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Hegemonikon

Hegemonikon 1503 10.24894/HWPh.1503 Theo Kobusch
Antike Philosophie Erkenntnistheorie hegemonikon (ἡγεμονικόν) principale principalitas bzw. principatus Seelenteile logistikon (λογιστικόν)3 1030 Zentralorgan
Hegemonikon (griech. τὸ ἡγεμονικόν, lat. principatus, principale, principalitas) ist terminologisch die genuin stoische Benennung des Zentralorgans der Seele; freilich sind mit dem ἡγεμονοῦνPlatons[1] und dem ἡγούμενον («das Leitende») des Aristoteles[2] schon Vorläufer des Begriffs vorhanden.
Gegen Zenons materialistische Auffassung von der sinnlichen Wahrnehmung als einem «Abdruck» im passiven Zentralorgan [3], das oft als oberster von acht [4] oder zehn [5] Seelenteilen mit dem platonischen λογιστικόν («das Vernunfthafte») identifiziert wird [6], scheint Chrysipp zu polemisieren: Alle scheinbar nur partiell die affektive oder intellektuale Seele betreffenden Zustände des Menschen sind in Wirklichkeit solche des ganzen H., welches sich jeweils «in bestimmter Verfassung befindet» (πως ἔχον) [7]. Auch Gutheit oder Schlechtigkeit der Seele wird durch das jeweilige sittliche Verhalten des habituell veränderbaren ganzen H. bestimmt [8]. Von einem innerstoischen Konflikt in dieser Frage kündet auch Seneca[9]. Chrysipp scheint mit seiner Konzeption des H. schon wesentliche Merkmale dessen antizipiert zu haben, was man unter geistiger Individualität etwa im Sinne des plotinischen μόνος πρὸς μόνον (individuell gegenüber einem Individuellen) versteht [10]. Diese These von der nie partiell erlebenden und empfindenden, sondern immer nur als totales Selbst des Menschen affizierten Seele greift Straton von Lampsakos auf: Στράτων καὶ τὰ πάθη τῆς ψυχῆς καὶ τὰς αἰσθήσεις ἐν τῷ ἡγεμονικῷ οὐκ ἐν τοῖς πεπονθόσι τόποις συνίστασθαι (Straton lehrt, daß sowohl die Affekte der Seele wie auch die Wahrnehmungen im H., nicht an den empfindenden Stellen zustande kommen) [11]. Philons Identifizierung des H. mit dem νοῦς[12] geht auf eben diese stoische Lehre chrysippischer Provenienz vom H. als der das Ich des Menschen repräsentierenden Instanz zurück. Es ist «Wurzel der Sittlichkeit» [13] und «Quelle der Sinneswahrnehmungen» [14]. Ähnlich spricht Epiktet vom H. als der «Grundlage des sittlich Schönen und Guten» [15]. Während Clemens Alexandrinus das H. kühn mit dem platonischen Daimon aus dem ‹Timaios› identifiziert [16], verliert das H. in späterer Zeit mehr und mehr den Charakter des Seelenteils, als welches es im Kopf, wie bei Calcidius[17] oder im Herzen angesiedelt wurde [18]. Klaudios Ptolemaios[19] unterscheidet ein H. im Herzen πρὸς τὸ ζῆν (zum Leben) und eines im Kopf πρὸς τὸ εὖ ζῆν (zum guten Leben). Origenes interpretiert das H. als das «Herz» (in einem Pascals «cœur» verwandten Sinne) [20], das, von Gott erleuchtet, allein für göttliche Geheimnisse rezeptionsfähig ist [21], d.h. das H. avanciert zu einer Art Prinzip menschlicher Verinnerlichung. Zu gleicher Zeit kritisiert Plotin[22] die stoische (zenonische) Theorie der funktional wie lokal getrennten Seelenteile mit dem H. als Zentralisationspunkt aller Affektionen und setzt ihr die Konzeption von Seele als einer zugleich geteilten und ungeteilten Wesenheit entgegen [23], die als ganze in allen Organen zugegen ist und «apperzipiert» (ἀντίληψις) [24]. Das H. als den führenden Teil der Weltseele, eine schon altstoische Theorie [25], kennt noch Proklos[26].
[1]
Platon, Tim. 41 c; vgl. Men. 88 c; Leg. 963 a.
[2]
Aristoteles, Eth. Nic. 1113 a 6.
[3]
SVF 1, 141; 2, 59; vgl. Michael, In parv. nat. 3, 8.
[4]
SVF 1, 143.
[5]
Clemens Alex., Strom. VI, 134, 2.
[6]
SVF 2, 828. 836; 1, 202; 3, 306; vgl. Albin, Did. 182, 26 H.; Porphyrios, Ad Gaur. 53, 8 K.; Clemens Alex., Strom. VI, 135, 1.
[7]
Alex. Aphrodisiensis, In de sensu 167, 6; vgl. Epictet I, 15, 4; SVF 3, 459; Marc Anton 11, 20.
[8]
SVF 3, 459. 75; Seneca, Ep. 113, 1.
[9]
Seneca, Ep. 113, 18.
[10]
Vgl. A. Dempf: Geistesgesch. der altchristl. Kultur (1964) 55.
[11]
Aetius IV, 23, 3 (Diels 415) = Frg. 110 Wehrli.
[12]
Vgl. Philo, Leg. all. I, 39; Mos. 11, 82.
[13]
Ebr. 8; Virt. 85; vgl. Matth. Frg. 271.
[14]
Frg. 182; vgl. Origenes, Contra Cels. I, 48.
[15]
Epiktet III, 3, 1.
[16]
Clemens Alex., Strom. II, 131, 4.
[17]
Calcidius, In Tim. 267.
[18]
Alex. Aphrodisiensis, De an. 39, 22.
[19]
Klaudios Ptolemaios, De crit. et heg. 16, 2ff. (L.).
[20]
Origenes, In Is. hom. 275, 29; Jer. 44, 31.
[21]
In Num. hom. 73, 19.
[22]
Plotin, Enn. IV, 2, 2, 13ff.
[23]
a.a.O. 1, 65.
[24]
IV, 3, 3, 24; VI, 4, 4, 30ff.
[25]
SVF 2, 634.
[26]
Proklos, In Tim. II, 104, 23; 107, 14.
G. Esser: Die Seelenlehre Tertullians (1893). – K. Schindler: Die stoische Lehre von den Seelenteilen (Diss. München 1934). – M. Pohlenz: Zenon und Chrysipp. Nachr. gelehrt. Ges. Göttingen, philos.-hist. Kl. (1938) 173–210; Die Stoa (31964). – J. H. Waszink: Tertulliani De Anima, hg. mit Einf. und Komm. (Amsterdam 1947) 219–221. – H. Karpp: Probleme altchristl. Anthropol. (1950). – A. J. Festugière: La révélation d'Hermès Trismégiste (Paris 1953) 3, 191ff. – M. Spaneut: Le Stoïcisme des pères de L'Eglise (Paris 1957). – W. Kelber: Die Logoslehre (1958). – R. Hirzel: Untersuch, zu Ciceros philos. Schriften (1964) 2, 772ff. – A. Bonhöffer: Epiktet und die Stoa (1968) 94–112. – J. M. Rist: Stoic philos. (Cambridge 1969) 24ff. – J. B. Gould: The philos. of Chrysippus (Leiden 1970) 129ff. – A. Graeser: Plotinus and the Stoics (Leiden 1972).