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Gnadenstreit

Gnadenstreit 1379 10.24894/HWPh.1379 Klaus Reinhardt
Theologie
Gnadenstreit. Die Frage, wie sich die unfehlbare Wirksamkeit der göttlichen Gnade mit der Freiheit menschlicher Entscheidung vereinbaren lasse – eine der großen Fragen der Theologie durch ihre ganze Geschichte hindurch –, erfuhr Ende des 16. Jh. in der katholischen Theologie eine erneute Zuspitzung. Das Konzil von Trient (1545–1563) hatte entschieden, daß der von Gott erweckte und bewegte freie Wille des Menschen etwas zur Vorbereitung auf den Empfang der Rechtfertigungsgnade beitragen und, wenn er wolle, seine Zustimmung versagen könne [1]. Die nachtridentinische Theologie versuchte nun, das Zueinander von Gnade und Freiheit durch eine umfassende Concordia aller Faktoren zu klären und von einem einheitlichen Grundprinzip her verständlich zu machen. So entstanden die Gnadensysteme, vor allem der von L. de Molina SJ (1535–1600) begründete und von den meisten Jesuiten vertretene Molinismus und das nach dem Dominikaner D. Báñez (1528–1604) benannte báñezianisch-thomistische Gnadensystem. Die Auseinandersetzung beider Richtungen vor dem kirchlichen Lehramt (1597–1607) bildet den G. (controversia de auxiliis gratiae).
Der Molinismus[2] ist von einem großen Vertrauen in die Kräfte der menschlichen Freiheit geprägt. Die Freiheit als aktive Indifferenz des menschlichen Willens schließe jeden determinierenden Einfluß von außen, auch von Seiten Gottes aus. Gott wirke nicht direkt auf den menschlichen Willen ein, sondern bringe zusammen mit diesem gleich unmittelbar den Akt und dessen Wirkungen hervor (concursus simultaneus). Für die Heilsakte betont Molina zwar die Priorität der Gnade Gottes; daß aber Gottes Gnadenangebot faktisch wirksam werde (gratia efficax), hänge von der Zustimmung des Menschen ab. Molina versteht es, trotz der weitreichenden Interpretation der menschlichen Freiheit dennoch die absolute Souveränität Gottes zu wahren. Die Möglichkeit dazu sieht er im göttlichen Wissen. In der scientia media sieht Gott voraus, wie sich die Menschen in dieser oder jener Welt- und Heilsordnung entscheiden würden. Aus der unendlichen Anzahl möglicher konkreter Heilsordnungen wählt er dann eine bestimmte aus, die für die einen Heil, für die andern ewige Verdammung bringt, je nach ihrer freien Entscheidung. In dieser völlig grundlosen Wahl der Heilsordnung zeigt sich die Souveränität Gottes. In Schwierigkeiten geriet der Molinismus vor allem bei der ontologischen Begründung seines Schlüsselbegriffs, der scientia media. Die Angriffe der augustinischen und thomistischen Gegner des Systems richteten sich ferner gegen die Auffassung der menschlichen Freiheit, der causa prima und der Gnadenwirksamkeit.
Das Leitmotiv des báñezianisch-thomistischen Gnadensystems [3] ist die Priorität und Souveränität Gottes als der causa prima alles Seins und Wirkens. Der menschliche Wille könne sich nicht entscheiden, ohne daß ihn Gott nicht vorher (prius natura) innerlich, seinshaft und unfehlbar dazu bestimmt habe (praemotio physica, praedeterminatio). Gott wirke so, daß er die Freiheit des Menschen nicht aufhebe, sondern erst ermögliche. Das durch seine innere Geschlossenheit imponierende System des Báñez scheint jedoch der menschlichen Entscheidungsfreiheit nicht ganz gerecht zu werden.
Das Ringen der Gnadensysteme um eine Zusammenschau aller das Verhältnis von Gnade und Freiheit betreffenden Gegebenheiten der Offenbarung und der menschlichen Erfahrung hat sonst isoliert behandelte Problemkreise aufeinander bezogen und in ein neues Licht gerückt; es hat klärend und befruchtend auf die philosophisch-theologische Begriffsbildung gewirkt (Kontingenz, Freiheit, Notwendigkeit, Möglichkeit, bedingte Wirklichkeit, determinierte Wahrheit, Vorauswissen, Prädestination) und die Interpretation von Texten des Aristoteles (vor allem ‹Peri hermeneias›), Augustinus und Thomas von Aquin gefördert.
Die Tatsache, daß weder eines der beiden großen Gnadensysteme noch einer der vielen Vermittlungsversuche sich durchsetzen und die andern innerlich überwinden konnte, macht die Einseitigkeit und Begrenztheit dieser Systeme offenbar; darüber hinaus zeigt sich darin die Unzulänglichkeit des menschlichen Denkens, wenn es die in Gottes Offenbarung verborgene Ordnung in ein System fassen will. Diese Haltung brachte auch das kirchliche Lehramt zum Ausdruck, als es sich entschied, den G. vorläufig unentschieden zu lassen [4].
[1]
H. Denzinger/A. Schönmetzer: Enchiridion symbolorum (321963) Nr. 1554.
[2]
L. de Molina: Liberi arbitrii cum gratiae donis ... concordia (Lissabon 1588, ND Oña-Burgos 1953).
[3]
D. Báñez: De vera et legitima concordia liberi arbitrii cum auxiliis gratiae Dei efficaciter moventis humanam voluntatem (1600).
[4]
Denzinger/Schönmetzer, a.a.O. [1] Nrn. 1997. 2008.
J. H. Serry: Historia congregationum de auxiliis (Löwen 1700). – F. Stegmüller: Gesch. des Molinismus (1935); Art. ‹G., Gnadensysteme›. LThK2 4 (1960) 1002–1010. – K. Reinhardt: Pedro Luis SJ und sein Verständnis der Kontingenz, Praescienz und Praedestination (1965). – V. Beltrán de Heredia: Domingo Báñez y las controversias sobre la gracia (Madrid 1968). – K. Reinhardt: Nicolau Godinho SJ (1556–1616) und die römische Ordenszensur. Texte und Dokumente zum G.: Portugiesische Forsch. der Görres-Ges. 1/10 (1972) 1–24.