Schönste zerstören muß, befreit allein die Philosophie [19].
[1]
Aristoteles, Eth. Nic. 1095 a 18–19.
[2]
D. Roloff: Gottähnlichkeit, Vergöttlichung und Erhöhung zu seligem Leben (1970) 66ff.
[3]
Pindar, 6 Nem. 1, zit. Roloff, a.a.O. 162f.; Simonides, in: Anthol. lyrico graec., hg. E. Diehl II, 5, Frg. 6.
[4]
Epicharm, VS 23 B 20.
[5]
Demokrit, VS 68 B 119.
[6]
B 119.
[7]
B 77.
[8]
A 1 (44) = 84, 12ff.
[9]
B 170. 171.
[10]
Heraklit, VS 22 B 4.
[11]
Empedokles, VS 31 B 132.
[12]
Thales, VS 11 A 1 (37).
[13]
Vgl. Euripides, Orest 667; dazu F. Dirlmeier: Nik. Eth., übers. mit komm. Anm. (1956) 271, 7. 3.
[14]
Demokrit, VS B 171.
[15]
Aristoteles, Eth. Nic. 1178 b 25; b 23.
[16]
z.B. Platon, Resp. 354 a; Gorg. 507 e; Aristoteles, Eth. Nic. 1176 a 27.
[17]
Aristippos bei Diog. Laert. II, 86ff.; E. Zeller: Philos. der Griechen II/1 (51922) 374.
[18]
Diog. Laert. II, 94; vgl. Zeller, a.a.O. 370f.
[19]
Platon, Krit. 121 b.
2. Für Platon ist das philosophische, auf Philosophie gegründete G. von dem radikal geschieden, was alle als G. meinen. Zwar gilt im Sinne der Überlieferung, daß «die rechtschaffene [gerechte] Seele und der rechtschaffene [gerechte] Mann auf gute Weise ihr Leben führen werden, auf schlechte Weise aber der Unglückliche, und daß, wer auf gute Weise lebt (εὖ ζῶν), selig und glücklich, der aber, der dies nicht tut, unglücklich ist» [1]: Glücklich ist der Edle und Gute, unglücklich, der schlecht und im Unrecht ist [2]. Aber diese ethische Bestimmung des G. setzt in der Vielfalt des Guten die transzendente Idee des Guten voraus, die allein der Philosoph zu begreifen und gegen den Schein der Selbständigkeit des weltlichen Guten geltend zu machen vermag. Das ist für Platon das Wahre (τὰ ... ἀληθές): der «Gott ist niemals und in keiner Weise ungerecht, sondern im höchsten Sinne und absolut gerecht; daher ist ihm nichts ähnlicher als der unter uns, der wie der Gerechteste wirkt» [3], ohne daß dies, wie die sophistische Negation und Emanzipation es zeigen, noch für das menschliche Bewußtsein begründet ist. Da das Böse in dieser Welt so notwendig nicht ausgerottet werden kann, versucht der Philosoph «von hier» so schnell es ihm möglich ist, «dorthin» zu fliehen. Diese Flucht ist Angleichung an Gott (ὁμοίωσις θεῷ) und diese Angleichung heißt, so gerecht und so heilig (ὅσιον) wie möglich aus eigener vernünftiger Einsicht zu werden [4]. Zu diesem Weg gehört die Reinigung und die Trennung vom Leibe [5], um zum dauernden G. zu gelangen und um in einem tugendhaften Leben nach dem Tode dem Kreislauf der Wiedergeburt zu entrinnen [6] und zu den «Inseln der Seligen» fortzugehen und frei von allem Übel in voller Glückseligkeit (ἐν πάσῃ εὐδαιμονίᾳ) zu wohnen [7].
So ist der Philosoph allein der «wahrhaft in Freiheit und Muße Gebildete» [8]; er ist nur mit seinem Leibe in die Polis gesetzt und lebt in ihr wie ein Fremder [9]; alles, was die Menschen für G. halten, Macht und Reichtum eines Königs, grosse Besitztümer überhaupt, eine Tafel von Ahnen, die bis zu Herakles zurückreicht, sind ihm nichts. Es heißt zwar auch, daß es darum gehe, die Beschaffenheit und Verfassung der Seele zu erforschen, die geeignet ist, allen Menschen ein glückliches Leben zu gewähren [10]; ein Leben ohne alle Empfindung von Lust und Unlust sei Apathie und nicht wünschenswert [11]. Grundlegend aber bleibt das – transzendente – Beispiel des allerseligsten Gottes, der zur einzigen Norm für alles menschliche G. wird. Seine Erkenntnis ist für Platon Weisheit und wahre Tugend und demgegenüber die Unwissenheit über sie Torheit und Schlechtigkeit [12]; in sie ist die Strafe der Ungerechtigkeit eingeschlossen, der zu entfliehen unmöglich ist [13]. Eine Vermittlung zwischen dem philosophischen G. und dem, was die Vielen für G. halten, die nicht von ihm wissen, ist für Platon daher unmöglich. Der Philosoph wird seinerseits von den Vielen, unwissend in allem, was zu seinen Füßen liegt, verlacht [14]; er wird, wenn er die Vielen zur Umkehr bringen will, «getötet» werden [15].
Die Gestalt, in der das philosophische G. im Tode und im Triumph über die Ungerechtigkeit der Polis vorbildliche Wirklichkeit erhalten hat, ist Sokrates. Sein Leben und sein Tod im Gehorsam gegen das Gesetz werden von Xenophon als göttliche Erfüllung des Lebens begriffen; Sokrates erscheint in seiner Frömmigkeit, in der er nichts ohne den Rat der Götter und niemals das Vergänglichere statt des Besseren tut, und in der Autarkie seiner Vernunft, in der er die anderen mahnt, der Tugend und der Kalokagathie zu folgen, als «der beste und glücklichste» [16]. Platon nennt ihn glücklich; er starb standhaft und edel in seiner Lebensführung und in seinen Reden in der ruhigen und gewissen Hoffnung, im Jenseits sein G. als Seligkeit zu finden. Er sei der Beste aller damals Lebenden, und überhaupt der Vernünftigste und Gerechteste [17].
Während dies für Xenophon im Grunde noch Apologie des Vorbildlichen im ethischen Sinne bleibt, hat Sokrates für Platon die Bedeutung einer Wende. An ihm zeigt sich endgültig, daß die Polis die Gerechten und Ungerechten nicht mehr unterscheiden kann und daß die Auflösung des alten Nomos in der Emanzipation des Menschen aus seiner Herrschaft endgültig und ohne Aussicht auf Wiederherstellung ist. Er begreift so, daß die Poleis insgesamt schlecht sind und schlecht verwaltet werden. Das menschliche Geschlecht werde daher nicht eher aus seinem Elend erlöst werden, bis entweder das Geschlecht der wahrhaft Philosophierenden zu politischer Herrschaft gelangt oder aber diejenigen, die in der Polis die Macht innehaben, durch göttliche Fügung wahrhaft Philosophierende sind [18]. Wo der überlieferte heilige Nomos nicht mehr trägt und seine Macht dahin ist, bleibt einzig die Philosophie, die in vernünftiger Einsicht die göttliche Ordnung begreift und darin die verlorene politische Ordnung der Polis wieder herstellen wird. Die Befreiung von den Übeln hängt so für die Polis und für das menschliche Geschlecht überhaupt daran, daß politische Macht und Philosophie zusammenfallen [19] und die Philosophen in der Polis Führung erhalten [20]. Die Philosophie berührt das, was immer das selbige ist, und bestimmt «im Blick auf das Allerwahrste dort» [21] das Schöne, Rechte und Gute «hier» und bewahrt darüber wachend das so Gesetzte, während die Übrigen, die dies nicht zu begreifen vermögen, dem Philosophen als Führer folgen (ἀκολουθεῖν) [22] und ihr Sein durch ihre Funktion in der Polis erhalten: Wenn der von Natur zum Schustern Geschickte schustert und der zum Zimmern Geschickte zimmert und beide nichts anderes tun, ist die rechte Ordnung gewährleistet [23]. Davon hängt für Platon das G. im eigenen und im öffentlichen Bereich ab [24]. Die Transzendenz der Ideen und des Guten selbst bringt es mit sich, daß der philosophische Staat Platons den Einzelnen und sein G. nur über das Ganze der Polis erreicht; die politische Kunst sorge nicht für das Einzelne, sondern für das Gemeinsame: Das Gemeinsame verbindet, das Einzelne zerstreut die Poleis [25]. Es geht um das G. der Polis in guter Verfassung (εὐνομοῦσα), nicht um das eines Teiles, sondern um das der ganzen Polis [26]. Die Philosophie begreift die geordneten Umläufe der Vernunft im All und ordnet in ihrer Nachahmung die Umläufe menschlichen Denkens [27]; darin erfüllt sie ihre politische Aufgabe, als Philosophie den verlorenen Grund der Polis wiederherzustellen. In der Teilhabe an Ordnung und Nomos wird in der Polis alles zum Guten bestellt [28]. Das schließt das Leben und die Lebensführung der Einzelnen ein. Ihr G. ist im G. der Polis zureichend bestimmt.
[1]
Platon, Resp. 353 e–354 a.
[2]
Gorg. 470 b. 507 c; vgl. Symp. 205 a.
[3]
Theait. 176 c.
[4]
Theait. 176 b.
[5]
Phaidon 67 c.
[6]
Phaidr. 246 a–249 c; vgl. Phaidon 81 e f.
[7]
Gorg. 523 b.
[8]
Theait. 175 d/e.
[9]
Theait. 173 e.
[10]
Phileb. 11 d.
[11]
Phileb. 21 d f.; vgl. 60 e. 63 e.
[12]
Theait. 176 c.
[13]
Theait. 176 d.
[14]
Theait. 175 b.
[15]
Resp. 517 a; vgl. Gorg. 486 a.
[16]
Xenophon, Memor. IV, 8.
[17]
Phaidon 58 e. 118.
[18]
Ep. VII, 326 a/b; Resp. 473.
[19]
Resp. 473.
[20]
Resp. 474 c.
[21]
Resp. 484 c.
[22]
Resp. 474 c.
[23]
Resp. 443 c.
[24]
Resp. 473 e.
[25]
Leg. 875 a.
[26]
Leg. 780 d.
[27]
Tim. 47 b/c.
[28]
Leg. 780 a.
3. Mit Aristoteles kommt der Prozeß zum Abschluß, in dem G. als in der Natur des Menschen und seinem tätigen Lebensvollzug begründete Erfüllung vor die vom Geschick und Zufall abhängigen, nicht in der Verfügung des Menschen stehenden G.-Güter tritt. Aristoteles kennt dabei durchaus die Rolle, die dem Geschick für das Gelingen und Mißlingen menschlichen Lebens zufällt; es sei «wohlgesagt», wenn die Überlieferung G. «Gabe des Gottes» nennt [1]. Man werde niemanden glücklich nennen, der am Ende eines langen Lebens solches Geschick erleidet wie Priamos [2]; Solon konnte daher die Frage stellen, ob man den Menschen erst glücklich preisen könne, wenn er sein Leben vollendet hat [3]. Das menschliche Leben bleibt solcher Fügung des Geschicks ausgesetzt; es bedarf dazu der guten Umstände (προσδεῖται), wenn es gelingen soll, aber entscheidend und das Erste bleibt die menschliche Tätigkeit als solche, gemäß der Tugend und Tüchtigkeit (αἱ κατ' ἀρετὴν ἐνέργειαι) [4]; das Edle wird auch dann noch durchscheinen, wenn jemand großes und viel Mißgeschick nicht aus Empfindungslosigkeit, sondern in großer und edler Gesinnung erträgt [5]. Tätig sein und tätiger Vollzug entscheiden über das Leben und machen in Tugend und Tüchtigkeit sein G. Es ist so nicht wenigen Auserwählten vorbehalten, sondern «vielen gemeinsam» (πολύκοινον), die es, wenn ihre Natur nicht in bezug auf Tugend verstümmelt ist, durch Belehrung und Fürsorge erwerben können. Tugend und G. sind in dieser Hinsicht nicht «vom Gotte geschickt» [6].
In diesem πολύκοινον des Tugenderwerbs und so des G. kommt die für Aristoteles grundlegende Abgrenzung gegen Platon und sein allein der Philosophie und ihrer Teilhabe an der jenseitigen Idee des Guten vorbehaltenes, nur durch diese vermitteltes G. zur Sprache. G. wird als menschliches G. gesucht (ἐζήτου μὲν ... τὴν εὐδαιμονίαν ἀνθρωπίνην) [7]; es muß als höchstes Gut für den Menschen und seine Praxis verfügbar und von ihm erwerbbar sein, während das absolute höchste Gut Platons, auch «wenn es existiert, eines ist und allgemein ausgesagt wird oder als abgetrennt und als es selbst an sich besteht, doch offensichtlich für den Menschen weder praktisch zu verwirklichen ist noch von ihm erworben werden kann» [8]. Ohne daß diese Absage an das höchste Gut im metaphysischen Sinn dessen Verneinung einschließt, geht Aristoteles damit zuerst vom Menschen und seiner Praxis in dem genauen Sinne aus, daß es hier «nicht um Theorie, sondern um Praxis» und um das geht, was, wie etwas, das zu Entscheidung und Wende führt, großes Gewicht für die Lebensführung hat [9]. Auf dieses höchste Gut sind alle gerichtet: «Alle tun alles wegen eines Guten, das ihnen das höchste Gut vorstellt» [10]; es wird von allen übereinstimmend G. genannt [11]; dazu gehört zugleich und ebenso elementar, daß die Meinungen über das, was dieses G. sei (τί), auseinandergehen. Die Menge hält anderes für G. als die Gebildeten; die einen meinen, es sei etwas, das in den Bereich des sinnlich Greifbaren gehört, Lebensgenuß, Ehre, Reichtum; der Kranke hält Gesundheit für G., der Notleidende den Besitz [12].
Aus diesen vorgegebenen Vorstellungen hebt Aristoteles – sie auf das in ihnen Gemeinsame hin auslegend und so seinen Begriff derεὐ. präzisierend – heraus: Mit ihnen ist erstens «auf gute Weise leben und gut gehen» (im Sinne der Tätigkeit) gemeint (τὸ εὖ ζῆν καὶ τὸ εὖ πράττειν) [13]; zweitens wird G. immer als ein Gut gewollt, das um seiner selbst, nicht um eines anderen willen und so als ein Gut gesucht wird, das in sich Ziel ist und nicht über sich auf weitere Ziele hinausweist (τέλειον ἀγαθόν) [14]; es ist drittens der Stand, der in sich «autark» ist und dem so das zur Verfügung steht, was notwendig ist [15], und dies durch ein volles Leben hindurch; eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und ein Tag oder eine kurze Zeit macht niemanden glücklich [16]. Das G., das wir um seiner selbst willen wollen, erweist sich so als Lebensstand für den Menschen, in dem er in einem Leben, das sich genügt und selbständig ist, bei sich selbst bleibt: «ein vollendeter und selbständiger Stand ist, so zeigt sich, das G.-Ziel alles Tuns und tätigen Lebens»: τέλειον δή τι φαίνεται καὶ αὔταρκες εὐδαιμονία, τῶν πρακτῶν οὖσα τέλος[17].
Praxis gehört zum Wesen alles Lebendigen, nicht nur des Menschen, weil alles Lebendige seine Natur und, was es von Natur sein kann, im tätigen Lebensvollzug verwirklicht und Praxis so mit Lebensweise (βίος) identisch ist [18]. Praxis des Menschen ist die tätige dem Menschen eigentümliche vernünftige Lebensweise, in der er auf seine Wirklichkeit gerichtet ist, um als Mensch zu lebendiger Verwirklichung seiner Natur im Können und Wirken zu gelangen. Telos als Ende und Ziel, Umwillen und Gut, gehört in seiner Identität [19] konstitutiv zur Praxis, sofern diese in sich auf das Ziel gerichtet ist und in ihrer Bewegung von ihm getrieben wird. Daher sagt Aristoteles, daß die Natur am Ende als Telos besteht: Wir erkennen etwas in seinem Wesen, wenn sein Werden vollendet und es fertig geworden ist, so beim Menschen, beim Pferde, beim Haus [20]. Tätigkeit und Tätigsein haben immer auch die Bedeutung der Verwirklichung der natürlichen Anlagen und Möglichkeiten; G. ist daher als Verwirklichung tätiges Wirken: Es macht keinen geringen Unterschied, ob man das Beste als «Besitz» oder als «Ausüben», als einen «Zustand» oder als «tätige Verwirklichung» sieht [21]. Ein Zustand besteht auch, ohne daß etwas Gutes vollbracht wird; die Guten und Schlechten unterscheiden sich im Schlafe nicht und sind schlafend die Hälfte des Lebens außerhalb aller Tätigkeit [22]. In Olympia werden nicht die Schönsten und Stärksten bekränzt, sondern diejenigen, die kämpfen und siegen. Im Leben erlangen das Gute und Schöne diejenigen, die auf rechte Weise handeln [23]. So gilt, daß G. in der Verwirklichung der vernünftigen Natur des Menschen als Tätigkeit der Seele besteht, und, da Tugend und Tüchtigkeit hierfür wesentlich sind, heißt es: «wer hindert uns, glücklich denjenigen zu nennen, der gemäß vollendeter Tugend (κατ' ἀρετὴν τελείαν) wirkt und über die äußeren Güter in ausreichender Weise verfügt, nicht eine flüchtige Zeit, sondern ein ganzes Leben» [24], und dies nicht im Leben des Einzelgängers (βίον μονότην), sondern mit Eltern, Kindern, Frau und überhaupt mit seinen Freunden und Mitbürgern [25]. Er bedarf der Freunde [26] und hält mit ihnen redend und denkend Umgang [27]; in der Freundschaft der Anständigen werden die Anständigen besser, indem sie miteinander wirken und darin einander korrigieren: «Edles wird vom Edlen gelernt» [28].
In allen diesen Bestimmungen wird bei Aristoteles die entscheidende – politische – Einsicht wirksam, daß es G. – tätige Verwirklichung der Vernunft – überhaupt erst da gibt und geben kann, wo die Polis als politische Gemeinschaft der Freien und Bürger zu ihrer vollen Entfaltung gekommen ist. Der große politische Satz des Aristoteles, daß der Mensch von Natur das Wesen ist, das darauf angelegt ist, in der Polis zur Verwirklichung seiner Vernunftnatur zu kommen [29], schließt ein, daß er in der Polis, gebildet und eingeübt in die Ordnung der Künste und Wissenschaften und in ihre sittlichen Ordnungen, er selbst wird. Wer nichts gelernt hat, ist nichts und gilt nichts; der Laie (ἰδιώτα) ist in allen Bereichen ausgeschlossen [30]. Er betritt nicht den Boden, auf dem es um den Menschen geht und rechte Entscheidung und Taten gefordert werden; das kritische Urteil gehört allein den Gebildeten und dem Wissenden (τοῖς πεπαιδευμένοις ... τοῖς εἰδόσιν) [31]. Alles, was im G. erstrebt wird, gehört so nicht dem isolierten Für-sich-sein der Einzelnen an, sondern denen, die in einem «bürgerlichen Leben» (βίος πολιτικός) zum Stande des Bürgers gekommen sind. Daher kann das Kind nicht glücklich sein; es ist seinem Alter nach noch nicht zu solcher Praxis fähig [32]; ebenso ist ein Jüngling kein geeigneter Hörer für eine «politische» Vorlesung; er ist unerfahren in der Praxis des bürgerlichen Lebens [33].
Zu diesem G. des bürgerlichen Lebens gehört für Aristoteles Tugend nicht nur aus Tradition, sondern exemplarisch dadurch, daß in der Polis alle Praxis – niemals unmittelbares Tun – die in den Künsten und Wissenschaften vermittelte Praxis ist. Sie muß erst vorhanden und beherrscht werden, ehe sich «gut und schlecht» an ihr unterscheiden können; die Tugend (Tüchtigkeit) des guten Zitherspielens setzt das (durchschnittliche) Zitherspielen voraus. Da «so das Werk eines Tätigen und eines auf tüchtige Weise Tätigen der Gattung nach dasselbe ist» [34], schließt G. notwendig Tüchtigkeit ein. Das wird zum Beispiel und Leitfaden auch für Tugend im ethischen Sinne, in der sich Gediegenheit, Verantwortung, Verläßlichkeit im Entscheiden und Handeln bewähren. Daher liegt die eigentliche Bestimmung menschlichen G. in der Tugend und Tüchtigkeit bürgerlichen Lebens. Zwar sieht es so aus, als wollten die Gebildeten das bürgerliche Leben um der Ehre willen [35]. Doch da sie von den Verständigen und Besonnenen in ihrer Tüchtigkeit geehrt sein wollen, erweist sich die Tugend als das Höhere und als das Ziel alles bürgerlichen Lebens [36].
Auch in diesem Stande des G. bleibt der Mensch den Zugriffen des Geschicks ausgesetzt, aber er besitzt in der Freiheit bürgerlichen Lebens und in seiner Tugend die Fähigkeit, es zu bestehen und sein eigenes Leben zu führen: «Wir sind zu der Überzeugung gekommen, daß vom G. jedem Einzelnen nur so viel zufällt, als ihm Tugend, vernünftige Einsicht und Besonnenheit in einem Wirken eigen sind, das diesem folgt» [37]. Daher gilt für die Polis, die diesen Stand bürgerlichen G. ermöglicht, daß sie zwar um der Notdurft willen entstanden ist, aber als Grund und Ziel für jedes selbständige Leben um des rechten und guten Lebens willen besteht [38]. In diesem Sinne ist das G. für die entwickelte Polis und für jeden einzelnen der freien Menschen identisch [39].
Erst an diese Theorie des bürgerlichen G. schließt sich für Aristoteles die Bestimmung des theoretischen (philosophischen) Lebens und seines G. an, das in der «Theorie» als freie, nicht notwendige Erkenntnis des Göttlichen und so als «theologische Wissenschaft» [40] doch Mitte und tragende Bestimmung der Philosophie ist. Das hat sachliche Gründe. Zwar setzt Aristoteles voraus, daß ein solches Leben der Theorie höher und stärker als alles menschliche Leben ist; es sei nur möglich, insofern im Menschen und seiner Natur ein Göttliches eingeschlossen ist [41]. In der Gründung auf die Vernunft als Göttliches in uns verhalte sich das theoretische Leben wie ein göttliches zum menschlichen Leben [42]. Da das Leben des Gottes allein «Theorie» ist, ist solches Leben in der Verwandtschaft zu Gott am meisten zum G. bestimmt (εὐδαιμονικωτάτη) [43] und der Philosoph der am meisten von Gott geliebte und der glücklichste Mensch [44].
Aber zugleich – und hier unterscheidet sich die aristotelische Position grundsätzlich von der Platons – ist die Theorie im bürgerlichen Leben der Polis angelegt und an dieses gebunden. Zeichen dafür ist die «Lust am Sehen», das freie Anschauen und Erkennen, das wir, «nicht nur damit wir handeln, sondern auch wenn wir nichts vorhaben zu tun, allem anderen vorziehen» [45]. Dazu kommt grundsätzlich, daß die Theorie als «theoretische Wissenschaft» die Ausbildung der Künste und Wissenschaften im Dienste der Notdurft voraussetzt und auf ihnen auf ruht [46]. Ihre Bedingung ist so die über den Anfang des Naturverhältnisses hinausgekommene Polis. In diesem Zusammenhang bleibt die philosophische Theorie als Muße «vollendetes G.». Aber Muße ist zugleich Bestimmung des bürgerlichen Lebens: Wir opfern (so heißt es) unsere Muße, um Muße zu haben, so wie wir Krieg um des Friedens willen führen [47]. Damit wird das G. der Theorie an das bürgerliche Leben zurückgebunden. Sofern der Philosoph Mensch bleibt und mit vielen zusammenlebt, wird er wünschen, gemäß der Tugend zu handeln. Er bedarf ihrer, um als Mensch leben zu können (πρὸς ἀνθρωπεύεσθαι) [48]. Der Philosoph bleibt Bürger der Polis, die Pflanzstätte seines G. und des G. der Freien in einem bürgerlichen Leben ist [49].
[1]
Aristoteles, Eth. Nic. (= EN) 1099 b 11–12.
[2]
1100 a 5–9.
[3]
a 10–12.
[4]
b 10.
[5]
b 30–32.
[6]
1099 b 15–20.
[7]
1102 a 15.
[8]
1096 b 32–35.
[9]
1095 a 5–6; 1094 a 22–24.
[10]
Pol. 1252 a 2–3.
[11]
EN 1097 a 34–b 6.
[12]
1095 a 20–25.
[13]
a 19–20.
[14]
1097 b 8; 1100 a 5.
[15]
Pol. 1253 a 28.
[16]
EN 1098 a 19–20.
[17]
1097 b 20–21.
[18]
De hist. an. 487 a 14–15; De part. an. 646 b 15.
[19]
Pol. 1252 b 32–34.
[20]
ebda.
[21]
EN 1098 b 31–34.
[22]
1102 b 5–8.
[23]
1099 a 3–7.
[24]
1101 a 14–16; 1098 a 16.
[25]
1097 b 8–11.
[26]
1169 b 16–22.
[27]
1170 b 11–12.
[28]
1172 a 10–15.
[29]
Pol. 1253 a 2–3.
[30]
1266 a 31; 1282 a 10–12.
[31]
1282 a 5–7.
[32]
EN 1100 a 1–2.
[33]
Vgl. 1095 a 1–3.
[34]
1098 a 8–9.
[35]
1095 b 19–23.
[36]
b 28–30.
[37]
Pol. 1323 b 21–23.
[38]
1252 b 28–30.
[39]
EN 1094 b 7–8; vgl. Pol. 1324 a 5–8.
[40]
Met. 1026 a 19.
[41]
EN 1177 b 26–28.
[42]
1177 b 30–31.
[43]
1178 b 23.
[44]
1179 a 31–32.
[45]
Met. 980 a 24ff.
[46]
981 b 20ff.
[47]
EN 1177 b 4–6.
[48]
1178 b 5–8.
[49]
Vgl. zum Ganzen G. Bien (Hg.): Aristoteles, Nik. Eth. (1972) 336ff.
4. Für die Stoa – wie für den Epikureismus – ist generell kennzeichnend, daß sie im Schwinden der politischen Freiheit der Polis G. in das Individuum in sich und für sich zurücknimmt, das ohne Halt und Grund im Politischen sich gegen äußere und innere Bedrohung, Unsicherheit und Anfechtung zu behaupten und einen Raum unantastbaren Selbstseins zu bewahren sucht. – Den Wandel der Welt hatte Aristoteles angekündigt: Nach dem Zerfall der griechischen Demokratie sei Einer – «ohne Zweifel sein Alexander», wie Hegel schreibt jetzt wie ein Gott unter den Menschen hervorgetreten und habe die Gesetzgebung und den auf die Gleichheit der Bürger gegründeten Staat der Polis gesprengt, indem er – nicht mehr unter das Gesetz gestellt – selber Gesetz sei [1].
Zenon von Kition, den Cicero «inventor» und «princeps» der Stoiker nennt [2], definiert G. als «guten Gang des Lebens» (εὐροία βίου) [3], führt dies aber inhaltlich auf die Übereinstimmung mit sich selbst zurück, die Kleanthes als Übereinstimmung mit der Natur begreift [4]. Die Natur im stoischen Begriff und in der Aufnahme des heraklitischen All-Einen der in allen gegenwärtigen Vernunft[5] meint die Weltordnung und den Himmel [6] und in Eins mit ihnen Gott in seinem Wesen, den ewig alles schaffenden [7] und in allem gegenwärtigen [8], der als Geschick (εἱμαρμένη) der Logos ist, der diesen Kosmos regiert [9]. Zenons «Übereinstimmung mit sich selbst», die von ihm entsprechend als Leben nach dem Einen Logos (καθ' ἕνα λόγον) und im Einklang mit ihm begriffen wird [10], meint so nichts anderes als die Übereinstimmung mit der Natur [11]. In beiden Formen wird Vernunft in der Zuordnung zur allgemeinen göttlichen Vernunft zum einzigen Ziel menschlichen Lebens [12]. Der Mensch stellt sich in der Nachfolge der Natur (τὸ ἀκολούθως τῇ φύσει ζῇν) auf die Vernunft und macht sie zum Grund und zur Norm seines Lebens und damit des G.; glücklich leben ist dasselbe, wie nach der Natur leben: «idem est beate vivere et secundum naturam» [13].
Mit dieser Begründung des G., die zunächst in der Tradition der Theorie des Göttlichen zu stehen scheint, die aber Chrysipps Kritik an der Theorie als Selbstzweck ausdrücklich abwehrt [14], wird, dem praktischen Sinn der Stoa gemäß, Tugend zum Fundament. Die Stoiker verneinen, daß jemand zum G. ohne Tugend zu kommen vermöge [15]; sie lehren positiv, daß Tugend allein (virtutem solam) für das glückliche Leben ausreicht [16]. Sie sei die seelische Verfassung (διάθεσις), auf der G. beruht, sofern es nicht aus Furcht oder Hoffnung erstrebt wird [17]. In dieser Weise wird G. einerseits im Sinne der griechischen Arete-Tradition aus der Masse herausgelöst, die G. nach dem Augenschein und gegen die Vernunft denen zuschreibt, die «mit Purpur bekleidet und bekränzt sind» [18], statt den Besitz ewiger Seligkeit (possessione felicitatis aeternae) als ein Gut des Gemüts zu begreifen [19]. Zugleich aber wird Tugend aus allen ethischen und institutionellen Zusammenhängen, auch aus der Beziehung zur Tüchtigkeit der Künstler, herausgelöst und so in gewisser Weise zum ersten Mal als inneres und vernünftiges Verhalten zur reinen Tugend umgemünzt. Cicero definiert sie als «rechte Vernunft» (recta ratio) [20]. Beispielhaft für das, was dies meint, ist Senecas Argumentation gegen die Bestimmung des G. aus dem Augenschein: «oculis de homine non credo»; ein besseres und gewisseres (certius) Licht gibt mir die Möglichkeit, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden und G. als Gut im Gemüt zu finden [21]. Vernünftiges und wahres Urteil sind (heißt dies) das Leben der Tugend; niemand kann glücklich genannt werden, der aus der Wahrheit verjagt ist. Stabilität und Unveränderlichkeit, die im wahren und gewissen Urteil gründen, werden zur unangreifbaren Basis von Tugend und G. [22]. Mit diesem Rigorismus der Wahrheit wird die Distanz wahrer Tugend zur sonstigen Welt verschärft; nicht nur die Masse, die dem sinnlichen Augenschein frönt, sondern ebenso alle diejenigen, die nicht aus rechter Vernunft wahr zu urteilen vermögen, sind von ihm ausgeschlossen. Wo nur derjenige, der Vernunft hat, alles gut macht (πάντα εὖ ποιεῖ ὁ νοῦν ἔχων) [23], kann es kein Mittleres (μεταξύ) zwischen Tugend und Schlechtigkeit geben [24]. Ihre Trennung ist für die ältere Stoa unaufhebbar. Nach Chrysipp bleibt auch derjenige, der Fortschritte auf dem Wege zur Tugend macht, doch ebenso wie der Schlechte im Elend [25].
Auch wenn dies später eingeschränkt wird (Seneca, Plutarch, Cicero, Augustin[26]), bleibt die leitende Bestimmung des G. aus Vernunft unberührt; sie ist in Einheit mit der göttlichen Vernunft der einzige Grund und die Wahrheit von Tugend und G.: Nur der Weise ist tugendhaft; in seinem Handeln sind alle Tugenden eingeschlossen [27].
Was diese Konzentration des G. auf Tugend und vernünftige Einsicht intendiert, läßt sich erst aus der Ausschaltung der Affekte und Leidenschaften (πάθη) und aus der für den Weisen konstitutiven Bedeutung der Apathie verstehen. Obwohl Apathie nicht wie das G. zum Ziel des Lebens gehört, ist sie doch wesentliche Bestimmung des Weisen (ἀπαθἦ εἶναι τὸν σοφόν) [28], so daß gelegentlich gesagt werden kann, die Tugend liege für die Stoiker in der Apathie [29]. Die Austreibung der Affekte (Lust und Trauer, Begierde und Furcht [30]) – «Stoici affectus omnes ... ex homine extollunt» [31] – erfolgt, weil sie «unvernünftige und wider die Natur gerichtete Bewegungen der Seele» sind und so im Widerspruch zum Leben gemäß der Natur stehen (Zenon) [32]. Aber zugleich sind die Affekte nicht von der Vernunft getrennt; sie gehen vielmehr schon für Zenon und Chrysippos aus einem verfehlten und falschen Urteil hervor und zerstören die Harmonie der Seele: «Der Affekt ist Vernunft (τὸ πάθος εἶναι λόγον), der aber schlecht und zügellos die Folge eines üblen und verfehlten, von Ungestüm und Heftigkeit befallenen Urteils ist» [33]. Affekte sind daher wie Krankheiten der Vernunft auszurotten [34]. Die Apathie ist Freiheit von Störungen für die Vernunft, die ohne Trübung von Affekten gelassen und in Ruhe wahr urteilen kann [35]. Dazu gehört die Überwindung der Todesfurcht in der äußersten Möglichkeit der Befreiung aus Not durch einen vernünftigen Freitod [36]: «malum est in necessitate vivere, sed in necessitate vivere necessitas nulla est» (schlecht ist es, in Not zu leben, doch in Not zu leben ist keine Notwendigkeit) (Seneca) [37].
Zu der erhabenen Größe und Strenge des auf Vernunft und Tugend gegründeten G. gehört einmal, daß es kaum oder nur in Annäherung realisierbar ist und so der Weise zur Idee und zum Ideal wird, in den alles, was stoisch Tugend und G. bedeuten, in vollkommener Weise inkorporiert wird. Der Weise ist absolut glücklich; er wird durch kein Unrecht und durch keine Schuld berührt [38]; er allein verfügt über die Wissenschaft [39]; er ist schön, allein frei und unbesiegt [40]; er ist göttlich und trägt gleichsam den Gott in sich [41]. Er ist in Wahrheit Herrscher, König und Führer aller; alles, was dem Gott gehört, gehört auch ihm [42]. In diesem alle Vollkommenheit in sich versammelnden Ideal des Weisen erscheint einmal die Unerreichbarkeit dessen, was stoische Vernunft, Tugend und G. bedeuten. Aber zugleich wird deutlich, wie die Stoa gegenüber einer Welt, in der der Mensch nicht mehr bei sich selbst sein kann und Freiheit nur als Freiheit von Gewalt und Furcht möglich ist, die Tugend in das Innere zurücknimmt und in der Festigkeit und Standhaftigkeit der Gesinnung die Freiheit und Autonomie der Vernunft zu behaupten sucht.
Darin hat Hegel die Größe und weltgeschichtliche Bedeutung der Stoa gesehen: Der Stoiker, der sich allein auf die Vernunft zu stellen sucht, macht sich «gleichgültig gegen Alles, was den unmittelbaren Trieben, Empfindung usf. angehört». In dieser «inneren Unabhängigkeit und Freiheit des Charakters in sich» liegt die Kraft, «die den Stoiker ausgezeichnet hat» [43].
[1]
Aristoteles, Pol. III, 1284 a 10–14; vgl. G. W. F. Hegel, Gesch. der Philos. II. Werke, hg. Glockner 18, 401.
[2]
Cicero, Acad. prior. II, 131 = SVF I, 181.
[3]
SVF III, 16.
[4]
I, 179. 552; III, 12.
[5]
Heraklit, VS 22 B 50; 40; 2.
[6]
SVF II, 1022.
[7]
II, 308.
[8]
II, 1046.
[9]
II, 915.
[10]
I, 179. 552.
[11]
Diog. Laert. VII, 87.
[12]
SVF III, 6. 15.
[13]
L. Annaeus Seneca, De beata vita, hg. mit Komm. P. Grinald (Paris 1969) 8, 2; vgl. 3, 3.
[14]
SVF III, 702.
[15]
III, 47.
[16]
III, 50.
[17]
Diog. Laert. VII, 89.
[18]
Hierzu vgl. H. Dahlmann: Bemerk. zu Senecas De beata vita (1972) 3ff.
[19]
Seneca, De beata vita a.a.O. [13] 2, 2.
[20]
Cicero, Tusc. IV, 15, 34 = SVF III, 198; vgl. Seneca, Ep. 76, 10 = SVF III, 200 a.
[21]
Seneca, a.a.O. [13].
[22]
5, 2.
[23]
SVF III, 567. 563.
[24]
Diog. Laert. VII, 127.
[25]
ebda.
[26]
Seneca, Ep. moral. ad Lucilium, hg. O. Hense (1898) 75, 8; Plutarch, Quomodo quis suos in virtute sentiat profectus 76 b. 79 b = Moralia, hg. F. C. Babbit (1949) 1, 406. 420; Cicero, De finibus IV, 24; Augustin, Ep. 167, 3 = MPL 33, 738.
[27]
SVF III, 567. 563.
[28]
Diog. Laert. VII, 117.
[29]
SVF III, 20.
[30]
III, 386.
[31]
III, 444.
[32]
I, 205.
[33]
III, 459. 462.
[34]
Seneca, Ep. ad Lucil. 116, 1; vgl. SVF III, 443f.; zum Ganzen vgl. J. Hengelbrock, Art. ‹Affekt I, 2›.
[35]
Vgl. H. Reiner, Art. ‹Apathie›.
[36]
SVF III, 757–768.
[37]
Seneca, Ep. 12. 10.
[38]
SVF III, 583.
[39]
III, 552.
[40]
III, 591.
[41]
Diog. Laert. VII, 119.
[42]
SVF III, 618.
[43]
G. W. F. Hegel, Gesch. der Philos. II. Werke, hg. Glockner 18, 459.
5. Diogenes Laertius beginnt die Darstellung Epikurs damit, daß er die Verdächtigungen und Schmähungen zusammenstellt, die die Stoiker ihm angehängt haben, um dann seine Menschenliebe, Verehrung der Götter und Bescheidenheit der Lebensführung in helles Licht zu stellen: sie haben Epikur im Kreis der Freunde und Schüler als «Vater» erscheinen lassen, der als Entdecker der Wahrheit väterlichen Rat zu geben, das Herz zu läutern (purgavit) und alle Begierde und Furcht in der Hinlenkung der Seelen zum höchsten Gut ein Ende zu setzen weiß [1]. Andererseits steht Epikur, indem er die Ataraxie, die leidenschaftslose Ruhe der Seele, zum Ziel und zum Inhalt des G. setzt, der Apathie der Stoa in der Überwindung von Furcht und Begehren so nahe, daß Varro die Auseinandersetzung zwischen ihnen einen «Streit um Worte» nennen kann [2]. Gleichwohl ist das stoische, von den Christen aufgenommene und verschärfte Verdikt gegen Epikur und die Epikureer, daß sie den homo carnalis und Lüstling in einer Philosophie des «Unglaubens und des Sinnengenusses» verkörpern, so wirksam, daß noch heute, was Epikur mit ‹G.› und vollkommener Daseinsfreude meint, der befreienden Deutung und Abschirmung gegen das übermächtige Vorurteil bedarf [3].
Grund und Voraussetzung für alles ist die Philosophie; daher mahnt Epikur den Menoikos immer zu philosophieren und alle Mühe dem zuzuwenden, was uns zum G. verhilft: «Wenn es gegenwärtig ist, haben wir alles, wenn es fehlt, tun wir alles, um es zu haben» [4]. Eine Betrachtung, die sich vom Irrtum freihält, wird so alles Wählen und Meiden auf die Gesundheit des Leibes und auf die leidenschaftslose Ruhe der Seele (τὴν τῆς ψυχῆς ἀταραξίαν) beziehen, um das Ziel eines seligen Lebens zu erreichen (τοῦτο τὸ μακαρίως ζῆν ἐστι τέλος) [5], dessen Grund und Ziel, wie wir sagen, die Lust (ἡδονή) ist: erstes Gut, angeboren, Ausgangspunkt für alles Wählen und Meiden, Richtschnur für die Beurteilung jedes Guten [6]. Auf diese Abstellung des G. auf die Lust, die angeboren das Leben als solches trägt und unmittelbar auch leibliche und sinnliche Lust und Genießen ist, bezieht sich die Schärfe der stoischen und christlichen Absage an Epikur. Es sind von ihm Äußerungen überliefert, nach denen ein Gut ohne Geschmack, Liebe, Gehör und ohne den Sinn für das Sehen von Gestalten nicht vorgestellt werden kann [7]. Aber zugleich gilt, daß Lust als Ataraxie und Schmerzlosigkeit (ἀπονία) höher selbst als Freude und Heiterkeit steht [8]: Wenn wir «Lust» das Ziel nennen, dann meinen wir nicht die Lust des Schlemmers, sondern Schmerzlosigkeit für den Leib und Freiheit von Verwirrung für die Seele [9]; dafür, daß wir ohne Schmerz und Schrecken leben, tun wir alles [10]. Die Tugend allein ist unabtrennbar von Lust [11].
Doch nicht im «Hedonismus» als solchem ist die Lehre vom G. bei Epikur begründet; Schlüssel für sie ist vielmehr die Befreiung des Menschen von der Furcht durch die Philosophie: sie – und sie allein – löst ihn aus den Vorurteilen der Religion durch die Erkenntnis der wahren Ordnung der Dinge heraus und befreit ihn damit von der Furcht vor dem Zukünftigen (ἀφοβία τῶν μελλόντων) [12]. Die schwerste Beunruhigung erwächst dem Menschennerzen daraus, daß man die Himmelswesen für glücklich und unvergänglich hält, ihnen aber gleichwohl Wünsche und Handlungsweisen in bezug auf die Welt und den Menschen zuweist, und ebenso aus der Erwartung ewiger Pein; die von den Mythen veranlaßt wird. Die Ataraxie stellt sich für den ein, der sich hiervon frei macht und beständig an das Ganze denkt. Wir befreien uns von den Übeln, indem wir uns über die Ursachen der Himmelserscheinungen klar werden, die die übrigen Menschen in Schrecken versetzen [13]. Die Schrecken und die Verfinsterung der Seele verscheucht nicht der Strahl der Sonne und des Tages leuchtende Helle, sondern allein der Begriff und die Vernunft der Natur [14]. Nur die Vernunft hat Macht über die furchterregende Religion [15]. Den Kern epikureischer Weisheit bilden so die Befreiung aus der Bindung an die Religion und der Vollzug dieser Befreiung durch die Erforschung und Untersuchung der Natur. Wo die Einsicht in die verborgenen Gründe fehlt, erfaßt die Angst vor den Göttern das Gemüt, die ihnen Herrschaft über die Welt und göttliche Macht verleiht [16].
Für Epikur (anders als für Lucretius) bedeutet dies nicht die schroffe Verneinung der Götter; er ehrt sie in der Reinigung ihrer Vorstellung von dem, was aus dem Vorurteil der Vielen hervorgeht, als unvergängliche und selige Wesen, die frei von der Sorge für die Welt und den Menschen fern in den Intermundien leben; «gottlos» ist der, der ihnen die Vorstellungen des gemeinen Volkes andichtet [17]. Dazu gehört die Befreiung von der Furcht vor dem Tode, der uns unberührt läßt, da wir nur in der innigen Verbindung von Leib und Seele bestehen können [18].
Auf dieser Befreiung von Furcht vor den Göttern und vor dem Tode beruht die Gewöhnung an eine einfache, nicht kostspielige Lebensweise, die uns furchtlos gegenüber den Launen des Schicksals macht [19], die gelassene und milde Heiterkeit des epikureischen G. Der Weise weist das Leben nicht zurück und hat keine Furcht davor zu leben [20]. Er wird angemessen für die Zukunft sorgen und Lust in der nüchternen Verständigkeit suchen, die die Gründe des Wählens und Meidens zu bestimmen sucht [21]. Er lebt in Gesprächen und im Umgang mit Freunden ein Leben in der Verborgenheit [22] und sieht vom «heiteren Tempel» der Weisheit gelassen auf das Treiben der anderen. Er hält sich vom Politischen fern (οὐδὲ πολιτεύεσθαι) [23] und lebt in der Freude an der Forschung [24]. Er sucht ständig die Süße des Lebens in einem von Verstand, Schönheit, Gerechtigkeit und von Einsicht geleiteten Leben und in der Einheit mit ihm [25].
So verdichtet sich mit Epikur noch einmal das G. zum Stande des Menschen, der in der Distanz zur Welt die heitere Gelassenheit als Seligkeit (μακαρίως ζῆν) weiß.
In der römischen Kaiserzeit öffnet diese Sphäre des G. sich auf mannigfachen Wegen insbesondere in der Erneuerung der platonischen Flucht ins Jenseits und in der Angleichung an Gott. Seneca, Marc Aurel, Epiktet und andere sind die Zeugen. «Als Antoninus (so heißt es bei Marc Aurel) habe ich Rom zur Stadt und zum Vaterland (πόλις καὶ πατρίς), als Mensch den Kosmos» [26]. Das wird schließlich bei Plotin in unmittelbarer Anknüpfung an die stoische Forderung, «der Natur des Ganzen zu folgen» [27], aufgenommen und unmittelbar in das religiöse Verhältnis umgesetzt. Wer weise und glücklich sein wolle, müsse zu jenem (dem transzendenten Guten) hinblicken und ihm sich angleichen und nach seiner Richtschnur leben [28]. Ein solcher wird nach dem Tode die Einung, von aller leiblichen Belastung befreit, ewig genießen [29]. Das G. wird zur jenseitigen Seligkeit. Das wird von der christlichen Lehre aufgenommen, verwandelt und angeeignet.
Joachim Ritter
[1]
Diog. Laert. X, 6ff.; T. Lucretius Carus, De rerum natura, hg. lat./dtsch. H. Diels 1. 2 (1924) VI, 24–27; III, 1–30.
[2]
Porphyrios, Ad Hor. Sermo II, 4, 1 = SVF III, 449.
[3]
W. F. Otto: Wirklichkeit der Götter (1963) 10ff.; vgl. A. Müller, Art. ‹Epikureismus›.
[4]
Diog. Laert. X, 122.
[5]
a.a.O. X, 128.
[6]
X, 128f.
[7]
Epikur, Frg. 67, hg. Usener.
[8]
Diog. Laert. X, 136.
[9]
a.a.O. X, 131.
[10]
X, 128.
[11]
X, 138.
[12]
X, 122.
[13]
Br. an Herodot a.a.O. X, 81. 82.
[14]
Lukrez, a.a.O. [1] II, 14–61.
[15]
ebda.
[16]
VI, 52–57.
[17]
Br. an Menoikos bei Diog. Laert. X, 123.
[18]
Lukrez, a.a.O. [1] III, 846.
[19]
Diog. Laert. X, 131.
[20]
a.a.O. X, 126.
[21]
X, 132.
[22]
Frg. 531, hg. Usener.
[23]
Diog. Laert. X, 119. 120.
[24]
a.a.O. X, 118–120.
[25]
X, 140; Dogmata V.
[26]
Marc Aurel, hg. K. Hoenn (1951) VI, 44 a; vgl. M. Pohlenz: Die Stoa. Gesch. einer geistigen Bewegung (31964) 1, 351.
[27]
Plotin, Enn. I, 4, 7.
[28]
a.a.O. I, 4, 16.
[29]
VI, 9, 10.
R. Arnou: Le désir de Dieu dans la philos. de Plotin (Paris 1915). – F. Boll: Vita contemplativa. Festrede zum 10jährigen Stiftungsfeste der Heidelb. Akad. Wiss., Stiftung H. Lanz am 24. 4. 1920 (21922). – J. F. Haussleiter: Der G. Gedanke bei Plato, Arist. und Spinoza (Diss. Greifswald 1923, Ms.). – F. Wehrli: Lathe Biosas. Stud. zur ältesten Ethik bei den Griechen (1931). – J. Léonard: Le bonheur chez Arist. (Brüssel 1948). – G. Lieberg: Die Lehre von der Lust und die Ethiken des Arist. (1958). – H. D. Voigtländer: Die Lust und das Gute bei Platon (1960). – G. Müller: Probleme der arist. Eudämonielehre. Mus. helv. 17 (1960) 121ff. – E. Hoffmann: Lebensfreude und Lebensfeier in der griech. Philos., in: Platonismus und christl. Philos. (1960) 169ff. – Th. Merlan: Zum Problem der drei Lebensformen. Philos. Jb. 74 (1966) 217ff. – J. Ritter: Das bürgert. Leben. Zur arist. Theorie des G., in: Met. und Politik (1969) 57ff. – R. Maurer: Platons ‹Staat› und die Demokratie. Hist.-systemat. Überlegungen zur polit. Ethik (1970). – D. Roloff: Gottähnlichkeit, Vergöttlichung und Erhöhung zu seligem Leben (1970). – A. Müller: Autonome Theorie und Interessedenken. Stud. zur polit. Philos. bei Platon, Arist. und Cicero (1971). – W. Pesendorfer: Zum Begriff der Eudämonie bei Arist. (Diss. Wien 1971). – G. Bien: Die menschl. Meinung und das Gute. Zur Behandlung des Normproblems in der Arist. Ethik, in: Rehabilitierung der prakt. Philos., hg. M. Riedel (1972) 345–371; Vernunft und Ethos. Zum Ausgangsproblem der Arist. Ethik, in: Arist., Nik. Eth., hg. G. Bien (1972) XVII–LIX; Die Grundlegung der polit. Philos. bei Arist. (1973). – Vgl. Lit. zu Art. ‹Ethik I›.
II. – 1. Das Thema der beatitudo (= B.) stellt sich dem mittelalterlichen Denken von Anfang an und ausschließlich als theologisches Problem, und zwar aufgrundder Quellen. Deren erste ist die Hl. Schrift mit den Makarismen in den beiden Testamenten: Das griechische μακάριος und das seltene μακαρισμός (Röm. 4, 6. 9) gibt die Vulgata-Übersetzung mit ‹beatus› bzw. ‹beatitudo› wieder. Die andere Quelle ist Augustinus mit der beherrschenden Rolle der B. in seiner Theologie. Daß er hier wie sonst nicht nur Zeuge des biblisch-christlichen Glaubens, sondern überdies Vermittler des von ihm christlich umgedeuteten griechisch-philosophischen, besonders neuplatonischen Denkens ist, bleibt anfangs verdeckt durch die Autorität des Bischofs von Hippo als des authentischen Lehrers der Christenheit. Gleichwohl hat Augustinus selbst die Brücke geschlagen, auf dem im Mittelalter die Begegnung des biblischen μακαρισμός mit der griechischen εὐδαιμονία sich ständig (und konfliktreich) vollziehen konnte: Er bezeichnet ‹beatitudo› als synonym mit ‹felicitas›, dem lateinischen Übersetzungswort für εὐδαιμονία[1]. Das B.-Thema gewinnt seine volle Bedeutung und seine das Denken beherrschende Kraft in dem Maße, als man zu anderen, offenkundigen Vermittlern griechischer Philosophie (Boethius!) Kontakt aufnimmt und schließlich die griechische Philosophie, besonders Aristoteles und die Neuplatoniker, im Original studiert und mit dem christlichen Denken konfrontiert. Hand in Hand damit greift das Thema von der Eschatologie und der theologischen Anthropologie über auf das Gebiet der theologischen Ethik und wird schließlich deren Ansatz überhaupt. Es ist wie eine Gegenprobe, daß das B.-Thema in dem Augenblick seine dominierende Stellung einbüßt, als in der kurz vor der Reformation einsetzenden augustinistischen Reaktion gegen den Ockhamismus und schließlich in der Reformation selbst die Stellung der griechischen Philosophie, insbesondere des Aristotelismus, innerhalb der theologischen Reflexion überhaupt kritisch wird. Die neuzeitliche Frage nach dem «Eudämonismus» als Problem einer philosophischen Ethik ist für das Mittelalter ein Anachronismus, da die mittelalterlichen Kontroversen um das Verhältnis zwischen Caritas als «interesseloser» Liebe zu Gott um seiner selbst willen und dem scheinbar ganz ichbezogenen Streben nach der eigenen B. gerade von der Voraussetzung ausgehen, daß das Problem der B. nur innerhalb seines theologischen Kontextes bedenkenlos gelöst werden kann.
2. Wie in den meisten anderen Problemkreisen ist auch hier die Frühscholastik nach Thematik und Geist zusammengefaßt in der Doktrin des ‹Vaters der Scholastik›, des Anselm von Canterbury. Der Mensch ist für ihn deshalb als rationales Wesen erschaffen und in den Stand der «Gerechtigkeit» versetzt worden, damit er einst im «Genuß» (fruitio) Gottes glückselig (beatus) sei, und andernfalls wäre er vergeblich (frustra) ein rationales Geschöpf [2]. An diesem genuin augustinischen Gedanken ist bedeutsam einmal, wie hier, in Gestalt der über den biblischen Befund hinausgehenden Interpretation der B. als ewiger Glückseligkeit (= G.) nach dem Tode, das biblische Thema sogleich in einer griechischen Rezeption erscheint, die aber, weil durch Augustinus vermittelt, erfolgreich ihre christliche Legitimität vindizieren kann; zum anderen, daß hier der eschatologische Aspekt mit dem anthropologischen streng gekoppelt auftritt; und daß, drittens, aufgrunddieser Zusammenhänge einerseits das Thema der B. der Schlüssel sowohl zur christlichen Existenz als auch zur theologischen Reflexion nach dem Programm des «credo ut intelligam» wird und anderseits gerade nicht der Grundbegriff einer selbständig entwickelten Ethik. – Wie auf anderen Gebieten, so ist auch hier die unmittelbare Folgezeit dem komplexen Denken Anselms nicht gewachsen. In den Schulen des Anselm von Laon, des Hugo von S. Viktor, bei Robert von Melun und anderen begegnen wir zwar einem allmählich sich entfaltenden eschatologischen Traktat, bei Hugo auch sachlichen Synonymen für B., aber nirgends einer wirklichen Verarbeitung dieses Themas. Den nächsten Schritt nach vorn leistet erst Peter Abaelard, und zwar diesmal mit ausdrücklichem Bezug zur Ethik. In seinem unvollendeten ‹Dialog zwischen einem Philosophen, einem Juden und einem Christen› erhebt er die B. zum Grundaxiom der Ethik und sucht auf diese Weise die Überlegenheit der christlichen über die heidnische und jüdische Moral zu erweisen: Wahre Ethik besteht in der Entdeckung des höchsten Gutes, das in der auf dieser Erde nicht zu erlangenden G. besteht; eben dies ist der Sinn der evangelischen Seligpreisungen [3]. Abaelards Schüler greifen diesen Ansatz nicht auf, weil er Eigengut des ‹Dialogs› ist und die Schüler von den Hauptwerken des Meisters ausgehen. – Der nächste Schritt ist von Petrus Lombardus zu erwarten. Er eröffnet seine ‹IV Libri Sententiarum› mit der Augustin entnommenen Aufteilung des theologischen Stoffes in ‹res et signa› [4]. Die res zerfallen gemäß der Unterscheidung von uti und frui in solche, «quibus fruendum est, aliae quibus utendum est, aliae quae fruuntur et utuntur. Illae quibus fruendum est, nos beatos faciunt. Istis quibus utendum est, tendentes ad beatitudinem adjuvamur ... Res vero quae fruuntur et utuntur nos sumus ...» [5]. Dem entsprechend ergibt sich die Thematik der vier Bücher: Gott – Schöpfung – Mensch (Christus, Tugend, Gesetz) – Sakramente (= signa) und Eschatologie. In ganz augustinischem Geist ist damit alles, was die Theologie zu sagen hat, unter das umgreifende Thema der B. gestellt. Darüber hinaus greift der Lombarde im weiteren Verlauf seines Werkes, wenn auch über literarische Vermittlungen, sowohl den Ansatz Anselms wie den Abaelards auf. Zu Beginn des II. Buches erklärt er die Erschaffung der rationalen Wesen von ihrer Bestimmung für die ewige G. in der vollkommenen Erkenntnis und Liebe Gottes her [6]. Später stellt er die Tugendlehre unter das gleiche Thema: Der Gipfel der Rechtheit des Willens ist die G., das ewige Leben, und diese G. ist Gott selbst. Diese B. stiftet die Einheit aller moralischen Akte [7]. Die Eschatologie endlich stellt im Zusammenhang mit der B. das ‹desiderium naturale› zur Debatte [8]. Merkwürdigerweise hat der Lombarde keines seiner methodologischen Programme verwirklicht: Die faktische Entfaltung verläuft in jedem Falle ganz anders; die Behandlung des desiderium naturale krankt am Fehlen einer Unterscheidung von Natur und Gnade. So hat Petrus Lombardus der Folgezeit unumgänglich das Thema der B. gestellt, als Grundbegriff der Theologie überhaupt wie auch speziell als Schlüsselbegriff der Ethik, und das mußte sich besonders auswirken, als seit etwa 1225 die ‹Sentenzen› das offizielle Lehrbuch der Theologie an der Pariser Universität und damit der Sentenzenkommentar die primäre literarische Gattung der theologischen Arbeit wurde.
3. Vom Beginn der Hochscholastik an ist fast jeder bedeutende Theologe auch ein Markstein in der Entfaltung des B.-Problems. Wilhelm von Auxerre bietet in seiner ‹Summa aurea› die erste großangelegte theologische Ethik der Scholastik. Der B.-Begriff ist nicht ihr Leitgedanke – dieser ist das Thema des göttlichen Gebotes –, aber die B. ist ihm, unter Rückgriff auf den siebenten Makarismus der Bergpredigt, der Gipfel der Ethik [9]. Er trifft zwei wichtige und zukunftsträchtige Unterscheidungen, die zwischen der unvollkommenen G. des irdischen Lebens und der vollkommenen G. der eschatologischen Vollendung einerseits und die zwischen Gott als G. und der G. als menschlichem Akt anderseits. Mit der ersteren Unterscheidung, bei der ihn besonders die G. dieses Lebens interessiert, verstärkt er die Bedeutung der B. für den Aufbau der theologischen Ethik, mit der zweiten schafft er den Raum für die Lösung des nun dringlich werdenden Problems, wie Gott nicht zum Mittel der Befriedigung des menschlichen G.-Hungers degradiert und wie der Caritas ihre Selbstlosigkeit und ihr absoluter Rang in der christlichen Existenz gesichert werden kann. – Bei Wilhelm von Auvergne werden das griechische und das christliche Gedankengut erstmalig als zwei verschiedene Gedankenströme reflex bewußt und zugleich zum Zusammenfluß gebracht. In seiner ‹Summa de vitiis et virtutibus› [10] ist die B. = felicitas aeterna das Einzige, was um seiner selbst willen zu lieben ist, der Sinn menschlicher Existenz. Dieser nur theologisch mögliche Gedanke wird begründet mit Aristoteles und Boëthius. Wilhelm unterscheidet, soweit bekannt, erstmalig zwischen natürlicher, d.h. selbstbezogener, und gnadengeschenkter Liebe. Allein die letztere macht gerecht: Man kann nicht gerecht sein mit einer Liebe, die nicht Gottes Ehre als Höchstes erstrebt. Aber in die Endgültigkeit dieser Gottesliebe wird die rechte Selbstliebe, die den Prinzipien der Natur entspringt, eingebracht, so daß im Widerspruch zu Augustinus nicht jede Selbstliebe böse ist, sondern nur ein «amor privatus», der die Ehre Gottes, statt als oberstes Ziel, als Mittel zur Selbstvollendung setzt – innerhalb des B.-Problems der erste Sieg des aristotelischen Naturdenkens über den Natur und Gnade nicht unterscheidenden Augustinismus. – Für die mit Alexander von Hales beginnende ältere Franziskanerschule ist insgesamt charakteristisch, daß der B.-Gedanke – in Anknüpfung an den Lombarden, denn man schreibt Sentenzenkommentare! – Leitthema und Aufteilungsprinzip der ganzen Theologie, aber eben deswegen nicht spezieller Schlüsselbegriff der Moral wird, was anderseits die energische Ausgestaltung des speziellen Traktates ‹De beatitudine› nicht hindert. Mittels der Unterscheidung von B. increata und creata (Alexander in seiner Sentenzenglosse) bzw. der zwischen Objekt und Subjekt der B. (Alexander in seinen Quaestiones disputatae) schützt man sich gegen die Gefahr, die der Selbstlosigkeit der Caritas von der B. her drohen könnte. Man studiert die Frage nach dem psychischen Träger der G. (nach Alexander die Seele selbst, nicht eines ihrer Vermögen, wegen des umfassenden Charakters der B.). Die schon bei Alexander vermehrten Berufungen auf Aristoteles und Boëthius führen bei seinem Schüler Johannes de Rupella bereits zu einem Übergewicht der philosophischen Referenzen gegenüber den Berufungen auf Augustinus; die Boethius-Definition ist seit ihm klassisch in der Scholastik. Die Theologie Bonaventuras, des Schülers beider, hält sich auf der Linie und Höhe seiner Vorgänger. – Die ersten Dominikanermagistri sind, verglichen mit den zeitgenössischen Franziskanern, im Hinblick auf das G.-Thema wenig originell, jedenfalls in den Schulschriften; in den erbaulichen Schriften wissen sie, vor allem in der Auslegung der Seligkeiten der Bergpredigt, viel zum Thema zu sagen. Der große Durchbruch aber kommt mit Albert dem Grossen. Schon 1215 hatte der Kardinal Robert von Courson an der Pariser Artistenfakultät u.a. das Studium der ‹Nikomachischen Ethik› des Aristoteles verteidigt und empfohlen, jedoch, von vereinzelten und einflußlosen Kommentaren zu Buch I (‹Ethica nova›) und Buch II–III (‹Ethica vetus›) abgesehen, zunächst ohne Echo. Hauptgrund: Erst 1246/47 lernte man durch die Übersetzung des Robert Grosseteste die ‹Nikomachische Ethik› überhaupt vollständig kennen. Albert scheint mit seinem von Thomas von Aquin gesammelten und redigierten ‹Cursus ineditus› [11], 1248/52 in Köln vorgetragen, der erste, der im Mittelalter die ‹Nikomachische Ethik› vollständig kommentiert hat. 1268–1270 hat er in der ‹Paraphrase› das Aristotelische Werk ein zweites Mal erklärt [12]. Der Traktat ‹De beatitudine› im allgemeinen wie seine moraltheologische Bedeutung gewannen damit gewaltige Bereicherung und ganz neue Fragen hinzu. Die theologisch-systematische Stellung des Themas aber war durch den Duktus des Aristotelischen Textes – allgemeine Behandlung des Themas in Buch I und erst in Buch X die endgültige Ausarbeitung – nicht vorentschieden, sondern gerade zur Aufgabe gestellt. Die gedankliche Synthese des neuen Materials und der theologischen Tradition ist nicht mehr Leistung des Albert, sondern die seines Schülers.
4. Thomas von Aquin. Den Vorgegebenheiten entsprechend handelt er von der G. im Kommentar zur Nikomachischen Ethik sowie zu den Seligpreisungen der Bergpredigt, innerhalb der systematischen Werke in der Gotteslehre, der Ethik und der Eschatologie. Für den Aristoteleskommentar ist typisch, wie sich trotz des Vorsatzes, nur die «intentio Aristotelis» zu erfragen, die selbstverständlich nur auf die G. in diesem Leben abzielt, unter der Hand die aristotelischen Bestimmungen mit christlichen Gehalten füllen. Umgekehrt wird die Bergpredigt nicht nur im Sinne der ererbten Gedanken als Verkündigung der G. des ewigen Lebens und als Wegweisung zu ihr verstanden, sondern zugleich als Widerlegung der unzulänglichen G.-Verheißungen der heidnischen Philosophen, Aristoteles nicht ausgenommen. In den systematischen Werken verdankt sich die Frage nach der G. Gottes einem hellenistisch beeinflußten, von 1. Tim. 1, 11 und 6, 15 her sich im christlichen Raum schnell durchsetzenden Sprachgebrauch, Gott ‹beatus› zu nennen. Außerdem wird in der Frage nach der Gottesschau ein Stück des eschatologischen Aspektes der G. vorweggenommen. Das eigentlich Neue bei Thomas aber ist die ganz unter das G.-Thema gestellte, aber jetzt entschieden mit aristotelischem Instrumentarium durchkonstruierte theologische Ethik (soweit man bei Thomas von einer solchen sprechen kann). Die christlich-theologische Verwandlung des philosophischen Themas erscheint am bezeichnendsten in der Tatsache, daß Thomas im Gegensatz zur ‹Nikomachischen Ethik› den ausgearbeiteten Traktat über die G. an den Anfang der Ethik setzt, mit der «ratio communis beatitudinis» beginnt, dann die Güter durchmustert, ob in ihnen die G. beschlossen sein könne – dabei gegebenenfalls ausführliche Auseinandersetzung mit den alten Philosophen –, und diesen aristotelischen Gedankengang zu der Aussage vortreibt, allein in der gnadengeschenkten seligen Gottesschau nach diesem Leben sei die G. beschlossen. Daran schließen sich die Spezialfragen über Träger, Konsequenzen des Aktes der G. und über die Erlangung der G. an. Bemerkenswert und in der Folgezeit umstritten ist die These, daß die G. formell ein Akt des spekulativen Intellektes und erst in sachlicher Konsequenz, wenngleich in existentieller Koinzidenz, auch fruitio des Willens sei, und dies deswegen, weil die B. formell ein Akt derjenigen Potenz sei, die den Gegenstand der G., Gott, gegenwärtig mache und dem Willen allererst zur fruitio darbiete [13]. Daß die G. in der fruitio ihren Abschluß findet, bestreitet Thomas nicht. Die gesamte Ethik wird, in Verbindung mit der Eschatologie und schon mit Christologie, Soteriologie und Sakramentenlehre vor dem Hintergrunddes G.-Themas aufgebaut. Der Weg des Menschen zu Gott ist dabei nicht nur Vorbereitung auf den Empfang der G., sondern der Prozeß eines Wachstums der jetzt schon empfangenen B. aus ihrer unvollkommenen irdischen Gestalt zu ihrer eschatologischen Vollendung. Damit wird aber der B.-Gedanke für den Bereich der Ethik zur Variante des Grundthemas der thomanischen Theologie: der einen, alles umgreifenden Bewegung, in der Gott alle Dinge aus seiner Güte entläßt und wieder zu sich als Ziel «heimholt» («Egreß-Regreß-Schema»). Der B.-Begriff ist damit von Anfang an gefüllt mit der Wirklichkeit der Heilstat Gottes und damit ein streng theologischer Begriff.
5. Das Thema der B. ist in der Scholastik nach Thomas zu keinen neuen Höhen mehr geführt worden. Anderseits hatte es nun unbestrittenes Heimatrecht in der Theologie und bietet weiterhin Anlaß zu Kontroversen um Einzelfragen. Deren bemerkenswerteste ist seit dem Gegensatz zwischen Thomisten und Skotisten die Frage, ob die G. wesentlich ein Akt des Verstandes oder des Willens sei. Duns Scotus und seine Schule entscheiden sich für die zweite These. Dahinter stehen weitläufigere Voraussetzungen hinsichtlich der Lehre vom Willen im Verhältnis zum Intellekt sowie unterschiedliche exegetische Akzentsetzungen, was sich beides hier ebenso auswirkt wie in anderen Problemkreisen (z.B. Freiheit). – Luthers frühe Lehre von der «resignatio in infernum» als Spitze des Sich-Verhaltens zu Gott, d.h. also vom Verzicht auf die G., im Falle Gott das verlangt [14], ferner der Ausschluß einer rechtmäßigen Selbstliebe so wie die Verdammung einer Erfüllung des göttlichen Gesetzes mit Blick auf den Lohn, selbst den von Gott verheißenen, beenden in der Theologie, jedenfalls außer halb der alten Schulen, die Möglichkeit, die theologische Ethik vom G.-Gedanken her zu entfalten; die Durchkreuzung des Strebens nach der ewigen G. durch den scharf herausgestellten Gerichtsgedanken nimmt der Theologie die Möglichkeit, die Eschatologie vom B.-Gedanken her zu entwickeln; beides zusammen aber macht eine auf den G.-Gedanken aufgebaute theologische Anthropologie unmöglich; an ihre Stelle tritt die Dialektik von Gesetz und Evangelium. Die theologische B.-Spekulation des Mittelalters ist damit zu Ende. Als philosophisches Thema aber kann sie in einer letztlich durch Luthers «sola fide» ermöglichten «weltlichen» Ethik neu zum Problem werden.
Otto Hermann Pesch
[1]
Vgl. Thesaurus Linguae Latinae 2 (1900–1906) 1794–1796; 6/1 (1912–1926) 426–434.
[2]
Anselm, Cur Deus homo II, 1, hg. Schmitt, in: Opera omnia (Seckau 1938, Rom 1940, Edinburgh 1946ff.) 2, 97–98.
[3]
Abaelard, Dialogus inter Philosophum, Judaeum et Christianum. MPL 178, 1641ff.
[4]
Petrus Lombardus, IV Libri Sententiarum I, d. 1, 1 (Quaracchi 21916).
[5]
a.a.O. c. 2.
[6]
a.a.O. II, d. 1, c. 4.
[7]
a.a.O. II, d. 38, c. 1–3.
[8]
a.a.O. IV, d. 49, c. 1.
[9]
Wilhelm von Auxerre, S. aurea, hg. Pigouchet (Paris 1500) fol. 193 c; weitere Texte bei Guindon (s. Lit.) 45–55.
[10]
Wilhelm von Auvergne, S. de vitiis et virtutibus (Paris/Orleans 1674); Texte bei Guindon (s. Lit.) 45–55.
[11]
Albert, ‹Cursus ineditus› im Druck in der Editio Coloniensis (1951ff.).
[12]
In decem libros Ethicorum, hg. Borgnet, in: Opera omnia (Paris 1890ff.) Bd. 7.
[13]
Thomas v. Aquin, S. theol. I/II, 3, 3–8.
[14]
Luther, Römerbriefkommentar (1515/16). Weimarer A. 56, 388ff.
Literaturhinweise. – Wichtigste Quellen: Anselm von Canterbury: Cur Deus homo, a.a.O. [2] 2, 37–133. – Petrus Abaelardus: Dialogus inter Philosophum, Judaeum et Christianum, a.a.O. [3]. – Petrus Lombardus: IV Libri Sententiarum, a.a.O. [4]. – Wilhelm von Auxerre: S. aurea in quatuor libros sententiarum, a.a.O. [9]. – Wilhelm von Auvergne: S. de vitiis et virtutibus, a.a.O. [10]. – Albertus Magnus: In decem libros Ethicorum, a.a.O. [12]. – Thomas von Aquin: In decem libros Ethicorum Aristotelis ad Nicomachum expositio (1271/72) lib. 1 et 10; In Evangelium S. Matthaei lectura (1256/59 [?]) cap. 5; S. contra gent. I, 100–102; III, 1–63; S. theol. I, 12. 26; I/II, 1–5. – Sekundärliteratur: A. Gardeil: Béatitude, in: Dictionnaire de théol. catholique II/1 (Paris 1923) 497–515. – M. Wittmann: Die Ethik des hl. Th. v. Aquin in ihrem systematischen Aufbau dargestellt und in ihren gesch., bes. in den antiken Quellen er forscht (1933) 20–72; Th. v. Aquin und Bonaventura in ihrer G. Lehre miteinander verglichen, in: Aus der Geisteswelt des Mittel alters. M. Grabmann zum 60. Geburtstag, hg. A. Lang u.a. (1935) 749–758. – E. Gilson: Le thomisme. Introduction à la philos. de saint Th. d'Aquin (Paris 11948) 332–348. 488–496; Johannes Duns Scotus. Einführung in die Grundgedanken seiner Lehre (1959) 615–624. – L. B. Gillon: Béatitude et désir de voir Dieu au MA. Angelicum 26 (1949) 3–30. 115–142. – F.-H. Dondaine: L'objet et le ‹medium› de la vision béatifique chez les théologiens du 13e siècle. Rech. Théol. ancienne et médiévale 19 (1952) 60–130. – N. Wicki: Die Lehre von der himmlischen Seligkeit in der ma. Scholastik von Petrus Lombardus bis Th. v. Aquin (Fribourg 1954). – R. Guindon: Béatitude et théol. morale chez saint Th. d'Aquin. Origines – interprétation (Ottawa 1956). – Sein und Ethos. Untersuchungen zur Grundlegung der Ethik, hg. P. Engelhardt (1963) 158–185: D. Eickelschulte: B. als Prozeß. Zur Frage nach dem Ort der theol. Ethik bei Th. v. Aquin; 236–266: H. Reiner: Wesen und Grund der sittlichen Verbindlichkeit (obligatio) bei Th. v. Aquin; 267–305: S. Pinckaers: Eudämonismus und sittliche Verbindlichkeit in der Ethik des hl. Thomas. Stellungnahme zum Beitrag H. Reiners; 306–328: H. Reiner: B. und obligatio bei Th. v. Aquin. Antwort an P. Pinckaers. – W. Kluxen: Philos. Ethik bei Th. v. Aquin (1964) 108–165. – J. Santeler: Der Endzweck des Menschen nach Th. v. Aquin. Eine kritisch-weiterführende Studie. Z. kath. Theol. 87 (1965) 1–60. – W. Sanders: Glück. Zur Herkunft und Bedeutungsentwickl. eines mittelalterl. Schicksalsbegriffs, in: niederdtsch. Stud., hg. W. Foerste 13 (1965) XII.
III.Neuzeit. – 1. Renaissance und Barock. – Anknüpfend an Aristoteles hatte das mittelalterliche Denken die beatitudo (B.) als letztes Um-willen menschlichen Strebens und Handelns bestimmt. Dieses letzte Ziel lag in der jenseitigen Anschauung Gottes, die Thomas von Aquin als eigentliche Erfüllung der aristotelischen Idee philosophischer Kontemplation interpretiert. Damit verliert einerseits das Ideal der vita contemplativa seinen esoterischen Charakter: es wird für alle Menschen verbindlich; andererseits verliert das bürgerliche Leben seine ethische Autarkie: es wird in den Dienst der außerirdischen B. gestellt. Diese hat stets intentionalen Charakter. Daraus folgt eine Doppelsinnigkeit des B.-Begriffs: B. ist an Handeln geknüpft; denn «alles Seiende ist um seiner ihm eigenen Tätigkeit willen» [1]. Alle Tätigkeit aber geschieht «um des Zieles willen» [2]. Ziel des Handelns aber kann sowohl der besessene Reichtum als auch der Zustand des Besitzes heißen. Suárez unterscheidet in diesem Sinne, die scholastische Thematik terminologisch präzisierend, B. formalis und B. objectiva: «Aliud est res qua vel quibus beatificamur, aliud est consecutio illius rei; illa vocatur objectum beatitudinis seu beatitudo objectiva; haec vocatur beatitudo formalis seu per modum consecutionis» (Etwas anderes ist die Sache oder die Sachen, durch die wir glückselig werden, etwas anderes die Folge jener Sache; jene heißt Inhalt der Glückseligkeit (Gs.) oder inhaltliche Gs., diese zuständliche Gs. oder Gs. im Modus der Folge) [3].
Charakteristisch für die Renaissance ist einerseits die erneute Verselbständigung des politischen Lebens im Anschluß an die aristotelische Politik, andererseits die erneute Thematisierung eines philosophischen Begriffs des Glücks (G.), d.h. zunächst die Erneuerung einer genuin philosophischen vita contemplativa. So bei den italienischen Platonikern Ficinus und Pico dem Älteren. Die philosophische Kontemplation genügt der neuplatonischen Definition des G. als «reditus uniuscujusque rei ad suum principium scilicet deum» (die Rückgabe irgendeines Dinges an seinen Ursprung, d.h. Gott). Pico spricht im Sinne der erwähnten Ambivalenz des G.-Begriffs von einer «duplex felicitas», einmal verstanden als summum bonum und Gegenstand allen Strebens, einmal als «possessio atque adeptio hujus primi boni» (Besitz und Erlangen des ersten Guts) [4].
Die folgende Zeit diskutiert den Begriff des G. häufig im Anschluß an die Rekapitulation der antiken Schultheorien über die vita beata und das summum bonum mit unterschiedlichen Optionen. Der eigentliche Durchbruch zu einer neuen Problematik geschieht allerdings erst dort, wo unter erneuter Berufung auf die christliche Jenseitigkeit des G. der Boden des antiken «Eudämonismus» verlassen wird. Dies geschieht bei Fr. Bacon. Anknüpfend an den Satz des Aristoteles, daß das G. der Jugend nur in der Hoffnung bestehen könne, fährt er fort: «Eodem modo a christiana fide edocti debemus nos omnes minorum et adolescentum loco statuere, ut non aliam felicitatem cogitemus quam quae in spe sita est» (Ebenso müssen wir vom christlichen Glauben Belehrte uns auf den Standpunkt der Minderjährigen und Jungen stellen, so daß wir uns kein anderes G. denken können als jenes, das in der Hoffnung liegt) [5]. Der grenzenlosen irdischen G.-Suche wird durch den christlichen Glauben ein Ende gesetzt. An die Stelle der am «bonum individuale sive suitas» orientierten vita contemplativa tritt die am bonum communionis orientierte vita activa.
Demgegenüber definiert Gassendi die B. im Anschluß an Epikur als «indolentia corporis et tranquillitas animi» (Schmerzlosigkeit des Körpers und Ruhe der Seele) [6]. – Descartes knüpft an Senecas ‹De beata vita› an und unterscheidet (ähnlich wie Suárez) beatitude und höchstes Gut (souverain bien). Das letztere ist der feste Wille zum tugendhaften, d.h. vernünftigen Leben, das erstere die «Zufriedenheit, die daraus entspringt» [7]. Damit will Descartes Zenon und Epikur versöhnen. Beiden gemeinsam ist es, das G. in das zu verlegen, was von uns und nicht von äußeren Umständen abhängt. So unterscheidet Descartes G. als béatitude von G. als bonheur oder fortune [8]. Die aristotelische Eudämonie fällt damit als Leitfaden der Ethik weg. Sie wird gesehen als «alle Vollkommenheiten, deren die menschliche Natur fähig ist» [9]. Ihrer Wirklichkeit in der Polis entkleidet, wird sie so zu einem utopisch-universalen Prinzip der Menschheitswohlfahrt, wichtig als Leitidee für die Wissenschaft, die allein diese Wohlfahrt methodisch befördern kann, unnütz für die Bestimmung der Lebenspraxis des Einzelnen.
Hobbes bricht ausdrücklich mit der klassischen Idee eines philosophischen G. als tranquillitas animi, ebenso wie mit dem «unverständlichen» Begriff der visio beatifica [10]. Felicitas wird bestimmt als «progressus perpetuus ab una cupiditate ad alteram» (andauerndes Fortschreiten von einer Begierde zur anderen) [11], wobei die Sicherheit künftigen Genusses mit zum gegenwärtigen gehört.
Von Descartes wie von Hobbes gleich weit entfernt ist Pascals christliche These «Le bonheur n'est ni hors de nous ni dans nous. Il est en Dieu, et hors de nous et dans nous» [12]. «Il faut que pour rendre l'homme heureux, eile [la vraie religion] lui montre qu'il y a un Dieu; qu'on est obligé de l'aimer, que notre vraie félicité est d'être en lui et notre unique mal d'être séparé de lui» [13].
Den Versuch, philosophische Kontemplation zur totalen, Religion und Praxis umgreifenden Lebensform zu erheben, unternimmt Spinoza. «B. seu felicitas» besteht für ihn in «ipsa animi acquiescentia, quae ex Dei intuitiva cognitione oritur» (der Beruhigung der Seele, die aus dem anschauenden Erkennen Gottes entspringt) und auf welcher alles sittliche Handeln beruht [14]. Die Erkenntnis Gottes ist eins mit der Liebe zu Gott, diese aber eines mit der Liebe Gottes selbst. Als solche ist B. nicht Lohn der Tugend, sondern die Tugend selbst, ja deren Voraussetzung. «Da die Kraft des Menschen, seine Affekte zu hemmen, allein in der Vernunft besteht, so erfreut sich folglich niemand der Gs., weil er die Affekte gehemmt hat, sondern umgekehrt: seine Gewalt, die Gelüste zu hemmen, entspringt aus der Gs. selbst» [15]. In Spinozas pantheistischer Mystik fallen G. als Inhalt und als Zustand zusammen.
Anders in der christlichen Mystik Fénelons. Zwar heißt es auch bei ihm «Ce plaisir ou complaisance n'étant que la spontanéité des actes vertueux n'est dans le fond en rien distingué de la vertu même» [16]. Im «amour pur»-Streit mit Bossuet aber erneuert Fénelon die suárezianische Unterscheidung zwischen B. formalis und B. objectiva und fordert die Beseitigung jeder Äquivokation, wie sie etwa in dem augustinischen Begriff des frui verborgen ist. Während Bossuet schreibt: «Ex perceptione luminis et ex lumine percepto fit una et eadem oculi videntis felicitas» (Aus der Wahrnehmung des Lichts und aus dem wahrgenommenen Licht wird dem Auge des Sehenden ein und dasselbe G.) [17], insistiert Fénelon darauf, daß in der reinen Liebe das Ziel nicht das G. des Liebenden als lustvoller Zustand (delectatio, plaisir), sondern der Geliebte als Gegenstand der Liebe sei. Die delectatio ist naturhafte causa efficiens, nicht «Motiv» des sittlichen Handelns [18]. Dem Seligen geht es nicht um seine Seligkeit. «Deus amari nequeat sine delectatione; non tamen necesse est ut semper ametur propter delectationem» (Gott kann nicht ohne Genuß geliebt werden, doch ist es nicht notwendig, daß er immer um des Genusses willen geliebt wird) [19]. «Le plaisir qu'on goûte dans la justice das qu'on le distingue de la justice même n'est pas la vraie raison ou motif d'aimer la justice» [20]. Diese Kritik am Eudämonismus des 17. und 18. Jh. nimmt bis in den Wortlaut hinein Kant vorweg.
Sie bleibt zunächst einsam. Für den theologischen Eudämonismus Malebranches gibt es keine direkte Kommunikation endlicher Wesen mehr. Ihre Handlungen sind alle motiviert durch das natürliche G.-Streben, wobei nun G. als B. formalis, nicht objectiva, d.h. als subjektiv lustvoller Zustand, verstanden wird: «Le désir de la béatitude formelle ou du plaisir général est le fond ou l'essence de la volonté en tant qu'elle est capable d'aimer le bien» [21]. Dieser Eudämonismus ist für das gesamte 17. und 18. Jh. bis Kant bestimmend. Einzig Arnauld macht einen interessanten Versuch, den Begriff des plaisir selbst intentional zu fassen, und von da her qualitativ verschiedene plaisirs zu unterscheiden [22], in Wendung zunächst gegen Malebranche, dann gegen Bayle, der als «cause formelle» der B. plaisir und dieses als wesentlich gleichförmig begriffen hatte. Die differenzierenden Inhalte sind nun Instrumente oder «causes efficientes», können also die B. selbst nur durch einen ihr selbst äußerlichen Gesichtspunkt (denominatio extrinseca) differenzieren. Die Philosophen haben bisher meistens die Gs. mit ihrer Ursache verwechselt [23]. Dagegen sind sinnliche und geistige Vergnügen für Arnauld qualitativ verschieden. Sie sind Indizien der glückenden Selbsterhaltung und als solche nicht das G., denn nach Meinung aller Philosophen «ce qui nous rend heureux doit être désirable pour soimême» [24].
[1]
Thomas von Aquin, S. theol. III, 9, 1.
[2]
a.a.O. I, 44, 4.
[3]
Fr. Suárez, Disp. mét. IV, 1.
[4]
G. Pico della Mirandola: Hetaplus ... (Florenz 1490, zit. 1942) 326.
[5]
Fr. Bacon: De augmentis scientiarum (1623). Works, hg. J. Spedding (ND 1963) 1, 715.
[6]
P. Gassendi, Syntagma philosophiae Epicuri (1659, ND 1964) 1, 4.
[7]
R. Descartes: Lettre à Elisabeth vom 18. 8. 1645. Oeuvres et Lettres, hg. A. Bridoux (Paris 1952) 1198.
[8]
a.a.O. 1192.
[9]
1199.
[10]
Th. Hobbes: Discourse on human nature (1650). Engl. Works, hg. Molesworth (London 1839–45) 3, 51.
[11]
De homine. Opera lat., hg. Molesworth 3, 77.
[12]
B. Pascal, Pensées Nr. 465.
[13]
a.a.O. Nr. 430.
[14]
B. Spinoza, Ethica IV, 4. Opera, hg. C. Gebhardt 2, 267.
[15]
a.a.O. 307.
[16]
Fr. Fénelon, Oeuvres complètes (Paris 1852f.) 3, 357.
[17]
J.-B. Bossuet, Oeuvres complètes (Bar-le-Duc 1870) 5, 411.
[18]
Fénelon, a.a.O. [16] 3, 433.
[19]
ebda.
[20]
ebda.
[21]
N. Malebranche: Traité de l'amour de Dieu (1697, zit. Lyon 1707) 548.
[22]
A. Arnauld, Diss. sur le prétendu bonheur des plaisirs des sens. Oeuvres (Lausanne 1775–83) 10, 62.
[23]
P. Bayle, in: Nouvelles de la République des Lettres (August 1685). Oeuvres div. 1 (La Haye 1727, ND 1964–68) 346f.
[24]
Arnauld, a.a.O. [22].
2. Aufklärung. – Bei Locke ist das Verhältnis von G. als Zustand und als Inhalt eindeutig zugunsten des Zustandes entschieden. G. ist ein Maximum von pleasure. Pleasure ist nicht um-willen des Guten, sondern das Gute ist definiert als «what has an aptness to produce pleasure in us» [1]. Handeln wird durch Begierde determiniert, und diese geht auf G. Da G. und pleasure nicht mehr qualitativ, sondern nur noch quantitativ unterscheidbar sind, ergibt sich die Möglichkeit eines hedonistischen Kalküls, wie es im 18. Jh. vielfältig praktiziert und später von Bentham zum Programm erhoben wird.
Leibniz verwirft Lockes Idee des «plus grand plaisir» mit Hinweis auf Hobbes' Gedanken des unendlichen Progresses, der in Leibniz' Metaphysik einen neuen Stellenwert gewinnt: «Beatitudo non consistit in summo quodam gradu sed in perpetuo gaudiorum incremento» (Die Gs. besteht nicht in einem höchsten Grad, sondern in der dauernden Zunahme der Freuden) [2]. «Le bonheur est un plaisir durable ce qui ne saurait avoir lieu sans une progression continuelle à des nouveaux plaisirs» [3]. G. ist «un chemin par les plaisirs» und das plaisir «un pas et un avancement vers le bonheur» [4]. Dabei ist der Grad der G.-Fähigkeit individuell verschieden. Auch kommt es auf die Qualität der Lust an. Lust selbst wird mit Spinoza als «Empfindung einer Vollkommenheit oder Vortrefflichkeit» [5] definiert, Freude aber als «Lust, so die Seele an ihr selbst empfindet» [6]. Die Gs. ist der Stand einer beständigen Freude, und Weisheit ist die Wissenschaft der Gs. Alle Menschen streben notwendig nach G. Den Gegensatz von Eudämonismus und uneigennützigem Wohlwollen, Liebe bzw. interesselosem Wohlgefallen versucht Leibniz in zahlreichen Ansätzen zu überbrücken durch eine Definition der Liebe, die auf unmittelbare Identität eigenen und fremden G. zielt: «amor» ist «delectatio in felicitate alterius» [7]. So glaubt Leibniz Gassendis Epikureismus mit der Lehre vom amour pur zu versöhnen. – Seine Lösung liegt nahe bei derjenigen Shaftesburys, der in seinem anti-aszetischen Naturalismus das G. definiert als das Überwiegen der sozialen über die privaten Affekte [8].
Für die französische Aufklärung des 18. Jh. ist G. das Thema schlechthin. Über 50 selbständige Schriften sind ihm allein in Frankreich gewidmet [9]. Nach Voltaire besteht bonheur in einer suite des plaisirs; plaisir aber ist definiert als «sentiment agréable» [10]. ‹Théorie des sentiments agréables› ist ein charakteristischer Titel eines Werkes von Levesque de Pouilly, das den Autoren der ‹Encyclopédie› dann als Quelle dient. Die Erzeugung des G. wird zu einem quasi technischen Problem. Fontenelle und Saint-Evremont sind solche «Techniker» des G. Das Problem wird meist in der Antinomie von Ruhe und Bewegung gesehen und ihre Auflösung in einem bestimmten Verhältnis beider. So definiert Abbé de Gourcy: «Le bonheur est un état de paix et de contentement, parsemé de plaisirs sans amertume et sans remords qui en égaient le fond» [11]. In ähnlichem Sinne heißt es dann in der Enzyklopädie «Notre bonheur le plus parfait dans cette vie n'est donc ... qu'un état tranquille parsemé çà et là de quelques plaisirs qui en égaient le fond» [12]. Die Philosophie wird in dem Maße zur Führerin im Leben, wie sie auf einen spezifisch philosophischen Begriff des G. bzw. den Begriff eines philosophischen G. verzichtet. So verteidigt Voltaire ausdrücklich gegen Pascal die Tendenz zur Zerstreuung [13].
Der Bezug von G. und Wahrheit verschwindet. Für Hume gibt es keine Wahrheit, die über G. entscheidet [14]. G. wird relativ. Was einmal beatitudo objectiva hieß, der intentionale Gehalt des G., erscheint im Artikel ‹Bonheur› der ‹Encyclopédie› nur noch als «cause efficiente» des G.-Gefühls. Der Streit der Alten um die Natur des G. war deshalb für die Autoren der ‹Encyclopédie› in Wirklichkeit nur ein Streit um deren Ursache, und die Definition des G. bei Aristoteles definierte nicht wirklich das G., sondern nur dessen «fondement». Die ‹Encyclopédie› wiederholt hier nur die Argumente Bayles. G. ist folglich relativ auf den Charakter des Glücklichen. «Chacun n'a-t-il pas droit d'être heureux selon que son caprice en décidera?» [15]. So schreibt denn auch Diderot über die zahlreichen Traktate zum Thema G., sie seien stets nur die Geschichte des G. derer, die sie verfaßt haben [16]. Wo Wahrheit aufhört, ein Maßstab für G. zu sein, gibt es keinen qualitativen Unterschied zwischen eingebildetem und wahrem G. mehr. Kein genius malignus, schreibt La Mettrie, ist zu fürchten, wenn die Illusion, die er erzeugt, angenehm ist [17]. Zur Erzeugung illusionären G. werden von ihm wie von Maupertuis ausdrücklich Drogen empfohlen [18]. Relativ ist G. noch in anderer Hinsicht, nämlich einerseits auf das Schicksal der anderen, mit denen man sich vergleicht, und schließlich auf frühere Zustände, deren man sich erinnert. Deshalb bedarf das G., um anzudauern, ständiger Steigerung: «Jouir d'un bonheur constant cela veut dire passer continuellement d'un état heureux à un autre état qui l'est davantage» [19]. So wenig wie mit Wahrheit hat das G. für La Mettrie mit Tugend zu tun. Im Verhältnis zum G. sind Gut und Böse indifferent: «Il est un bonheur particulier et individuel qui se trouve et sans vertu et dans le crime même» [20]. Die Tugend ist eine Erfindung der Gesellschaft, um sich gegen die eventuelle Aggression der «bonheurs particuliers» zu schützen. Die Reduktion des G. auf transzendenzlose Subjektivität bedeutet bei La Mettrie: Reduktion auf sinnliche Lust, das G. der Schweine. La Mettrie will indessen nicht zum Verbrechen einladen, sondern zur «Ruhe im Verbrechen» [21]. Persönlich plädiert er für ein «sentiment du plaisir épuré par la délicatesse et la vertu» [22]. Denn nur eine außerordentliche Natur könnte das G. im Gegensatz zur Gesellschaft und ohne eine gewisse Verinnerlichung ihrer Normen finden.
Damit fügt sich La Mettrie persönlich ein in die vorherrschende These des 16. Jh. von der prästabilierten Harmonie von G. und Tugend. «Le plaisir naît du sein de la vertu» [23], heißt es in der ‹Encyclopédie›. Hinter dieser These steht die Voraussetzung einer natürlichen Moral, in deren Erfüllung der Mensch zugleich sein G. findet. Damit die Forderungen der Sozialität nicht als Repression der Neigungen erscheinen, müssen ursprünglich soziale Neigungen angenommen werden. Als deren Übergewicht über die privaten hatte Shaftesbury das G. definiert. Treffend bemerkt sein Übersetzer ins Französische von 1769: «Elle [sa philosophie] est telle qu'il faut dans la société civile pour faire le bonheur des hommes» [24]. So empfiehlt auch Holbach, die Leidenschaften selbst in den Dienst der félicité publique zu stellen [25]. Die félicité publique ihrerseits wird als Maximum privater G.-Gefühle aller verstanden. In diesem Sinne sagt Saint-Just, die Idee des G. sei eine neue Idee des Jh. [26]. Die unglückliche Tugend darzustellen, bleibt Sache der Romanciers. Voltaire schließt sich ihnen im ‹Zadig› an, wenn er die These vom notwendigen G. der Tugendhaften als Illusion entlarvt, gleichwohl aber für die unglückliche Tugend Partei ergreift.
Für Rousseau gibt es ebensowenig wie für die gesamte Philosophie des 18. Jh. einen amour désintéressé. Ziel menschlichen Handelns ist stets das eigene G. [27]. Aber in dessen Bestimmung greift Rousseau auf die klassische Tradition des «wahren G.» zurück. Dieses setzt Einheit des Menschen mit sich selbst voraus: «Zufriedenheit» [28]. Diese aber ist geknüpft an das gute Gewissen. Allerdings: «La vertu ne donne pas le bonheur mais elle seule apprend à en jouir quand on l'a» [29]. Rousseau sieht das Problem der unglücklichen Tugend am krassesten verkörpert im verfolgten Gerechten aus dem zweiten Buch von Platos ‹Politeia› [30]. Ohne den Glauben an die Unsterblichkeit und an die jenseitige Gerechtigkeit wäre Tugend nur «eine Narrheit, der man einen schönen Namen gibt» [31]. Vollkommenes G., vollkommene Einheit mit sich wäre vollkommene Apathie und Autarkie. Sie besitzt nur Gott [32]. Menschliches G. bedarf der Liebe und wächst deshalb als zerbrechliches G. aus unserer Schwachheit [33]. Rousseau sieht allerdings in der durch den Zerfall der politischen Totalität bedingten Freisetzung des natürlichen Individuums die Möglichkeit eines G., das – «tranquille au fond de l'abîme» [34] – die Absolutheit des Göttlichen erreicht. Rousseau hat dies im Zustand der abgeschnittenen Kommunikation in den ‹Rêveries› dargestellt. Es ist das «sentiment de l'existence dépuillé de toute autre affection» [35]. «Allein wer diesen Zustand erlebt, könnte sich wahrhaft glücklich nennen» [36]. Dieses G. «setzt sich nicht aus flüchtigen Augenblicken zusammen, sondern bildet einen einfachen, dauernden Zustand, der in sich selbst nicht von besonderer Stärke ist, dessen Beständigkeit aber seinen Reiz so anwachsen läßt, daß man darin schließlich die höchste Seligkeit findet» [37].
Die deutsche Philosophie des 17. und 18. Jh. bleibt in der Tradition der klassischen Lehre vom summum bonum. «Summi boni possessio» ist bei Buddeus die Definition der summa felicitas [38]. Thomasius unterscheidet wahres und scheinbares G. Das erstere besteht in der Gemütsruhe, d.h. «einer ruhigen Belustigung, welche darinnen besteht, daß der Mensch weder Schmerzen noch Freude über etwas empfindet und in diesem Zustand sich mit anderen Menschen, die eine dergleichen Gemütsruhe besitzen, zu vereinigen trachtet» [39]. Im Begriff der «indifferenten Belustigung» [40], der sich auch bei Thomasius findet, ist die stoisch-mystische Tradition mit ihrem Begriff der Indifferenz = Gelassenheit = Apathie gegenwärtig. Chr. Wolff identifiziert die B. philosophica mit dem summum bonum hominis und definiert sie (im Anschluß an Leibniz) als «non impeditus progressus ad majores continuo perfectiones» (ungehinderter Fortschritt zu immer höheren Vollkommenheiten) [41]. Dieses summum bonum ist mit vera voluptas und gaudium beständig verknüpft. Der Status, «in quo voluptas vera perdurat», heißt felicitas [42]. Sie wird durch Tugend, d.h. durch die custodia legis naturalis, erworben und bewahrt und ist ihrerseits «motivum committendi actiones legis naturae conformes» [43]. Die gleichen Definitionen gibt Gottsched[44].
[1]
J. Locke: Essay conc. human understanding (1690), hg. Fraser (Oxford 1894) 345.
[2]
G. W. Leibniz, Textes inédits, hg. G. Grua (Paris 1948) 1, 95.
[3]
Nouveaux essais II, 22, § 42, in: Philos. Schr., hg. Gerhardt 5 (1882) 180.
[4]
ebda.
[5]
Von der Glückseligkeit, in: Kl. Schriften zur Met., hg. H. H. Holz (1965) 1, 391.
[6]
ebda.
[7]
Codex juris gentium diplomaticus, hg. G. W. Leibniz (1693) Vorw.
[8]
A. A. C. Shaftesbury: An inquiry conc. virtue (1699), in: Characteristicks ... (1714, zit. 1723) 2, 138f. 172–176.
[9]
Vgl. R. Mauzi: L'idée du bonheur au 18e siècle (Paris 1960) Bibliogr.
[10]
Voltaire: Dict. philos. (Genf 1764) Art. ‹Félicité›.
[11]
Abbé de Gourcy: Essai sur le bonheur (Wien/Paris 1777) 128.
[12]
Encyclopédie ..., hg. Diderot /d'Alembert (1751–1772) Art. ‹Bonheur›.
[13]
Voltaire, Remarques sur les Pensées de M. Pascal. Oeuvres compl., hg. Moland 26, 43.
[14]
D. Hume, Essay on the sceptic. Philos. Works, hg. Green/Grose 3, 179f.
[15]
Encyclop. a.a.O. [12].
[16]
D. Diderot bei Mauzi, a.a.O. [9].
[17]
J. O. de la Mettrie: Anti-Sénèque (Potsdam 1750) 15.
[18]
P. L. M. de Maupertuis: Essai de philos. morale (Berlin 1749).
[19]
E. Luzac: Le bonheur ou nouveau système de jurisprudence naturelle (Berlin 1854) 44.
[20]
La Mettrie, a.a.O. [17] 50.
[21]
89.
[22]
La Volupté. Oeuvres philos. (Amsterdam 1753) 2, 327.
[23]
Mauzi, a.a.O. [9].
[24]
Encyclop. a.a.O. [12].
[25]
P. H. D. d'Holbach: Système social (London 1773) 1, 143.
[26]
Saint-Just bei Mauzi, a.a.O. [9].
[27]
J.-J. Rousseau, Corr. gén., hg. Th. Dufour (Paris 1924–34) 6, 222ff.
[28]
a.a.O. 227.
[29]
ebda.
[30]
19, 60.
[31]
10, 340.
[32]
Emile. Oeuvres compl. 2 (Paris 1870) 191.
[33]
ebda.
[34]
Rêveries (Paris 1948) 13.
[35]
a, a. O. 85.
[36]
ebda.
[37]
82.
[38]
J. F. Buddeus: Elementa philosophiae practicae (Halle 1697).
[39]
Chr. Thomasius: Von der Kunst vernünftig und tugendhaft zu lieben ... oder Einl. zur Sittenlehre (1692, ND 1968) 85f.
[40]
Vgl. W. Schneiders: Naturrecht und Liebesethik (1971) 261.
[41]
Chr. Wolff: Philos. practica (Frankfurt/Leipzig 1738f.) 1, § 374.
[42]
a.a.O. § 397.
[43]
2, § 326.
[44]
J. Chr. Gottsched: Erste Gründe der gesamten Weltweisheit (1734) 2, 51.
3. Kant und der deutsche Idealismus. – Mit dem Gedanken der Orientierung des Handelns am Ziel der Gs. bricht erstmals grundsätzlich Kant, und zwar zeigt er erstens, daß ein solches Ziel eine konsistente Handlungsorientierung für ein vernünftiges Wesen gar nicht hergeben kann. «Gs. ist die Befriedigung aller unserer Neigungen» [1] oder auch die «Zufriedenheit mit seinem Zustande, sofern man der Fortdauer derselben gewiß ist» [2]. Als solche ist sie «der Inbegriff aller durch die Natur außer und in dem Menschen möglichen Zwecke desselben» [3]. Gs. ist deshalb «letzter Naturzweck» [4] des Menschen selbst, nicht aber der letzte Zweck, «den man der Natur in Ansehung der Menschengattung beizulegen Ursache hat» [5]. Dieser Zweck ist vielmehr die Kultur als «Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt (folglich in seiner Freiheit)» [6]. Für ein solches Wesen ist Gs. nur «Materie aller seiner Zwecke auf Erden, die, wenn er sie zu seinem ganzen Zwecke macht, ihn unfähig macht, seiner eigenen Existenz einen Endzweck zu setzen und dazu zusammenzustimmen» [7]. Gs. als Zweck könne durch den Handelnden gar nicht erreicht werden, denn dieser bedürfe dazu der Allwissenheit, um alle weitläufigen Folgen und Rückwirkungen seiner Handlungen übersehen zu können. Dieser Zweck könnte nur durch Natur selbst erreicht werden. Aber die Natur des Menschen «ist nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genüsse aufzuhören und befriedigt zu werden» [8]. Daher «finden wir auch, daß je mehr eine kultivierte Vernunft sich mit der Absicht auf den Genuß des Lebens und der Gs. abgibt, desto weiter der Mensch von der wahren Zufriedenheit abkomme» [9]. Vor allem aber ist der Begriff der Gs., da er nicht aus einem instinktiven Naturbestand «abstrahiert», sondern eine bloße Idee ist, die der mit der Einbildungskraft und den Sinnen verwickelte Verstand sich entwirft, so schwankend, daß er als Orientierung für ein «bestimmtes allgemeines und festes Gesetz» ganz untauglich ist [10]. Gs. als Triebfeder der Sittlichkeit ansetzen, heißt im übrigen, «die Bewegursachen zur Tugend mit denen zum Laster in eine Klasse stellen» [11]. Das moralische Gesetz geht nicht auf eigene Gs., sondern auf die Würdigkeit, glücklich zu sein [12]. Daß dieser Würdigkeit in genauem Ebenmaße wirklich Gs. entspreche, das ist der Begriff des höchsten Gutes [13], der nur durch ein theologisches Postulat realisierbar ist. Fremde Gs. sich zum Zweck zu machen, ist hingegen Pflicht [14]. Kant läßt den Begriff einer moralischen Gs. als «Zufriedenheit mit seiner Person und ihrem eigenen sittlichen Verhalten» [15] nicht gelten, weil es sich hier um eine Äquivokation handle: Um solche Zufriedenheit zu fühlen, muß man sich gerade nicht sie, sondern die Vollkommenheit selbst zum Zweck machen [16].
Nicht Gs., sondern Glückswürdigkeit ist auch für Fichte Zweck des Daseins. Der Begriff des G. als «Zustand des empfindenden Subjekts, in welchem nach Regeln genossen wird», gibt gar keinen Maßstab des Handelns, da «wir nicht wissen können, was das G. der anderen befördere, ja worin wir selbst in der nächsten Stunde unser G. setzen werden» [17]. «Wird dieser Begriff des G. durch die Vernunft aufs Unbedingte und Unbegrenzte ausgedehnt, so entsteht die Idee der Gs.» [18]. Auch diese kann, weil auf empirischen Prinzipien beruhend, nicht allgemeingültig bestimmt werden. Gs. kann deshalb kein Zweck eines sittlichen Wollens sein. «Nicht das ist gut, was glücklich macht, sondern nur das macht glücklich, was gut ist» [19]. Ohne Sittlichkeit ist keine Gs. möglich. Angenehme Gefühle sind nicht Gs. Fichte unterscheidet später terminologisch «Gs.», die der sinnliche Mensch sucht, von der «Seligkeit, welche die Religion nicht verheißet, sondern unmittelbar darreichet» [20]. Seligkeit ist gleichbedeutend mit Liebe, Liebe aber das Wesen des Lebens selbst. Leben ist deshalb als solches Seligkeit [21].
Schelling denkt den Begriff der Gs. als «Identität des vom Wollen Unabhängigen mit dem Wollen selbst» [22]. Als bloße durch Natur, unabhängig vom Willen bewirkte Übereinstimmung ist sie genauso wenig legitimes Ziel des Wollens wie eine bloß formale Sittlichkeit. «Ist aber Gs. nicht nur die Identität der Außenwelt mit dem reinen Willen», sondern «der in der Außenwelt herrschende reine Wille» selbst, dann ist sie «das einzige und höchste Gut» [23].
Hegel hält daran fest, daß dem Begriff der Gs. das Moment des G., d.h. der Zufälligkeit anhaftet. «Die Seligkeit hingegen besteht darin, daß kein G. in ihr ist, d.h. in ihr die Angemessenheit des äußeren Daseins zum inneren Verlangen nicht zufällig ist» [24]. Solche Seligkeit kann indessen nur von Gott ausgesagt werden. Für das endliche Wesen hat sie notwendig den Charakter der Gnade. Die «Übereinstimmung des Äußerlichen mit dem Innerlichen» heißt «Vergnügen». «Gs. dagegen ist nicht nur ein einzelnes Vergnügen, sondern ein fortdauernder Zustand zum Teil des wirklichen Vergnügens selbst, zum Teil auch der Umstände und Mittel, wodurch man immer die Möglichkeit hat, sich, wenn man will, Vergnügen zu schaffen» [25]. «In der Gs. hat der Gedanke schon eine Macht über die Naturgewalt der Triebe, indem er nicht mit dem Augenblicklichen zufrieden ist, sondern ein Ganzes von G. erheischt» [26]. Damit wird einerseits die Besonderheit transzendiert, andererseits aber liegt der so gewonnene allgemeine Inhalt doch wieder «in der Subjektivität und Empfindung eines jeden» [27]. Es ist noch keine «wahre Einheit des Inhalts und der Form vorhanden». Die Gs. bleibt als abstrakte Reflexionsallgemeinheit den Trieben äußerlich. Erst im Begriff der Freiheit, dem konkret Allgemeinen, wird die Identität von Begriff und Gegenstand erreicht. Um ihn ist es deshalb in der Weltgeschichte zu tun und nicht um das G. dessen, «welcher sein Dasein seinem besonderen Charakter, Wollen und Willkür angemessen hat und so in seinem Dasein sich selbst genießt» [28]. Die Perioden des G. sind als die des fehlenden Gegensatzes die «leeren Blätter in ihr» [29].
[1]
I. Kant, KrV B 834.
[2]
Met. Sitten. Akad.-A. 6, 387.
[3]
KU a.a.O. 5, 431.
[4]
ebda.
[5]
ebda.
[6]
ebda.
[7]
ebda.
[8]
430.
[9]
Grundlegung Met. Sitten a.a.O. 4, 395.
[10]
KU 5, 430.
[11]
Grundlegung Met. Sitten 4, 442.
[12]
KrV B 838.
[13]
B 842.
[14]
Met. Sitten 6, 388. 393f.
[15]
ebda.
[16]
a.a.O. 387.
[17]
J. G. Fichte, Akad.-A. I/1, 138.
[18]
a.a.O. 138.
[19]
Werke, hg. F. Medicus (21922) 1, 227.
[20]
a.a.O. 5, 217.
[21]
113–115.
[22]
F. W. J. Schelling, System des transz. Idealismus. Werke, hg. M. Schröter 2, 575.
[23]
a.a.O. 582.
[24]
G. W. F. Hegel, Werke, hg. Glockner 3, 53.
[25]
ebda.
[26]
7, 71.
[27]
ebda.
[28]
11, 56.
[29]
ebda.
4. 19. und 20. Jahrhundert.Schopenhauer knüpft an Hobbes' G.-Begriff (ständiges Fortschreiten von Begierde zu Erfüllung und neuer Begierde) an und zieht daraus die Konsequenz: «Alle Befriedigung oder was man gemeinhin G. nennt, ist eigentlich und wesentlich immer nur negativ und durchaus nie positiv» [1], d.h. sie ist stets nur Aufhebung eines Mangels. Ohne den Kontrast hört Erfüllung auf und wird zur Langeweile. Die praktische Folgerung liegt nahe bei Epikur: «Kommt zu einem schmerzlosen Zustand noch Abwesenheit der Langeweile, so ist das irdische G. im wesentlichen erreicht: denn das übrige ist Schimäre» [2]. G. als positiver Inhalt liegt deshalb (außer im Rausch) «stets in der Zukunft oder auch in der Vergangenheit» [3].
Nietzsche verwirft mit Schopenhauers G.-Begriff den der Philosophen überhaupt als den der «Müden, Leidenden, Geängstigten» [4]. G. ist «Fülle des Gefühls» und dieses an Lebenssteigerung geknüpft: «Das einzige G. liegt im Schaffen» [5]. «Was ist G.? Das Gefühl davon, daß die Macht wächst, daß ein Widerstand überwunden wird» [6]. G. ist nicht Gegenstand des Strebens individueller Einheiten, sondern «Begleiterscheinung beim Auslösen ihrer Kraft» [7]. G. als intendierter Zustand («ein wenig Gift ab und zu, das macht angenehme Träume») [8], ist das Gegenbild des wahren G. «Wir haben das G. erfunden, sagen die letzten Menschen und blinzeln» [9].
Die hedonistische Orientierung, die Nietzsche hier im Blick hat, hat ihren vollkommensten Ausdruck in Benthams «Utilitätsprinzip» der größtmöglichen Quantität von G. bei denen, deren Interesse in Frage steht [10]. Die «general happiness» ist das Ergebnis des «hedonic calculus», der auf der Voraussetzung einer Quantifizierbarkeit der Lust besteht. Bentham rechnet mit «units of pleasure». Ein qualitativer Unterschied höherer und niederer Vergnügen muß dabei ausgeschlossen werden. Die Größe der pleasures hängt von sechs Umständen ab: «intensity, duration, certainty, propinquity, fecundity und purity» [11]. Das Problem einer hedonistischen Begründung für die Berücksichtigung fremder Interessen wird, unter dem Einfluß von D. Hartley, letztlich im Sinne der auf Shaftesbury zurückgehenden Tradition gelöst. Sympathie ist die Quelle des größten pleasure. J. St. Mill schließt sich Bentham weitgehend an, führt aber erneut qualitative Differenzen in den Begriff des G. ein, mit dem Diktum, daß es «besser sei, ein unbefriedigter Sokrates zu sein als ein befriedigtes Schwein» [12].
G. als Befriedigung libidinöser Regungen ist das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt, so heißt es bei Freud[13]. Bei der Durchmusterung der in den Schulen der Lebensweisheit entwickelten Methoden der G.-Gewinnung bevorzugt Freud «jene Richtung des Lebens, welche die Liebe zum Mittelpunkt nimmt» [14], da sich hier das Streben nach Unabhängigkeit vom Schicksal mit der Zuwendung zur Außenwelt verbindet und geschlechtliche Liebe ohnehin Vorbild für unser G.-Streben ist. Aber auch dieser Weg schützt nicht vor Leid und Unglück. Überhaupt ist «die Absicht, daß der Mensch glücklich ist, im Plan der Schöpfung nicht enthalten» [15], das Programm des Lustprinzips nicht erfüllbar. Kultur beruht auf sublimierender Einschränkung des G.-Strebens auf Bedingungen kollektiver Selbsterhaltung. Allerdings darf, wenn schwere Schädigungen erspart bleiben sollen, die G.-Befriedigung des Einzelnen nicht aus den Zielen unserer Kultur gestrichen werden. «Das G. in jenem ermäßigten Sinne, in dem es als möglich erkannt wird, ist ein Problem der individuellen Libidoökonomie» [16].
H. Marcuse hat die These vertreten, die Überflußgesellschaft könne die repressiven Züge der Kultur mildern und in höherem Maße, als Freud glaubte, G. gewähren [17]. Allerdings bedürfe es dazu einer Qualifizierung der Triebe und Bedürfnisse. Wegen seiner Unfähigkeit, Bedürfnisse und Genuß zu qualifizieren, «die Kategorie der Wahrheit auf das G. anwenden zu können» [18], wegen seiner bloß subjektiven Fassung des G.-Begriffs, die keine Verkümmerung des Menschen mehr wahrzunehmen gestattet und für die die konkrete Objektivität des G. ein nicht ausweisbarer Begriff ist, kritisiert Marcuse den Hedonismus. Unter den Bedingungen antagonistischer Arbeitsverhältnisse bleibt «für das G. nur die Sphäre der Konsumtion übrig» [19]. Mit dem Versuch, die Objektivität des G. zu retten, wahre und falsche Interessen zu unterscheiden, schließt die Kritische Theorie bei Marcuse einerseits ausdrücklich an Plato an, an einen durch Marx interpretierten Hegel andererseits mit dem Satz: «Die Wirklichkeit des G. ist die Wirklichkeit der Freiheit als der Selbstbestimmung der befreiten Menschheit in ihrem gemeinsamen Kampfe mit der Natur» [20].
Für Scheler ist Seligkeit als tiefste Form des G.-Gefühls als nicht intendierbare Werthaltung diejenige, die dem höchsten Wert, der Heiligkeit, korrespondiert [21]. Ihr Gegensatz ist die Verzweiflung. Direkt intendierbar sind nur sinnliche Lustgefühle, weshalb denn auch der Eudämonismus notwendig zum Hedonismus führt [22]. G. ist aber auch nicht bloße Folge guten Wollens, sondern dessen Wurzel und Quelle: «Nur der Glückliche handelt gut», aber «nur der Gute ist der Glückselige» [23]. G. resultiert aus der Wesensgüte der Person und ist ihrerseits Grund der Tugend, eine Lehre, die in gewisser Hinsicht die Einsicht Spinozas erneuert.
Ähnlich Wittgenstein: «Ich bin entweder glücklich oder unglücklich, das ist alles. Man kann sagen: Gut und Böse gibt es nicht» [24]. G. und Unglück qualifizieren die Welt. «Die Welt des Glücklichen ist eine glückliche Welt» [25]. «Der Mensch kann sich nicht ohne weiteres glücklich machen» [26]. Glücklich sein heißt, «in Übereinstimmung sein mit der Welt» oder «den Willen Gottes tun» [27]. «Nur wer nicht in der Zeit, sondern in der Gegenwart lebt, ist glücklich» [28]. Dieses glückliche Leben ist das ewige Leben. Sein Merkmal ist nicht objektiv beschreibbar, sondern «metaphysisch» [29]. Das glückliche Leben setzt voraus, auf die Annehmlichkeiten des Lebens verzichten zu können. «Das Leben der Erkenntnis ist das Leben, welches glücklich ist der Not der Welt zum Trotz» [30].
Die gründlichsten Versuche innerhalb der moralphilosophischen Überlegungen der analytischen Schule, den Begriff des G. (happiness) genauer zu bestimmen, finden sich bei G. H. von Wright, und zwar im Anschluß an Aristoteles. Von dessen Eudämoniebegriff schreibt Wright, seine einzigartige Stellung liege nicht darin, «that eudaimonia is the final end of all action. It is that eudaimonia is the only end that is never anything except final» [31]. Für ihn ist happiness der dauerhafteste Zustand in der aufsteigenden Reihe: pleasure – joy – happiness. Er unterscheidet drei Typen von Gs.-Idealen: das epikureische ist wesentlich passiv und zielt auf den Besitz lustbringender Dinge; das asketische sieht das G. im Gleichgewicht von Begierde und Befriedigung und als sichersten Weg hierzu die Verminderung der Begierden (dieses Ideal kritisiert Wright, weil es happiness und unhappiness als kontradiktorische statt als konträre Gegensätze betrachtet und also G. mit Abwesenheit von Unglück gleichsetzt); das dritte Ideal versteht G. wesentlich als die aktive Freude dessen, der tun kann, was er gern tut, was er gut kann und der dies so vollkommen wie möglich tut [32]. Man erkennt in den beiden letzten Idealen unschwer das stoische und das aristotelische wieder. Urteile über happiness sind Werturteile, als solche «firstperson judgements» und weder wahr noch falsch, allenfalls aufrichtig oder unaufrichtig. Die richtige Einschätzung der G.-Chancen kann dagegen objektiv wahr oder falsch sein; in bezug auf gegenwärtiges G. ist jeder Richter in eigener Sache [33]. Aus diesem Grunde ist für R. M. Hare ‹G.› kein empirischer Begriff. Gleichwohl gesteht er dem Begriff eine gewisse Intersubjektivität zu. Mills Bevorzugung des unbefriedigten menschlichen Wesens gegenüber dem befriedigten Schwein findet bei Hare diese sprachanalytische Abwandlung: Im Unterschied zu dem keinen intersubjektiven Vergleich zulassenden Urteil, jemand sei befriedigt (satisfied), schließt das Urteil, er sei glücklich, ein, daß man bereit wäre, mit ihm zu tauschen [34].
Robert Spaemann
[1]
A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Werke, hg. A. Hübscher (21946–50) 2, 376.
[2]
Parerga Ia. a. O. 5, 433.
[3]
III = 2, 657f.
[4]
Fr. Nietzsche, Musarion-A. 16, 23.
[5]
a.a.O. 14, 123.
[6]
17, 172.
[7]
269.
[8]
18, 14.
[9]
15.
[10]
J. Bentham: An introd. to the principles of morales and legislation (1730, zit. London 1970) 11. 282.
[11]
a.a.O. 39.
[12]
J. St. Mill, Ges. Werke, dtsch. hg. Th. Gomperz (Leipzig 1869) 1, 137.
[13]
S. Freud, Ges. Werke 14, 434.
[14]
a.a.O. 440f.
[15]
434.
[16]
442.
[17]
H. Marcuse: Eros and civilization (London 1956).
[18]
Zur Kritik des Hedonismus, in: Kultur und Gesellschaft (1965) 1, 137.
[19]
a.a.O. 141.
[20]
167.
[21]
M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik ... (51966) 126.
[22]
a.a.O. 339.
[23]
359f.
[24]
L. Wittgenstein: Tagebücher 1914–1916, in: Schriften (1960) 167.
[25]
a.a.O. 170.
[26]
169.
[27]
167.
[28]
ebda.
[29]
171.
[30]
174.
[31]
G. H. von Wright: The varieties of goodness (London 1963) 90.
[32]
a.a.O. 92–94.
[33]
99.
[34]
R. M. Hare: Freedom and reason (Oxford 1963) 125–129.
Literaturhinweise s. Anmerkungen zu den Abschnitten III, 1–4.